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GEGENWIND/613: Flucht aus Lebensgefahr in Lebensgefahr


Gegenwind Nr. 315 - Dezember 2014
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Flucht aus Lebensgefahr in Lebensgefahr
Eritrea wird zum Hauptherkunftsland von Flüchtlingen

von Reinhard Pohl



Wie aus dem Nichts sind die Flüchtlinge aus Eritrea im September 2014 auf Platz zwei der Herkunftsliste von Flüchtlingen gelandet, gleich nach Syrien. Im Jahresdurchschnitt werden Flüchtlinge aus Eritrea den dritten oder vierten Platz der Rangliste des "Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge" belegen. In allen Kreisen Schleswig-Holsteins, in vielen Städten und Gemeinden sind inzwischen Flüchtlinge aus Eritrea untergebracht. Wie sieht es dort aus, warum fliehen sie?


Eritrea liegt am "Horn von Afrika", am Roten Meer. Der Name kommt aus dem Griechischen, lehnt sich an die griechische Bezeichnung für das Rote Meer an. Eritrea ist 120.000 Quadratkilometer groß und hat rund 6,5 Millionen Einwohner, davon die Hälfte Kinder. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von weniger als 300 Dollar pro Kopf und Jahr ist es eines der ärmsten Länder der Welt, und in den Punkten Meinungsfreiheit und Pressefreiheit steht es in entsprechenden Untersuchungen unangefochten auf dem letzten Platz.

Die Hälfte der Bevölkerung sind Tigrinya, rund 30 Prozent sind Tigre. Sieben weitere Völker im Land erreichen Anteile von zwei bis vier Prozent. Gesprochen wird Tigrinya, eine mit dem Hebräischen und Arabischen verwandte semitische Sprache, außerdem Arabisch und von älteren Einwohnerinnen und Einwohnern oft noch Italienisch.

Die Bevölkerung ist zur Hälfte muslimisch und zur Hälfte christlich, wobei die muslimische Bevölkerung etwas schneller wächst und deshalb vermutlich die Mehrheit stellt. Muslime leben vor allem an der Küste, Christen vor allem im Hochland. Religiöse Auseinandersetzungen gibt es nicht im Land, Verfolgungen richteten sich in den letzten Jahren vor allem gegen nicht anerkannte christliche Minderheiten, fundamentalistischen Sekten.

Das Bildungssystem ist schlecht. Rund 60 Prozent der Kinder besuchen überhaupt keine Schule, rund 80 Prozent keine weiterbildende Schule. Die Klassengröße liegt bei 60 bis 100 Schülerinnen und Schüler, die Quote der Analphabeten im Land liegt bei bis zu 70 Prozent (Durchschnitt), wobei Frauen stark benachteiligt sind.

Das Gesundheitssystem ist völlig unzureichend. Die Lebenserwartung beträgt wenig über 60 Jahre, die Kindersterblichkeit liegt bei 74 auf 1000 Lebendgeburten. Die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen wurde zwar 2007 verboten, dennoch sind 90 Prozent der weiblichen Bevölkerung davon betroffen.

Die Regierung ist allerdings sehr darum bemüht, die Zahl der Analphabeten zu senken und die Kindersterblichkeit zu bekämpfen.


Geschichte

Im Mittelalter wurde der Küstenstreifen zwar von lokalen Fürsten beherrscht, befand sich aber mehr oder weniger im Einflussbereich des christlichen äthiopischen Kaiserreiches. 1554 wurde die Küstenregion von der Türkei erobert und wurde unter dem Namen Habesch Teil des Osmanischen Reiches. Die Bevölkerung der nun türkisch regierten Küstenregion wurde zwangsweise zum Islam bekehrt. Als das Osmanische Reich später Schritt für Schritt zerfiel, wurde Habesch faktisch von Ägypten regiert, das aber Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des "Mahdi-Aufstands" im Sudan den Kontakt und die Kontrolle verlor.

1890 wurde das Land unter dem neuen Namen "Colonia Eritrea" zur Kolonie Italiens, das damals als "nachholende Kolonialmacht" die bisher osmanisch regierten Länder Afrikas wie auch Libyen eroberte. 1895 griff Italien auch Äthiopien an, wurde aber vernichtend geschlagen. Erst unter Mussolini kam es 1935 zum zweiten Angriff, mit 200.000 Soldaten wurde die bis dahin größte Armee in Afrika eingesetzt. Mussolini ließ die äthiopische Armee mit Giftgas bombardieren, Lazarette des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds wurden gezielt angegriffen. Im Mai 1936 wurde Addis Abeba erobert, Äthiopien wurde zur italienischen Kolonie und bildete gemeinsam mit Eritrea die Kolonie "Italienisch Ostafrika".

Nach Beginn des Ersten Weltkrieges unterstützte Großbritannien den äthiopischen Widerstand, 1941 errang der Kaiser wieder die Kontrolle über sein Land zurück. Die äthiopische Regierung übernahm wieder die Kontrolle über Äthiopien, die britische Armee die Kontrolle über Eritrea. 1947 verzichtete Italien offiziell auf Eritrea, und die Vereinten Nationen beschlossen, das britisch kontrollierte Gebiet in eine Föderation mit Äthiopien zu geben.

Die Rechte Eritreas als autonomer Teil der Förderation wurden allerdings vom Kaiser Heile Selassie zwischen 1952 und 1961 systematisch ausgehöhlt, 1961 wurde das Parlament Eritreas vom Kaiser aufgelöst und das Land annektiert. Es entstanden mehrere Unabhängigkeitsbewegungen, die den bewaffneten Kampf gegen die äthiopische Regierung aufnahmen. Der Krieg dauerte 30 Jahre. In dieser Zeit geriet Äthiopien in eine schwere Krise, die 1970 in eine katastrophale Hungersnot mündete. 1974 putschte die Armee und errichtete eine Diktatur (DERG). Im Lande entstanden mehrere separatistische Bewegungen, 1977/78 führten Somalia und Äthiopien einen Krieg gegeneinander. Schließlich verbündeten sich verschiedene äthiopische und eritreische Befreiungsbewegungen, besiegten 1991 die Militärdiktatur und einigten sich auf die Unabhängigkeit Eritreas.

1993 wurde Eritrea unabhängig. Allerdings konnte man sich nicht auf den Verlauf der Grenze einigen, so kam es von 1998 bis 2000 zu einem verlustreichen Krieg zwischen beiden Ländern. Zwar legte eine Blauhelmtruppe nach dem Waffenstillstand 2002 eine Grenze fest, diese wurde aber von Äthiopien nicht anerkannt, so dass der Waffenstillstand fragil bleibt. 2008 beendete die UNO das Mandat der Friedenstruppe.

Beide Staaten haben heute in Somalia interveniert und tragen dort einen Stellvertreterkrieg aus. Eritrea hat außerdem militärische Auseinandersetzungen mit dem Sudan und mit Dschibuti hinter sich, bei denen es ebenfalls um den Grenzverlauf ging. Insofern ist das Verhältnis zu allen Nachbarn schlecht.


Verfassung

Eritrea ist offiziell eine Demokratie. Die Verfassung ist allerdings nie in Kraft getreten, es regiert die Einheitspartei mit einer "Übergangsregierung". Das Land wird von einer 24-köpfigen Regierung regiert, von denen 16 Minister sind. Das Parlament besteht laut Verfassung aus 150 Abgeordneten: Die Hälfte von ihnen sind die Mitglieder des Zentralkomitees der PFDJ (Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit), der einzigen Partei des Landes. Die anderen 75 Mitglieder werden vom Volk gewählt. Andere Parteien sind nicht verboten, dürfen aber zu Wahlen nicht kandidieren. Da die Verfassung nicht in Kraft getreten ist, gibt es keine Wahlen und keine Wahltermine, die sind für eine unbestimmte Zukunft zugesagt.

Eine Besonderheit Eritreas ist das Steuersystem: Staatsbürger im Ausland werden besteuert. Der Steuersatz beträgt 2 Prozent des Einkommens. Wird diese Steuer, die auch von Flüchtlingen eingetrieben wird, nicht bezahlt, stellt die Botschaft keinerlei Dokumente aus und steht auch für andere Aufgaben nicht zur Verfügung. Außerdem riskieren die Menschen Repressionen gegen Familienangehörige, die im Land selbst leben. Mit dieser "Erpressung" von Auslands-Eritreern, vor allem Flüchtlingen erzielt die Regierung vermutlich rund ein Drittel aller Staatseinnahmen.

Präsident des Landes ist Isaias Afewerki, der als Führer der Unabhängigkeitsbewegung EPLF den Befreiungskampf gegen Äthiopien anführte. Er ist in Personalunion Ministerpräsident, außerdem Parteivorsitzender der PFDJ, die aus der EPLF hervorgegangen ist.


Menschenrechte

Die Menschenrechte werden in Eritrea so drastisch verletzt, dass die UNO 2012 eigens eine "Sonderberichterstatterin zur Situation der Menschenrechte in Eritrea" ernannt hat. Verfolgt werden vor allem Regierungsgegner, Deserteure und Eritreer, die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Verfolgt werden außerdem christliche Fundamentalisten (Mitglieder evangelikaler Sekten) und Zeugen Jehovas.

Ein besonderes Problem ist der Militärdienst. Alle Männer und Frauen zwischen 18 und 40 Jahren sind wehrpflichtig und dann bis zum 50. Lebensjahr Reservisten. Der Wehrdienst dauert offiziell 18 Monate, kann aber ohne Begründung und zwangsweise verlängert werden. Die ersten sechs Monate ist man bei der Armee, anschließend zwölf Monate in einer Einrichtung von Armee oder Regierung. Danach wird der Wehrdienst nach Bedarf der Regierung verlängert, zum Beispiel zu einem Einsatz im Straßenbau, in der Verwaltung oder in einem Unternehmen, das dem Staat oder einen hohen Parteifunktionär oder einen Militär gehört. Die Bezahlung reicht nicht für die Existenzsicherung einer Familie, sondern knapp für die Wehrpflichtigen selbst, sie beträgt umgerechnet drei Euro im Monat und kann später bis auf rund 25 Euro steigen. Wer desertiert und gefasst wird, wird hart bestraft, auch in der Öffentlichkeit. Oft dauert der Wehrdienst und Arbeitsdienst bei Frauen bis zum 47, bei Männern bis zum 55. Lebensjahr. In dieser Zeit können sie keinen Pass erhalten, also auch das Land nicht legal verlassen. Die Regierung hat gegenüber der UNO angegeben, dass Frauen bei Heirat aus dem Militär entlassen würden, ebenso seien stillende Mütter vom Militärdienst befreit.

Um das Desertieren zu erschweren, werden Jungs und Mädchen oft schon mit 16 Jahren aus der Schule zum Militär eingezogen, oft indem die letzten Schuljahre in die Kaserne verlegt werden. Seit 2006 ist das Ausstellen eines Ausreisevisum an Kinder ab 11 Jahren verboten, seit 2010 an Kinder ab fünf Jahren. Verheiratete können nicht zwei, sondern nur ein Ausreisevisum zur Zeit erhalten, Eltern dürfen nicht zusammen mit den Kindern ausreisen.

Nicht nur zum Verlassen des Landes braucht man ein Ausreisevisum. Auch für Reisen innerhalb des Landes ist eine schriftliche Erlaubnis erforderlich.

Wer aus der Armee entlassen wird, kann einen Beruf ergreifen, diesen aber nicht selbst aussuchen. Die Regierung entscheidet, wer welchen Beruf lernt und ausübt.


Flucht

Vermutlich verlassen jeden Monat rund 3.000 Menschen das Land, meistens Jungs von 14 bis 18 Jahren. Grund ist die Situation, Anlass der bevorstehende Wehrdienst. An der Grenze wird auf Flüchtlinge ohne Vorwarnung geschossen. Da es in Eritrea keine Presse, keine Berichterstattung und keinen Journalismus gibt, sind Informationen dazu rar, wir sind auf Einzelerzählungen von Flüchtlingen angewiesen.

In Israel leben rund 40.000 Flüchtlinge aus Eritrea, in Äthiopien rund 87.000, im Sudan 125.000, in Italien vermutlich 14.000. Zwischen 25 und 30 Prozent der Bevölkerung sind inzwischen geflohen, meistens in die Nachbarländer.

Früher war es für viele möglich, sich als "Illegale" in der Erdöl- oder Bau-Industrie in Libyen zu verdingen. Dort herrscht seit dem Aufstand gegen die Diktatur und der NATO-Intervention ein Bürgerkrieg. So versuchen alle, so schnell wie möglich ein Boot zu erreichen, das über das Mittelmeer nach Norden fährt. Da in Eritrea wie auch auf der Flucht der Tod mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, kann das Risiko auf dem Mittelmeer niemanden schrecken. Jedes Jahr sterben Tausende beim Versuch, Europa zu erreichen.

Die Flucht über Land, also über Ägypten und den Sinai nach Israel, ist genauso gefährlich. Hier drohen Entführung, Geiselnahme und Lösegelderpressung, zwischen 2009 und 2013 sollen rund 30.000 Flüchtlinge aus Eritrea auf der Sinaihalbinsel verschleppt worden sein. Mit ihnen wurden Lösegelder von über 600 Millionen Dollar erpresst, meist von in Israel oder Westeuropa lebenden Verwandten. Es gibt den Verdacht, dass die Regierung Eritreas Entführer dabei hilft, Verwandte der Opfer in Europa zu identifizieren.


Asyl in Deutschland

Während Flüchtlinge aus Eritrea es bis 2012 kaum nach Deutschland schafften, kamen 2013 hier 3.616 Flüchtlinge an (Platz 10 der Herkunftsländer). Es handelte sich zu 74 Prozent um Männer, 26 Prozent waren Frauen. 82,5 Prozent waren Christen, 14 Prozent waren Moslems. In diesem Jahr wurden 591 Asylverfahren entschieden, 72,3 Prozent bekamen ein Bleiberecht, nur 3,4 Prozent wurden abgelehnt (14,4 Prozent wurden nicht entschieden, weil sie sich nicht meldeten o.ä.).

In diesem Jahr sind bis Oktober einschließlich schon über 11.000 Flüchtlinge angekommen. Allerdings hat das Bundesamt nur 1.586 Asylanträge bearbeitet, vor allem solche aus dem vorigen Jahr. 53 Prozent der Flüchtlinge bekamen ein Bleiberecht, 0,7 Prozent wurden abgelehnt. 46 Prozent wurden ohne Ergebnis eingestellt, vor allem vermutlich weil Flüchtlinge die Rückmeldung versäumten oder auch in ein anderes Land Europas weiter geflohen sind.

Wegen der großen Zahl an Flüchtlingen aus Eritrea werden diese inzwischen in allen 16 Bundesländern aufgenommen und auch angehört. Viele sind Jugendliche, die hier ohne Eltern ankommen. Auch in Neumünster sind mehr als hundert Flüchtlinge aus Eritrea angekommen, die inzwischen auf alle Kreise verteilt wurden. Jugendliche sind vor allem in Ostholstein, Schleswig-Flensburg oder Neumünster untergebracht.


Quellen:

Rico Tuor: Eritrea: Wehrpflicht und Desertion (SFH, 23.2.2009)

Bastian Berber: Der lange Atem der Diktatur (Der Spiegel, 17.12.2011)

Eritrea: Information zum Militärdienst (ACCORD, 24.1.2012)

Alexandra Geiser: Situation eritreischer Flüchtlinge in Israel (SFH, 13.8.2012

Isabel Pfaff: Flucht aus dem "Nordkorea Afrikas" (SZ, 25.10.2013)

Sabine Mohammed: In Eritrea bleiben heisst sterben (NZZ, 30.11.2013)

Thomas Schlehn: Das afrikanische Nordkorea (FAZ, 14.4.2014)

Linda Staude: Abgeschottet und unterdrückt (tagesschau.de, 14.9.2014)

Dominique Johnson: Ein Organ als Lösegeld (taz, 2.10.2014)

David Siger: Die Situation in Eritrea ist schlimm. Punkt. (NZZ, 28.10.2014)

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Quelle:
Gegenwind Nr. 315 - Dezember 2014, Seite 27 - 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2015