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GEGENWIND/687: Zurück zur Nation?


Gegenwind Nr. 338 - November 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Zurück zur Nation?
Über eine Hinterlassenschaft der Deutschen Geschichte

Von Jörg Wollenberg


Erneut erlebt die Bundesrepublik einen Bewusstseinswandel. Wieder einmal wird auf die nationale Karte gesetzt. Die "erneuerte Rechte" um die AFD gewinnt zusehends Anhänger aus der Mitte der Gesellschaft. Und selbst einige Vertreter der Linken plädieren für die "nationale Identität". Für die neu-alten Anhänger des "Radikalismus der Mitte" (Theodor Geiger, 1931) geht es um ein "deutsches Europa" mit Sonderrechten - gegen ein "europäisches Deutschland", das mit Vertretern des Exils und des Widerstands für gleiche Rechte und das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen plädiert hatte. "Deutschland zuerst" lautet heute die neu-alte Parole. Der Nationalismus erweist sich wie schon so oft als Krankheit Deutschlands und Europas. Davor hatten die Vertreter im skandinavischen Exil um Willy Brandt und Bruno Kreisky ab 1944 gewarnt und prognostiziert, dass diese Krankheit zum III. Weltkrieg führen könnte.

Ein Grund mehr, um angesichts des 9. Novembers einen Blick auf diesen Tag und seine Hinterlassenschaften in der deutschen Geschichte zu werfen.

Was auch immer in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auf Befehl der obersten Naziführung zum Gedenken an die "alten Kämpfer" des Hitler-Putsches am 9. November 1923 überall in Deutschland geschah, es vollzog sich vor einer breiten Öffentlichkeit. Viele waren dabei - und kaum einer will es später noch gewusst haben.

Dabei war auch der damals 9-jährige Hans Steiger aus Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage und des Judenhetzers Julius Streicher. Dieser hatte schon lange vor 1933 in seinem Massenblatt "Der Stürmer" verkündet: "Die Juden sind unsrer Unglück". Als ich den politischen Freund der "Arbeiterstimme" vor kurzem am Nürnberger Kaulbachplatz, meiner Wirkungsstätte von 1985-1992, wieder traf, erinnerte er mich an einen Brief von 1992, den er heute wieder schreiben müsste. Damals, am 9. November 1992, hatte er mir geschrieben:

"Ein Albtraum droht mir das Herz zuzuschnüren: es kann doch nicht sein, dass sich alles noch einmal wiederholt ... Genau vor 54 Jahren hatte ich das schrecklichste Erlebnis meiner Kindheit. 1938. In jenem November lief ich durch die Nachbarschaft, bis ich zufällig zum Nürnberger Kaulbachplatz kam. In diesem Viertel waren die großräumigen Jugendstilhäuser meist von wohlhabenden Juden bewohnt. Aber nun, nach dieser furchtbaren Nacht, in der die SA-Horden gewütet hatten, bot sich mir Neunjährigem ein Bild des Schreckens. Auf den Straßen lagen aufgeschlitzte Betten, zerstörter Hausrat und auf den zerschlagenen Möbeln saßen jüdische Frauen und heulten ihren Männern nach, die von den braunen Schergen abgeholt worden waren, manche auf Nimmer-wiedersehen. Überall lagen Glassplitter. Ich stand da wie gelähmt, das Elend, dass sich mir kleinem Buben auftat, war so erschütternd, dass momentan aller Nazieinfluss durch Schule und Jungvolk einfach in den Hintergrund trat. Was ich am Kaulbachplatz nicht angetroffen hatte, waren die den Schergen Beifall klatschenden Nachbarn (wie es woanders leider durchaus gewesen war). Das entsetzliche Geschehen hat mich nie wieder vergessen lassen, was Menschen Menschen antun können".

Mit dieser Erinnerung an die sog. "Reichskristallnacht" von 1938 drückte am 9. November 1992 einer meiner politischen Weggefährten seine Betroffenheit darüber aus, was sich nur eine Generation später in anderer Weise noch einmal zu wiederholen drohte und 1938 den Auftakt für noch Schrecklicheres lieferte. Damals, 1991/92, zogen - wie erneut heute - grölende Rechtsradikale mit Nazisymbolen ungestraft durch die Straßen, brennen Häuser nieder, schmähen Minderheiten, schänden jüdische Friedhöfe und verbrennen Menschen. Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen stehen für den im geeinten Deutschland gewaltsam wieder aufbrechenden Rechtsextremismus und Rassismus. Und anders als bei ähnlichen Ausschreitungen in der alten Bundesrepublik können die Täter nach dem 9. November 1989 auch mit dem Beifall des gaffenden Publikums rechnen. Für alle sichtbar ist ein Tabu gebrochen. Man darf sich im neuen Deutschland als fremdenfeindlich (und das schließt antijüdisch ein) bekennen. Die Medienwirksamkeit dieser Ereignisse trägt dazu bei, dass die Gewalt der Straße sich durch die Politik bestätigt findet.

Wie ist das scheinbar Unglaubliche zu erklären? Ich suche nach einer Antwort als Lehre aus der Geschichte. Denn die immer wieder auftretenden Gefahren des Nationalsozialismus und Antisemitismus lassen sich auch daran ablesen, wie sensibel man in unserem Lande mit dem 9. November umgeht und ihn in geschichtliche Zusammenhänge einordnet.

Denn der 9. November 1938 erinnert zugleich an Blutspuren, die auf eine gewollte Zerschlagung demokratischer Strukturen in Deutschland durch konservative und reaktionäre Kräfte hinweisen und die sich immer wieder gegen die Schneisen der Freiheit wenden, die schon Ende des 18. Jahrhunderts die "Morgenröte der Republik" in Deutschland ankündigten. So riefen 56 Jahre nach der ersten, in den Schulbüchern vergessenen deutschen Demokratie, der Mainzer Republik von 1792/93, deutsche Demokraten im März 1848 erneut eine "freiheitliche Republik" aus. Während die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche über die zu wählende Form der Republik stritt, wurden die Volkserhebungen mit Waffen erstickt. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten", verkündete die seit Juli 1348 in Berlin erscheinende "Kreuzzeitung". Am 9. November 1848 beendete der preußische Militärputsch mit dem anschließenden Belagerungszustand über Berlin vorzeitig die demokratischen Hoffnungen. Ebenfalls am 9. November 1848 wurde der Kopf der Frankfurter Linken, Robert Blum durch ein Sondergericht zum Tode verurteilt und in Wien von der siegreichen Reaktion hingerichtet - trotz seiner Immunität als Parlamentsmitglied.

Noch dramatischer und folgenreicher prägte der Antisemitismusstreit Kultur und Politik im 20. Jahrhundert. Die am 9. November 1918 ausgerufene Weimarer Republik wurde nicht nur von den Völkischen und den Nazis als "Judenrepublik" denunziert. Und nicht zufällig legte Hitler seinen Putsch auf den 9. November 1923 und verordnete den Judenpogrom zum 9. November 1938.

Schon ein Plakat zur ersten Reichstagswahl am 19. Januar 1919 hatte dazu aufgefordert, in "Deutschlands Schicksalsstunde" nicht die Jüdischen "Kohnsorten" von Spartakus, der MSPD, der USPD oder der DDP zu wählen, sondern den späteren Helfershelfern der NSDAP aus den Reihen der DNVP, DVP oder der Christlichen Volkspartei die Stimme zu geben: "Für Kirche, Familie, Schule im Geiste Luthers, Bismarcks und Hindenburgs" - gegen die Kohnsorten: Der jüdische Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordnete Dr. Oskar Cohn von der USPD steht hier stellvertretend für die Anhänger der von Anfang an als Judenrepublik denunzierten Weimarer Republik. Ihre im Wahlplakat karikierten Repräsentanten von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg über Hugo Haase bis zu Walter Rathenau sollten bald darauf von Rechtsradikalen ermordet werden.


"Als nicht nur die Synagogen brannten"

Der 9. November und seine Hinterlassenschaften in der deutschen Geschichte. Sonntagsgespräch mit Prof. Dr. Jörg Wollenberg

Sonntag, den 6. November 2016, 15 Uhr: Gedenkstätte Ahrensbök, Flachsröste 16, 23820 Ahrensbök

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Quelle:
Gegenwind Nr. 338 - November 2016, Seite 9 - 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2016

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