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GLEICHHEIT/2772: Der Fall der Mauer


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Der Fall der Mauer

Von Peter Schwarz
9. November 2009


Am 9. November jährt sich zum zwanzigsten Mal der Fall der Berliner Mauer. Die Bilder jubelnder Menschen, die nach der Öffnung der Grenzübergänge auf der Mauerkrone tanzten und sich gegenseitig umarmten, müssen seither als Symbol für den Zusammenbruch der DDR und der stalinistischen Regime herhalten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im östlichen Teil Europas die Macht übernommen hatten.

In Deutschland finden aus Anlass des Mauerfalls zahlreiche Feierlichkeiten statt. Allein am Brandenburger Tor werden Hunderttausende Besucher aus dem In- und Ausland zu einem "Fest der Freiheit" erwartet. Unter anderen haben der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der russische Präsident Dimitri Medwedew, der britische Premier Gordon Brown und die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton ihre Teilnahme zugesagt.

In der Bevölkerung hält sich die Begeisterung dagegen in Grenzen. Laut einer Studie, die vom Wohlfahrtsverband Volkssolidarität in Auftrag gegeben wurde, sehen sich 23 Prozent der Ostdeutschen als Verlierer der Wende. Weitere 30 Prozent können in den Bereichen Reisen, Wohnen und Freiheit zwar Verbesserungen sehen, beurteilen die Entwicklung bei Einkommen, Gesundheitswesen, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit aber negativ. Ihre wirtschaftliche Lage bewerten nur noch 32 Prozent als "gut", gegenüber 47 Prozent im Jahr 1999.

Der Gegensatz zwischen offizieller Begeisterung und öffentlicher Ernüchterung spricht Bände über die wirkliche Bedeutung der Ereignisse vom Herbst 1989. Der mediale Aufwand, mit dem sie als Beginn eines neuen Zeitalters der Demokratie, der Freiheit und des Friedens verherrlicht werden, ist umso größer, je offensichtlicher wird, dass sie nichts dergleichen waren. Kaum ein anderes Ereignis der jüngeren Geschichte ist derart systematisch mystifiziert worden, wie das Ende der DDR.

Der Mauerfall leitete das Ende eines diktatorischen Regimes ein, das jede oppositionelle Regung, insbesondere von Seiten der Arbeiter, unterdrückte und dazu ein Heer von Geheimdienstmitarbeitern beschäftigte. Doch an seine Stelle trat nicht die Demokratie, sondern eine neue Diktatur, die Diktatur des Kapitals. Das Leben der ostdeutschen Bevölkerung veränderte sich danach dramatisch - ohne dass sie vorher gefragt worden wäre oder demokratisch darüber hätte bestimmen können.

Von der Treuhandanstalt, deren Spitze aus führenden Vertretern der westdeutschen Wirtschaft bestand, wurden insgesamt 14.000 volkseigene Betriebe verkauft, umgewandelt oder abgewickelt. 95 Prozent der privatisierten Betriebe gelangten in den Besitz von Eigentümern außerhalb der Neuen Länder. Innerhalb von drei Jahren verloren oder wechselten 71 Prozent aller Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Bis 1991 wurden 1,3 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, eine weitere Million in den Jahren darauf. Im produzierenden Gewerbe beträgt die Anzahl der Beschäftigten heute ein Viertel der Zahl von 1989.

Große Teile der ostdeutschen Bevölkerung verloren schnell das Vertrauen in die Zukunft. Der Niedergang der Geburtenrate ist dafür ein deutlicher Indikator: Sie sank von 199.000 Neugeborenen im Jahr 1989 auf 79.000 im Jahr 1994.

Die Folgen dieses industriellen und sozialen Kahlschlags sind auch heute nicht überwunden. Mit 13 Millionen liegt die Bevölkerungszahl der Neuen Bundesländer deutlich unter den 14,5 Millionen zur Zeit der Wende. Auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ziehen noch jeden Tag 140 Ostdeutsche in den Westen.

Die Arbeitslosenrate lag über Jahre hinweg bei 20 Prozent. Erst in den letzten fünf Jahren ist sie auf derzeit 12 Prozent zurückgegangen. Dieser Rückgang ist aber nicht auf die Schaffung neuer regulärer Arbeitsplätze, sondern auf die Ausweitung von Billiglohn- und Teilzeitarbeit zurückzuführen. Jeder zweite Beschäftigte in Ostdeutschland arbeitet unter der Niedriglohnschwelle von 9,20 Euro. Der Durchschnittsbruttolohn liegt mit 13,50 Euro weit unter dem Westniveau von 17,20 Euro.

Die Forderung nach "freien Wahlen", die im Herbst 1989 im Mittelpunkt der Demonstrationen gegen das DDR-Regime standen, ist der Enttäuschung über die bürgerliche Demokratie gewichen. Bei der letzten Bundestagswahl gingen in den Neuen Bundesländern nur noch gut 60 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Bei Landtags- und Kommunalwahlen liegt die Wahlbeteiligung noch niedriger.

Ein weiterer Mythos über den Herbst 1989 lautet, das Volk habe in einer "friedlichen Revolution" das SED-Regime gestürzt.

Die Massendemonstrationen, die sich in den zwei Monate vor dem Mauerfall über das ganze Land ausbreiteten, haben zwar zum raschen Zusammenbruch der DDR beigetragen. Doch der maßgebliche Impuls kam woanders her. Die Demonstranten rannten offene Türen ein. Als sich am 4. September die erste Montagsdemonstration durch Leipzig bewegte, war das Ende der DDR bereits besiegelt.

Die Entscheidung war in Moskau gefallen, wo Michail Gorbatschow 1985 an die Spitze der Sowjetunion gerückt war. Im Rahmen der "Perestroika" hatte er die Weichen zur Restauration des Kapitalismus gestellt. Er bemühte sich um die Unterstützung des Westens und kappte die Bande zu den osteuropäischen "Bruderländern", indem er den sowjetischen Wirtschaftsinteressen uneingeschränkte Priorität einräumte und Weltmarktpreise für sowjetische Exporte verlangte.

Die DDR, die dringend auf sowjetische Energielieferungen angewiesen war, trieb das an den Rand des Bankrotts. Unter dem Druck finanzieller Probleme einerseits und der Unzufriedenheit der Bevölkerung andererseits suchte die SED Zuflucht bei der Bundesregierung, auf deren Kredite sie seit langem angewiesen war. Günter Mittag, der langjährige Wirtschaftsverantwortliche der DDR, gestand später dem Spiegel, er sei schon 1987 zur Erkenntnis gelangt: "Jede Chance ist verspielt". Und Hans Modrow, von November 1989 bis März 1990 letzter SED-Ministerpräsident der DDR, schrieb später in seinen Erinnerungen, er habe den "Weg zur Einheit für unumgänglich notwendig" gehalten und "mit Entschlossenheit beschritten".

Entgegen der offiziellen Mythen ging die Initiative zur Einführung des Kapitalismus in der Sowjetunion, Osteuropa und der DDR von der herrschenden stalinistischen Bürokratie selbst aus. Diese privilegierte Kaste hatte in den 1920er Jahren in der Sowjetunion die Macht usurpiert, indem sie die marxistische Opposition verdrängte, unterdrückte und schließlich physisch liquidierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg dehnte sie ihre Herrschaft in Absprache mit den westlichen Alliierten auf Osteuropa aus, wo sie jede unabhängige Regung der Arbeiterklasse unterdrückte - wie am 17. Juni 1953 bei der Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR.

Die stalinistische Bürokratie stützte ihre Herrschaft auf die Eigentumsverhältnisse, die 1917 durch die russische Oktoberrevolution geschaffen worden waren. Aber sie tat das als Parasit, der seinen Wirt aussaugt und letztlich zerstört. Indem sie jede Form von Arbeiterdemokratie unterdrückte, erdrosselte sie das kreative Potential des gesellschaftlichen Eigentums. Auf internationaler Ebene erstickten sie und die von ihr abhängigen Kommunistischen Parteien jede revolutionäre Bewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zu einer wichtigen Säule des Status Quo, der die Stabilität der kapitalistischen Herrschaft im Weltmaßstab sicherte.

Dieser Zustand konnte nicht ewig anhalten. Leo Trotzki, der Führer der Linken Opposition gegen den Stalinismus, hatte die Zukunft der Sowjetunion schon 1938 als Alternative dargestellt. "Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus", schrieb er im Gründungsprogramm der Vierten Internationale.

Grundlegende Veränderungen der Weltwirtschaft, die zu Beginn der 1980er Jahre einsetzten, trieben die Widersprüche in den stalinistischen Ländern auf die Spitze. Die Globalisierung der Produktion und die Einführung von Computern und neuen Kommunikationstechniken ließen die national beschränkten Volkswirtschaften dieser Länder zurückfallen. Die Anzeichen kommender sozialer Aufstände häuften sich, vor allem mit der Solidarnsoc-Bewegung in Polen. Die Bürokratie reagierte, wie es Trotzki vorausgesagt hatte, indem sie die neuen Eigentumsformen umwarf und das Land in den Kapitalismus zurückwarf. Darin bestand die Bedeutung des Aufstiegs von Gorbatschow. Damit war aber auch die Herrschaft der stalinistischen Regimes in Osteuropa besiegelt, die ihre Macht ausschließlich Moskau verdankten.

Die Demonstranten, die im Herbst 1989 durch die Städte der DDR zogen, waren sich dieser Zusammenhänge nicht bewusst. Sie machten ihrer angestauten Empörung über die herrschende Bürokratie und einem Gefühl der wirtschaftlichen und politischen Ausweglosigkeit Luft. Die Bewegung hatte ursprünglich als Flucht in den Westen begonnen, war sozial heterogen, politisch konfus und hatte weder ein klar umrissenes Ziel, noch verstand sie die gesellschaftlichen Kräfte, mit denen sie konfrontiert war. Daher ließ sie sich leicht manipulieren und für fremde Zwecke missbrauchen.

Die Wortführer der Proteste stammten aus der Bürgerrechtsbewegung. Es waren Pfarrer, Rechtsanwälte und Künstler, deren Perspektive nicht über die Forderung nach einer Reform des bestehenden Regimes und einen Dialog mit ihm hinausgingen. Kaum hatte das Regime die ersten Zugeständnisse gemacht und Erich Honecker durch Egon Krenz und Hans Modrow ersetzt, arbeiteten sie - erst am "Runden Tisch", dann als Regierungsmitglieder - eng mit der SED zusammen, um die Protestbewegung unter Kontrolle zu bringen und die Initiative an die Bundesregierung von Helmut Kohl auszuhändigen.

Mit der Vereinbarung einer Währungsunion im Frühjahr 1989 besiegelte die Regierung Modrow das Schicksal der DDR. Die Einführung der D-Mark war ein vergiftetes Geschenk. Sie verschaffte der Bevölkerung Zugang zu heiß begehrten Westprodukten, verursachte aber gleichzeitig den Zusammenbruch der DDR-Industrie. Zu DM-Preisen waren ostdeutsche Produkte in Osteuropa und der Sowjetunion, mit denen die DDR wirtschaftlich eng verzahnt war, nicht mehr erschwinglich, während sie auf den Westmärkten aufgrund der geringeren Arbeitsproduktivität nicht konkurrenzfähig waren.

An den Demonstrationen vom Herbst 1989 beteiligten sich zwar auch viele Arbeiter. Doch sie verfügten über keine eigene Perspektive, um ihre sozialen Errungenschaften zu verteidigen, die untrennbar mit dem gesellschaftlichen Eigentum verbunden waren. Sie waren völlig von der marxistischen Tradition abgeschnitten, die sie nur in ihrer stalinistisch pervertierten Form kennen - und verachten - gelernt hatten.

Ihre Perspektivlosigkeit war selbst ein Ergebnis der jahrzehntelangen Herrschaft des Stalinismus. Dessen größtes Verbrechen war die systematische Ausrottung der sozialistischen Tradition der Arbeiterbewegung. Lange vor der Gründung der DDR hatte Stalin eine ganze Generation revolutionärer Marxisten umbringen lassen, um sein Regime zu sichern. Dem "Großen Terror" der Jahre 1937/38 fielen nicht nur die Führer der Oktoberrevolution zum Opfer, sondern auch die meisten deutschen Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren. Nur Speichellecker überlebten, die ihre eigenen Genossen an die stalinistischen Henker verrieten. Sie bildeten später die Führung der SED.

Einzig die trotzkistische Bewegung bekämpfte den Stalinismus vom marxistischen Standpunkt. Während westliche Medien und Politiker Zugang zur DDR-Bevölkerung hatten, wurde sie in der DDR verfolgt und galt bis zu deren Ende als Staatsfeind Nummer Eins.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale wandte sich nicht nur gegen den Stalinismus, sondern auch gegen alle, die sich an ihn anpassten und - wie das Vereinigte Sekretariat Ernest Mandels - die Entstehung der stalinistischen Regime in Osteuropa als Beweis dafür werteten, dass der Stalinismus dort eine fortschrittliche Rolle spiele. Es verteidigte Trotzkis Auffassung, dass der Stalinismus nicht reformiert werden könne, sondern von der Arbeiterklasse in einer politischen Revolution gestürzt werden müsse, über Jahrzehnte hinweg unter den schwierigsten politischen Bedingungen.

Im Herbst 1989 griff die deutsche Sektion des Internationalen Komitees in der DDR ein, um der Massenbewegung gegen das SED-Regime eine revolutionäre Richtung zu geben. Der Bund Sozialistischer Arbeiter (die Vorgängerin der Partei für Soziale Gleichheit) warnte damals als einzige Organisation vor den verheerenden Folgen einer kapitalistischen Restauration, ohne der SED die geringsten Zugeständnisse zumachen.

So heißt es in einem Aufruf, den der BSA am 4. November auf einer Großdemonstration in Berlin verteilte: "Politische Freiheit, demokratische Rechte können nur durch eine politische Revolution erreicht werden, d.h. indem die Arbeiterklasse die herrschende Bürokratie stürzt, aus allen ihren Ämtern und Stellungen vertreibt und ihre eigenen unabhängigen Organe proletarischer Macht und Demokratie errichtet: Arbeiterräte, die von den Arbeitern in den Fabriken und Wohnvierteln gewählt, ihnen verantwortlich sind und sich allein auf deren Stärke und Mobilisierung stützen."

Ernest Mandel reiste damals persönlich nach Ost-Berlin, um die SED gegen die trotzkistische Kritik zu verteidigen. Seine deutschen Gesinnungsgenossen beteiligten sich am Runden Tisch und später an der Regierung Modrow. Sie trugen so direkt dazu bei, die Arbeiterklasse vom marxistischen Erbe abzuschneiden und die Weichen in Richtung kapitalistische Restauration zu stellen.

Das Ende der DDR, der osteuropäischen Regime und der Sowjetunion rief in kapitalistischen Kreisen ein Triumphgefühl hervor, das in den jetzigen Jubiläumsfeiern neu belebt werden soll. Doch es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Kapitalismus weltweit in einer tiefen Krise befindet.

Der Widerspruch zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaat - zwischen dem globalen Charakter der Produktion, der Millionen Arbeiter rund um die Welt in einem gesellschaftlichen Produktionsprozess vereint, und der Aufspaltung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten - hat den stalinistischen Regimes vor zwanzig Jahren das Genick gebrochen. Er ist aber auch die Ursache für die wachsenden Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten, der eskalierenden Kriege im Irak und in Afghanistan, der pausenlosen Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse und die Arroganz und Geldgier der Finanzelite.

Diese Widersprüche werden unweigerlich zum Ausbruch heftiger sozialer Konflikte und revolutionärer Kämpfe führen. Arbeiter müssen sich politisch darauf vorbereiten, in dem sie Lehren aus den Ereignissen von 1989 ziehen und sich dem internationalen sozialistischen Programm zuwenden, das das Internationale Komitee der Vierte Internationale gegen die Angriffe des Stalinismus verteidigt hat.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.11.2009
Der Fall der Mauer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2009