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GLEICHHEIT/3308: CDU auf Sarrazin-Kurs


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

CDU auf Sarrazin-Kurs

Von Justus Leicht und Peter Schwarz
13. Oktober 2010


CDU und CSU haben die Kampagne gegen Muslime aufgegriffen, die das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" entfacht hat. Führende Parteimitglieder bis hinauf zu den Vorsitzenden Angela Merkel und Horst Seehofer diffamieren Menschen muslimischen Glaubens und stellen dabei das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit in Frage.

Die Vorlage lieferte Christian Wulff (CDU) am 3. Oktober in Bremen. Der Bundespräsident widmete einen großen Teil seiner Festrede zum Tag der deutschen Einheit der Frage der Integration, nachdem er zuvor von den Medien wegen seines Schweigens zur Sarrazin-Debatte heftig angegriffen worden war.

Wulff versuchte, es allen recht zu machen. Einerseits beschwor er "unsere christlich-jüdische Geschichte" und wetterte gegen "multikulturelle Illusionen", die Probleme wie "das Verharren in Staatshilfe, die Kriminalitätsraten und das Machogehabe, die Bildungs- und Leistungsverweigerung" regelmäßig unterschätzt hätten. Andererseits bekannte er sich zu kultureller Vielfalt und Offenheit "gegenüber denen, die aus allen Teilen der Welt zu uns kommen".

Die Zugehörigkeit zu Deutschland dürfe "nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt" werden. Christen- und Judentum gehörten zweifelsfrei zu Deutschland. "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland", sagte Wulff.

Der letzte Satz löste innerhalb der CDU und ihrer Schwesterpartei CSU einen Entrüstungssturm aus, obwohl er eigentlich nur eine Tatsache feststellte: Nach offiziellen Schätzungen leben mittlerweile rund vier Millionen Muslime in Deutschland, viele von ihnen mit deutschem Pass.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) verwahrte sich dagegen, dass Wulff den Islam auf die gleiche Stufe stelle wie das christlich-jüdische Religions- und Kulturverständnis. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis erklärte: "Wir wollen, dass das christliche Abendland christlich weiterbesteht." Und der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder (CDU) verkündete: "Das auf unserer christlich-jüdischen Tradition beruhende Grundgesetz kann durch nichts relativiert werden, schon gar nicht durch einen Islam, der die Scharia vertritt und zur Unterdrückung der Frauen führt."

Ins selbe Horn stieß der katholische Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke in der Bild-Zeitung. Deutschland sei von der christlichen Kultur und Tradition geprägt und "ich kämpfe dafür, dass wir diese nicht preisgeben", sagte er dem Boulevard-Blatt.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel verwies auf die "prägende Kraft" der christlich-jüdischen Tradition, die "über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende" zurückreiche. In Deutschland sei nur ein Islam willkommen, "der sich unseren Grundwerten verpflichtet fühlt", fügte Merkel hinzu und behauptete, die Wahrnehmung des Islam sei in Deutschland durch die Scharia und durch die fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau bis hin zum Ehrenmord geprägt.

Die Krone setzte dem Ganzen schließlich der bayrische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer auf, der am Wochenende einen Zuzugstopp für Muslime forderte. Es sei doch klar, "dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun", erklärte er am Wochenende im Focus. Daraus ziehe er den Schluss, "dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen."

Man weiß nicht, worüber man sich mehr empören soll: Über die Geschichtsklitterung, über die Missachtung demokratischer Grundwerte oder über die menschenverachtenden Vorurteile, die höchste Regierungsvertreter gegen Immigranten muslimischen Glaubens verbreiten.

Kauders Behauptung, das Grundgesetz beruhe auf der christlich-jüdischen Tradition, ist nicht nur inhaltlich falsch, sondern auch ein Angriff auf die darin formulierten Grundrechte. Artikel 4 garantiert ausdrücklich "die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses". Daraus folgt, dass keine Religion gegenüber einer anderen diskriminiert oder privilegiert werden darf. Das Bundesverfassungsgericht hat dies 1965 klar ausgesprochen: Der Staat könne nur dann "Heimstatt aller Staatsbürger" sein, wenn er "weltanschaulich-religiöse Neutralität" wahre und sich mithin "der Privilegierung bestimmter Bekenntnisse" enthalte.

Im Unterschied zu Ländern wie den USA und Frankreich, die auf erfolgreiche demokratische Revolutionen zurückblicken, sind dieser Grundsatz und die Trennung von Kirche und Staat in Deutschland zwar nie konsequent verwirklicht worden. Die großen christlichen Kirchen werden bis heute privilegiert, indem der Staat die Kirchensteuer für sie eintreibt, sie an öffentlichen Schulen Religion unterrichten lässt und ihnen die Kontrolle über Krankenhäuser, Kindergärten, konfessionelle Schulen und andere öffentliche Einrichtungen überlässt.

Doch wenn Kauder nun das Grundgesetz als Ganzes zum Ergebnis christlicher Tradition erklärt, bedeutet dies einen weiteren Schritt zurück. Die im Grundgesetz formulierten Grundrechte gehen nicht auf christliche Traditionen, sondern auf die Aufklärung zurück, die sich weitgehend im Kampf gegen den Einfluss von Religion und Kirche entwickelte. Vor allem die katholische Kirche ist bis heute ein Hort der politischen Reaktion, wenn es um die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf Abtreibung, die Gleichberechtigung Homosexueller und andere demokratische Grundsätze geht.

Was die jüdische Tradition betrifft, so sind es noch keine siebzig Jahre her, seit der deutsche Staat die Juden verfolgte und ausrottete. Wenn die "christlich-jüdische Tradition" nun zur Rechtfertigung von Angriffen auf den Islam herangezogen wird, ist das der Gipfel des Zynismus.

"Politiker, in deren Vokabular das Wort 'jüdisch' ansonsten bestenfalls in gedenkpolitischen Sonntagsreden vorkam, beziehen sich jetzt mit einer kaum nachzuvollziehenden Vehemenz auf das christlich-jüdische Fundament Deutschlands", bemerkte dazu Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland. Man könne dies "leider nur als allzu durchsichtigen Versuch werten, das Judentum in Deutschland gegen 'den Islam' in Stellung zu bringen".

Ebenso verlogen ist die Gleichsetzung des Islam mit Scharia und Ehrenmord. Genauso gut könnte man den Katholizismus auf Pädophilie und Exorzismus reduzieren. Beides wird in der katholischen Kirche praktiziert, aber deshalb jeden Katholiken als potentiellen Kinderschänder und Exorzisten zu verdächtigen, wäre eine Verleumdung einer ganzen Religionsgemeinschaft. Genau das aber tun Merkel und Kauder, wenn sie Islam, Scharia und Ehrenmord in einem Atemzug nennen.

Auch die angebliche Integrationsunwilligkeit muslimischer Immigranten, auf der neben Unionspolitikern auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel herumreitet, ist ein Phantasieprodukt. Während Innenminister Thomas de Maizière behauptet, 10 bis 15 Prozent der Migranten seien "wirkliche Integrationsverweigerer", gelangte ein Reporter der Süddeutschen Zeitung nach einer Recherche in Duisburg-Marxloh zu einem ganz anderen Schluss. "Die Unwilligen sind bei uns im Promille-Bereich", lautet die Überschrift seines Berichts.

Er hatte in dem Stadtteil, der stark von türkischen Einwanderern geprägt ist, mit Vertretern der zuständigen Behörden gesprochen. Sie bestätigten ihm, dass Integrations- und Sprachkurse gut besucht seien und es sogar zu wenige Plätze gebe.

Während Politiker lautstark fordern, Immigranten müssten die deutsche Sprache lernen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Juli nämlich weitreichende Kürzungen beschlossen. Sprachkurse werden seitdem nur noch Zuwanderern bezahlt, die von den Behörden dazu verpflichtet werden. Wer sich freiwillig bewirbt, kommt auf eine Warteliste und muss die Kursgebühren von 110 Euro selbst bezahlen.

Und was die Zuwanderung aus der Türkei betrifft, gegen die sich die Anti-Islam-Kampagne ganz besonders richtet, so ist sie längst rückläufig. Seit 2006 ist die Zahl der Rückkehrer höher als die der Einwanderer - mit steigender Tendenz. Im vergangenen Jahr gingen 8334 Menschen mehr von Deutschland in die Türkei als von der Türkei nach Deutschland zogen.

Die sogenannte Integrationsdebatte ist eine Hetzkampagne, die von den wachsenden sozialen Angriffen ablenken und muslimische Immigranten zum Sündenboch stempeln soll. Sie ist Bestandteil der Bemühungen, den Boden für eine neue Rechtspartei zu legen.

Sie erinnert stark an die sogenannte Asyldebatte, mit der Union und SPD nach der Wiedervereinigung auf das rasche Ansteigen der Arbeitslosigkeit reagiert hatten. "In den Pamphleten von damals muss man nur die Wörter 'Asyl' und 'Asylant' durch 'Islam' und 'Muslim' ersetzen - und man glaubt, Texte aus der Sarrazin-Debatte vor sich zu haben", kommentierte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.

Damals hatten führende Politiker von Union und SPD gegen Asylsuchende gehetzt, um Ausländerfeindlichkeit zu schüren. Der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Landowsky sprach von Asylbewerbern, die "bettelnd, betrügend und messerstechend durch die Straßen ziehen" und "dem Steuerzahler auf der Tasche liegen", sobald sie das Wort Asyl ausgesprochen hätten. Ermutigt durch diese Kampagne, verübten Neonazis in Solingen und Mölln Brandanschläge auf türkische Familien, die zahlreiche Verletzte und Todesopfer forderten.

In dieselbe Richtung zielt die heutige Kampagne.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.10.2010
CDU auf Sarrazin-Kurs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2010