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GLEICHHEIT/3368: Irland "am Rande großer sozialer Unruhen"


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Irland "am Rande großer sozialer Unruhen"

Von Chris Marsden
23. November 2010


Der Generalsekretär der größten irischen Gewerkschaft Technical Engineering and Electrical Union (TEEU), Eamon Devoy, warnt: "Wir befinden uns an der Schwelle großer sozialer Unruhen in diesem Land, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben."

Er bezog sich auf die neue Runde von Haushaltskürzungen in Höhe von sechs Milliarden Euro, die am Dienstag vorgestellt werden soll, und sagte: "Wenn die drakonischen Maßnahmen jetzt noch auf die 14,5 Mrd. Euro an Kürzungen draufgesattelt werden, die schon mit den letzten drei brutalen Haushalten umgesetzt wurden, dann wird das Leben in Irland unerträglich."

Der Kongress der TEEU debattiert über einen Dringlichkeitsantrag, der "die Regierung wegen krimineller Nachlässigkeit in der Wirtschaftspolitik und wegen der Zusammenarbeit mit den Banken bei der Täuschung der irischen Bevölkerung über die Tiefe der Krise kritisiert."

Der TEEU-Antrag bezeichnet das Vorgehen der Regierung als eine "Politik wirtschaftlicher Sabotage", die "zum Verrat an unserem Land und dem Verlust der letzten Reste unserer wirtschaftspolitischen Souveränität geführt hat". Er fordert die Regierung zum Rücktritt und zur Ausrufung von Neuwahlen auf und drängt den irischen Gewerkschaftsdachverband (ICTU), "eine Kampagne zivilen Ungehorsams zu organisieren, um Neuwahlen zu erzwingen".

Solche Erklärungen sind eine Reaktion auf die ungeheure Empörung unter Arbeitern und Jugendlichen über die vernichtenden Angriffe auf ihren Lebensstandard. Aber sie sind in Wirklichkeit ein Versuch der Gewerkschaftsbürokratie, die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die politischen Repräsentanten der Wirtschaft zu verhindern. Die Gewerkschaften versuchen stattdessen die soziale und politische Unzufriedenheit in eine nationalistische Kampagne abzulenken und die irische Souveränität zu beschwören.

Der Umfang der geplanten Offensive gegen die irischen Arbeiter ist erschütternd. Sie ist der Preis für die Rettung des irischen Bankensektors durch die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission, den IWF und möglicherweise Großbritannien. Das Paket, das jetzt vorbereitet wird, könnte sich auf bis zu 100 Mrd. Euro belaufen. Es käme zusätzlich zu den offensichtlich gescheiterten Maßnahmen, durch die die irischen Banken gerettet werden sollten, indem die Regierung in Dublin faule Immobilienkredite in staatliche Hände übernahm. Die Banken wurden damit praktisch verstaatlicht. Der Arbeiterklasse sollte dann für eine Staatsgarantie aufkommen, um den globalen Besitzern der irischen Staatsanleihen ihre Investitionen zu garantieren.

Im Moment jagen die Kosten der Bankenrettung das irische Haushaltsdefizit auf 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Aber das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange, weil die Europäische Union Milliarden in die irischen Banken pumpt, um sie am Leben zu erhalten. Ein Viertel der Gelder, die die EZB in die Eurozone gepumpt hat gingen nach Irland. Ende Oktober hatte die EZB in Irland ausstehende Kredite in Höhe von 130 Mrd. Euro.

Trotzdem bleiben den irischen Banken die Anleihemärkte praktisch versperrt, weil die Investoren Zinsen von fast acht Prozent verlangen. Deswegen haben die Banken ihre Bezugsrechte bei der EZB jetzt ausgeschöpft. Die irische Zentralbank musste daher einen außerordentlichen Liquiditätsbeistand von 20 Mrd. Euro gewähren. Die Anglo-Irische Bank, die zweitgrößte des Landes, machte am Freitag bekannt, dass Kunden dieses Jahr dreizehn Milliarden Euro Einlagen abgezogen haben, das ist ein Rückgang von siebzehn Prozent. Die Abhängigkeit ihrer Finanzierung von der Zentralbank habe sich seit Juni verdreifacht. Die Bank von Irland berichtete ebenfalls über einen zwölfprozentigen Rückgang ihrer Einlagen in den letzten drei Monaten.

Die irische Bevölkerung trägt pro Kopf bereits 12.500 Euro von den Kosten für die Bankenrettung. Das neue Rettungspaket würde diese Summe auf 30.000 Euro hochtreiben. Das wird durch den Abbau von Arbeitsplätzen, Lohnsenkungen und eine Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen bezahlt. Die Arbeitslosigkeit steht bei vierzehn Prozent und die Einkommen sind um zwanzig Prozent verringert worden. Aber selbst die bisherigen Kürzungen von vierzehn Mrd. Euro und die geplanten sechs Mrd. für dieses Jahr als Teil eines Pakets von fünfzehn Mrd. über vier Jahre können den Appetit der Anleihemärkte nicht befriedigen. Um die Forderungen der Banken und Konzerne zu befriedigen, müsste die die arbeitende Bevölkerung Irlands völlig verarmen und in einen Zustand moderner Sklaverei versetzt werden.

Das ist die Lage, in der die Gewerkschaften und Oppositionsparteien jetzt einschreiten, um die irische Bourgeoisie vom Abgrund zurückzureißen. Der Observer warnte vor "der realen Gefahr", die irische Gesellschaft auszuhöhlen. "Die diskreditierte politische Elite hält die politische Macht nur noch dem Namen nach in Händen und besitzt keine Legitimation mehr, während eine zornige, desorientierte, hoch verschuldete und immer ärmere Bevölkerung den wenigen Arbeitsplätze hinterher jage".

Daher wird die Forderung nach Neuwahlenerhoben, damit eine Regierung gebildet werden kann, die dann angeblich ein Mandat hat, die Kürzungen durchzusetzen. Aber ob Fianna Fail dieser Forderung nachgibt, oder nicht - in jedem Fall werden die Gewerkschaften versuchen, einen politischen Kampf gegen das Kapital zu verhindern.

Als Devoy Neuwahlen forderte, empfahl er den Gewerkschaftsmitgliedern, "Kandidaten zu wählen, die sich um die Interessen der arbeitenden Bevölkerung kümmern". Eine solche Partei gibt es allerdings im irischen Parlament nicht, das völlig von politischen Vertretern der Wirtschaft dominiert wird. Fine Gael ist mit der Labour Party verbündet und Sinn Fein steht für einen Nationalismus, der seinen Ausdruck in der Verteidigung von Irlands Unternehmensbesteuerung von nur 12,5 Prozent findet.

Fine Gael will nächste Woche einen Antrag im Parlament einbringen, um die niedrigen Unternehmenssteuern zu verteidigen, die sie in den 1990er Jahren in Zusammenarbeit mit der Labour Party eingeführt hat. Sie fürchtet, sie könnte im Gegenzug für das EU-Rettungspaket geopfert werden. Auch Fianna Fail hatte sich unter anderem deswegen wochenlang geweigert, unter den Rettungsschirm zu schlüpfen, weil Frankreich und Deutschland eine Erhöhung der Unternehmenssteuern fordern.

Das heißt nichts anderes, als dass die "irische Souveränität" heute definiert wird als die Fähigkeit der Regierung als williges Werkzeug der großen Konzerne zu arbeiten.

Irland hat große Konzerne nach Dublin gelockt, darunter Google, Facebook und Microsoft. Aber die Unternehmenssteuern sind so niedrig, dass sie dieses Jahr bisher erst 2,6 Mrd. Euro gebracht haben. Der Chef von Google Irland, John Herlihy, warnte, dass jede Erhöhung der Geschäftskosten, "darunter die Unternehmenssteuer für Google eine wichtige Frage" wäre. Ähnlich äußerten sich Intel und die Amerikanische Handelskammer.

Fianna Fail argumentiert offen damit, dass die super niedrige Unternehmenssteuer beibehalten werden könnte, wenn dafür die Steuern der Niedrigverdiener erhöht würden. Die Oppositionsparteien und die Gewerkschaften sind weniger ehrlich und versuchen diese Tatsache unter einem Schwall Beschwörungen des irischen Kampfs um nationale Befreiung von Großbritannien zu begraben. Sie behaupten in den Worten des ICTU: "Die Kürzungen können fairer und besser gemacht werden."

Wenn Devoy die Regierung wegen ihrer kriminellen Unfähigkeit in der Wirtschaftspolitik und ihrer Zusammenarbeit mit den Banken verurteilt, lässt er geflissentlich aus, dass die Gewerkschaften ihre Komplizen sind. Erst im Juni schloss der ICTU einen vierjährigen Streikverzicht ab, billigte Milliarden-Euro Kürzungen, Tausende Arbeitsplatzverluste und die Verlängerung eines Lohnstopps nach dem sogenannten Croke-Park-Abkommen. Angeblich sollten diese Opfer Irland ermöglichen, den wirtschaftlichen Sturm über sich hinwegziehen zu lassen. So unterdrückten die Gewerkschaften denn auch diesen Vereinbarungen entsprechend rigoros zahlreiche sich entwickelnde Streiks.

Vom ICTU wird trotz seiner oppositionellen Äußerungen erwartet, dass er auch die jüngsten Angriffe durchsetzt. Gesundheitsministerin Mary Harney hat angedeutet, dass die Ausgaben von sechs Mrd. Dollar für die Gesundheit bis zu einer Milliarde gekürzt werden sollen. Das würde eine "starke Senkung" der Löhne erfordern, sagte sie. Deswegen sollte das Croke-Park-Abkommen "sobald wie möglich" wirksam werden, bezüglich "überholter Arbeitsbedingungen, Umsetzungen und Flexibilisierung".

Die wirkliche Rolle der Gewerkschaften besteht darin, die Kürzungspolitik im Sinne der Finanzelite durchzusetzen. Das ist die Erfahrung in ganz Europa. Wenn es eintägige Proteste in Griechenland, Portugal und anderswo gab, dann dienten sie nur dazu, die Zusammenarbeit mit der Regierung, der Wirtschaft und den Banken gegen die Arbeiterklasse zu verschleiern.

Irlands Schuldenkrise ist nur der unmittelbarste Ausdruck der zweiten Runde der Wirtschaftskatastrophe, die 2008 ausbrach und nun Milliarden Menschen in einen Albtraum zu stürzen droht. Die Billionen Euro und Dollar, die den Banken ausgehändigt wurden, treiben jetzt ganze Länder in den Bankrott. Die "Seuche" droht sich von Irland auf Griechenland, Portugal, Spanien und schließlich auf ganz Europa auszubreiten.

Das Überleben des Euro ist eine offene Frage. Aber die Probleme werden nicht auf die Eurozone beschränkt bleiben. Großbritannien wäre bei einem Zusammenbruch Irlands ganz unmittelbar betroffen, weil Irland der fünftgrößte Handelspartner ist und die britischen Banken Irland mehr als 140 Mrd. Pfund (163 Mrd. Euro) geliehen haben. Zehntausende Briten haben bei irischen Banken Hypothekenkredite aufgenommen.

Jeder Kampf stellt daher heute die zentrale Frage des Aufbaus einer neuen Partei der Arbeiterklasse und neuer Kampforganisationen auf die Tagesordnung. Die Arbeiter in ganz Europa und weltweit müssen für den Sozialismus gewonnen werden. Das muss das Ziel der irischen Arbeiter und Jugendlichen sein, und nicht das Trugbild nationaler Unabhängigkeit im Kapitalismus.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.11.2010
Irland "am Rande großer sozialer Unruhen"
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2010