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GLEICHHEIT/4255: EU verstärkt wieder Binnen-Grenzkontrollen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU verstärkt wieder Binnen-Grenzkontrollen

Von Martin Kreickenbaum
15. Juni 2012



Die Wiedereinführung interner Grenzkontrollen im Schengen-Raum soll zeitlich ausgeweitet und wieder stärker den nationalen Regierungen überlassen werden. Darauf einigten sich die Innen- und Justizminister der Europäischen Union bei ihren Konsultationen im Ministerrat vergangene Woche. Die Reform des Schengen-Vertrages sieht vor, dass Mitgliedsstaaten weitgehend nach eigenem Ermessen für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren erneut Binnen-Grenzkontrollen einführen können.

Der von den Ministern einstimmig beschlossene Entwurf beinhaltet zudem eine deutliche Ausweitung der Gründe, mit denen die Abriegelung innereuropäischer Grenzen gerechtfertigt werden kann. Und er stärkt die nationalen Regierungen gegenüber der EU-Kommission.

Der Ministerrat ist damit weitgehend dem Vorstoß des deutschen Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) gefolgt, der erst vor wenigen Wochen mit seinem damals noch amtierenden französischen Amtskollegen Claude Guéant eine Neufassung des Schengen-Vertrages anmahnte. Der neu ins Amt gekommene französische Innenminister Manuel Valls von der Sozialistischen Partei (PS) setzte die Politik seines Vorgängers nahtlos fort und unterstützte Friedrich ebenso, wie der Vertreter der niederländischen Regierung.

Für die vorgesehenen Änderungen am Schengener Vertragswerk werden die zunehmenden Flüchtlingsbewegungen nach Südeuropa verantwortlich gemacht. Als nach der Revolution in Tunesien und dem Nato-Krieg gegen Libyen im vergangenen Jahr Zehntausende Flüchtlinge an der Küste Italiens landeten, schloss die französische Regierung eigenmächtig die Grenze zum Nachbarland. Und im März dieses Jahres wurde der griechischen Regierung "mangelnder politischer Wille" bei der Sicherung der EU-Außengrenze vorgeworfen, die angeblich "offen sei wie ein Scheunentor".

Im Wahlkampf tönte der aus dem Amt gewählte französische Präsident Nicolas Sarkozy, dass Frankreich das Schengen-Abkommen aufkündigen werde, wenn nicht binnen zwölf Monaten die EU-Außengrenzen besser vor Migranten geschützt würden. Sein Nachfolger François Hollande setzt diese Politik nun um, indem er zusammen mit der Regierung Merkel in Berlin das Schengen-Abkommen in dieser Richtung umgestaltet.

Konnten bislang nur Terroranschläge oder "vorhersehbare Gefahren für die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit" dazu benutzt werden, die Kontrollposten an innereuropäischen Grenzen zu reaktivieren und Personenkontrollen durchzuführen, wurde nun ein so genannter "Notfallmechanismus" hinzugefügt. Er erlaubt es einzelnen Schengen-Staaten für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren das Schengen-Abkommen zu suspendieren, falls ein anderer Unterzeichnerstaat seine Außengrenzen nicht verlässlich kontrolliert.

Schon bisher konnten bei Großereignissen die Grenzen dicht gemacht und Personenkontrollen an innereuropäischen Grenzen durchgeführt werden. So praktiziert es die polnische Regierung gegenwärtig während der Fußball-Europameisterschaft. Dieser Mechanismus hat auch schon bisher dazu gedient, grenzüberschreitende Protestveranstaltungen bei Treffen der Regierungschefs der G8-Staaten möglichst klein zu halten, indem mutmaßliche Demonstranten an der Anreise gehindert werden.

Neu ist jedoch, dass die Schengen-Unterzeichnerstaaten diese Maßnahmen, sofern sie einen Zeitraum von dreißig Tagen nicht überschreiten, nun im Alleingang entscheiden können und die EU-Kommission nur noch darüber informieren müssen.

Doch auch für die Notfallklausel wird durch die Reform das Mitspracherecht der EU-Kommission eingeschränkt. So soll zwar letztlich der Europäische Ministerrat für Justiz und Inneres eine Empfehlung an die Mitgliedsstaaten auf Vorschlag der EU-Kommission abgeben. Doch die Regelung sieht vor, dass ein Mitgliedsstaat die Kommission praktisch zwingen kann, den Notfallmechanismus vorzuschlagen. Die endgültige Entscheidung können die nationalen Regierungen im Alleingang treffen. Dabei ist bewusst schwammig gehalten, was einen solchen Notfall auslösen kann. In dem betreffenden neuen Artikel 26 heißt es unter der Überschrift "Spezifisches Verfahren für den Fall, dass außergewöhnliche Umstände das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt ohne interne Grenzkontrollen gefährden", dass dieser Fall dann vorliege, wenn "anhaltende Probleme bei der Sicherung der Außengrenzen (...) eine ernste Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit im Schengen-Raum" darstellten.

Hinzu kommt, dass die Überprüfung der Einhaltung der Schengen-Regeln und damit auch der Kontrolle der EU-Außengrenzen nicht Brüssel obliegt, sondern von den Mitgliedsstaaten durchgeführt werden soll. Damit entscheiden sie auch selbst darüber, ob ein Notfall vorliegt, der die Abschottung der Binnengrenzen erlaubt. Dadurch wird praktisch willkürlichen Kontrollen Tür und Tor geöffnet, denn bei der unkontrollierten Einwanderung liegt es in der Natur der Sache, dass es keine verlässlichen Zahlen gibt, und Schätzungen stets politisch motiviert sind.

Innenminister Friedrich, der sich bei den Konsultationen weitgehend durchgesetzt hatte, erklärte zwar im Nachhinein, der Notfallmechanismus sei nur eine "ultima ratio" und komme "erst ganz am Schluss, wenn alle Stricke reißen, in Frage", doch dieser Fall könnte schon sehr bald eintreten.

Denn sein französischer Amtskollege Valls begründete seine Zustimmung zu dem Reformpaket damit, dass man dadurch "einer ernsthaften Situation begegnen könne, wie etwa einem Flüchtlingsstrom infolge der sich verschärfenden politischen Krise in Syrien". Alleine schon die geografische Nähe zu Griechenland und die wiederholten Vorwürfe an die Regierung in Athen, sie schütze die EU-Außengrenzen nicht ausreichend, könnten schon bald benutzt werden, das Schengen-Abkommen in seiner bisherigen Form flächendeckend und für lange Zeit außer Kraft zu setzen.

Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sprach bereits offen aus, dass "die Situation an der griechisch-türkischen Grenze die Notwendigkeit einer klaren Notfallregelung für den Schengen-Raum" deutlich mache. Nahrung erhielt diese Argumentation durch Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die für 2011 einen Anstieg der illegalen Einwanderung über das Mittelmeer nach Südeuropa von 35 Prozent auf 140.000 Migranten ausgemacht haben will. Sie behauptet, über 55.000 Flüchtlinge seien illegal über die griechisch-türkische Landgrenze eingereist. Frontex warnt zudem vor der Zunahme von Flüchtlingen aus Afghanistan, Pakistan und Somalia.

Die EU-Kommissarin für Justiz und Inneres, die Schwedin Cecilia Malmström, zeigte sich enttäuscht, weil ihre Befugnisse vom Ministerrat drastisch beschnitten worden sind. Auch führende Abgeordnete des Europaparlaments kündigten Vorbehalte gegen die Reformpläne an. Doch bei der Wiedereinführung der Binnengrenzen selbst besteht hohe Übereinstimmung. Die Meinungsverschiedenheiten ranken sich in erster Linie darum, wer welche Kompetenzen bekommt, und hier fühlen sich sowohl die Kommission als auch die Parlamentarier von den nationalen Regierungen ausgebootet. Zudem hat sich der Ministerrat noch eine Hintertür offen gelassen, das Reformpaket am Parlament vorbei durchzuwinken.

Schon in seiner bisherigen Form diente das Schengen-Abkommen nicht vorwiegend dazu, Reisefreiheit zu gewährleisten, sondern Einwanderung zu kontrollieren. Die 1995 in Kraft getretene Regelung hat die europäischen Binnengrenzen zwar weitgehend abgeschafft, um den ungehinderten Fluss von Kapital, Waren und Personen zu ermöglichen, gleichzeitig aber die Außengrenzen hermetisch abgeriegelt und die Rechte von Immigranten aus Osteuropa und Nicht-EU-Staaten drastisch eingeschränkt.

Außerdem wurden die Kontrollbefugnisse der Grenzpolizei gestärkt, indem immer mehr öffentliche Räume wie Bahnhöfe und Bundesstraßen zu Grenzräumen definiert wurden, in denen Jagd auf Flüchtlinge und illegale Migranten gemacht wird. Seit das Abkommen in Kraft ist, sind laut Menschenrechtsorganisationen nahezu 15.000 Flüchtlinge beim Versuch, die Europäische Union zu erreichen, ums Leben gekommen.

Auf der gleichen Ministerratsrunde wurde auch beschlossen, das neue Schengen-Informations-System (SIS II) im Frühjahr 2013 einzuführen. SIS II bietet entgegen der bisher bestehenden Datenbank nicht nur Fahndungsmöglichkeiten, sondern kann vor allem als Recherchesystem benutzt werden. Zu diesem Zweck verbreitert SIS II nicht nur die Datenbasis, sondern auch die Zugriffsmöglichkeiten der staatlichen Sicherheitsapparate.

Im Europäischen Parlament wird derzeit über eine Initiative der EU-Kommission für den Ausbau des europäischen Grenzsicherungssystems beraten. Darunter fällt nicht nur die militärische und technologische Aufrüstung der EU-Außengrenzen, sondern auch die Einführung einer Datenbank, mit der die Fingerabdrücke aller Drittstaatsangehörigen bei der Ein- und Ausreise in die EU erfasst werden sollen. Außerdem soll ein "intelligentes Grenzregime" (smart borders) eingeführt werden. Durch dieses System würden durch Datenerfassung und -abgleich Ein- und Ausreisende verschiedenen Sicherheitsstufen zugeordnet.

Diese Maßnahmen stehen, wie die beschlossene Verschärfung des Schengen-Abkommens, in direktem Zusammenhang mit dem Fiskalpakt, der enorme Haushaltskürzungen auf Kosten der Arbeiterklasse bedeutet. Der Pakt treibt Griechenland und große Teile Südeuropas in bittere Armut. Es wird befürchtet, dass die soziale Spaltung Europas neue massive Migrationsbewegungen auslösen könnte. Bereits jetzt verzeichnet das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen starken Anstieg der Einwanderung aus Griechenland und Spanien, aber auch aus Osteuropa nach Deutschland.

Zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer werden in Europa wieder die Binnengrenzen hochgezogen, um Armutsflüchtlinge zu zwingen die Misere in ihren Heimatländern zu akzeptieren. Deutlicher könnte der Charakter der EU, als Instrument der Finanzaristokratie zur Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen kaum sichtbar werden.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.06.2012
EU verstärkt wieder Binnen-Grenzkontrollen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2012