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GLEICHHEIT/4266: Massenproteste gegen Militärherrschaft in Ägypten


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Massenproteste gegen Militärherrschaft in Ägypten

Von Peter Symonds
21. Juni 2012



Am Montag beteiligten sich schätzungsweise 50.000 Menschen auf dem Tahrirplatz in Kairo an Protesten gegen den Putsch der Militärjunta. Eine weitere große Demonstration gab es in der Hafenstadt Alexandria. Der Oberste Militärrat (SCAF) hatte vorigen Donnerstag handstreichartig eine Militärdiktatur errichtet.

Am Donnerstag hatte der SCAF das islamistisch dominierte Parlament aufgelöst; darauf erließ er am Sonntag ein Verfassungsdekret, das ihm weitreichende Machtbefugnisse einräumte. Das Dekret wurde unmittelbar nach Ende der Präsidentschaftswahlen erlassen.

Darin wird dem SCAF die Aufsicht über alle Haushalts- und Gesetzgebungsfragen übertragen, wie auch die Kontrolle über die Konstitutionelle Versammlung, die mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragt ist. Außerdem hat der Militärrat das vollständige Kommando über die bewaffneten Streitkräfte, auch im Fall ihres Einsatzes gegen "innere Unruhen". Die bisherigen Einsätze des Militärs können schon als Auftakt zur Durchsetzung des Kriegsrechts gesehnen werden.

Diese Maßnahmen degradieren den nächsten Präsidenten zur machtlosen Gallionsfigur der Militärjunta. Die Ergebnisse der Stichwahl zwischen Mohamed Mursi von der islamistischen Bruderschaft und Ahmed Schafik sollen am (heutigen) Donnerstag bekannt gegeben werden. Schafik war der letzte Premierminister unter dem jetzt gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak. Beide repräsentieren die äußerste Rechte zweier rivalisierender Fraktionen der herrschenden Elite Ägyptens.

Die Muslimbruderschaft rief zu Protesten am Dienstag auf, um ein Ventil für die Wut der Bevölkerung über die autoritäre Vorgehensweise der SCAF zu schaffen. Auch soll die Opposition benutzt werden, um eine Übereinkunft mit den Militärführern zu erreichen. Sowohl die Islamisten als auch die verschiedenen liberalen und pseudo-linken Organisationen haben die Illusion verbreitet, ein "demokratischer Übergang" zu einer zivilen Regierung sei über den SCAF und das Militär zu erreichen.

Zwar waren viele Demonstranten am Montag Unterstützer oder Mitglieder der Muslimbruderschaft; allerdings drückten die Beteiligten eine breitere Empörung in der ganzen Bevölkerung über die Militäraktionen aus. Die Demonstranten skandierten "Nieder mit der Militärherrschaft!", "Nochmals Militärherrschaft: auf keinen Fall!", "Wir sind die Macht, wir sind das Volk!" und "Feldmarschall, du Feigling, gib das Parlament frei!"

Galal Osman sagte dem Christian Science Monitor: "Dieser Militärputsch richtet sich gegen das Volk. Wir möchten, dass der von uns gewählte Präsident über alle Handlungsbefugnisse seines Amtes verfügt. Wir wollen eine Verfassung ohne Einmischung des Militärs. Man kann nicht zulassen, dass neunzehn nicht gewählte Männer den Willen des Volkes untergraben."

Gegenüber Associated Press sagte Mohammed Abdel-Hameed: "Eine Revolution und danach eine Militärherrschaft und ein Präsidenten ohne Autorität ist ein Unding. Wenn sie Blut wollen, sind wir bereit, unser Blut zu vergießen. Damit mein Sohn frei leben kann."

Zur allgemeinen Wut über die Aktionen des Militärs kommen noch Meldungen, Mubarak sei aus medizinischen Gründen aus dem Gefängnis entlassen worden; Mubaraks Gesundheitszustand soll sich rapide verschlechtern. Viele betrachten die Berichte aus dem Gefängnis mit äußerster Skepsis. Mubarak kam nach seiner Verurteilung am 2. Juni ins Gefängnis, weil er zugelassen hatte, dass viele Demonstranten letztes Jahr totgeschlagen worden waren.

Falls der von der SCAF bevorzugte Kandidat Schafik als Wahlsieger ausgerufen wird, könnten die anhaltenden Proteste auf dem Tahrirplatz am Mittwoch eskalieren. Nach der Stichwahl am Sonntag erhoben beide Parteien den Anspruch auf den Wahlsieg.

Die Muslimbrüder gerieren sich bei den Protesten zwar als Demokraten, bemühen sich jedoch um einen Kuhhandel mit dem Militär, damit Mursi am Ende als Gallionsfigur auftreten kann. Ihr Sprecher Jasser Ali sagte auf einer Pressekonferenz: "Warum sollten wir uns zu dem Begriff 'Konfrontation' versteigen? Wir wollen keine Konfrontation mit niemandem. (...) Ein Dialog der nationalen Kräfte muss doch möglich sein."

Die Muslimbruderschaft repräsentiert nicht die ägyptische Arbeiterklasse und die bäuerlichen Massen, sondern Schichten aus dem Bürgertum und aus der oberen Mittelklasse, die sich durch die jahrzehntelange, repressive Militärherrschaft auf dem Abstellgleis befanden. Was den SCAF trotz tiefer Differenzen mit den Islamisten verbindet, ist die Furcht vor einer Bedrohung der bürgerlichen Herrschaft durch weitere soziale und politische Unruhen.

Mit seinem Aufruf zum Dialog steht der Sprecher der Islamisten Ali für eine Fortsetzung der faktischen Koalition, welche die Muslimbrüder im letzten Jahr mit der Militärjunta praktizierten. Damit unterdrückten sie die revolutionäre Bewegung, die Mubarak im Februar 2011 gestürzt hatte.

Der Putsch des SCAF zeigt jedoch, dass das Militär sich jetzt offenbar entschieden hat, auf die politischen Dienste der Muslimbruderschaft zu verzichten. Möglicherweise wird diese wieder als illegal erklärt. Vorgestern vertagte ein Gericht einen Fall, in dem die Auflösung einer islamstischen Organisation verlangt wurde, weil sie es versäumt hatte, ihre staatliche Anerkennung zu erwirken.

Die herrschenden Kreise Ägyptens und der ganzen Welt befürchten, die Aktionen des Militärs könnten einen politischen Aufruhr auslösen, den die Muslimbruderschaft sowie die verschiedenen liberalen und ex-linken Organisationen nicht mehr im Zaum halten könnten.

Am Dienstag fiel der ägyptische EGX30-Aktienindex um 4,6 Prozent. Dies ist der größte Eintagesverlust seit dem 22. November, als Sicherheitskräfte Demonstranten angriffen, und Dutzende Menschen getötet wurden.

Said Hirsh vom Capital Economics sagte am Montag: "Die jüngste Entwicklung wird wahrscheinlich das Risiko weiterer sozialer Unruhen erhöhen und jede Hoffnung auf Veränderung in der Wirtschaftspolitik zunichte machen. Im äußersten Fall könnte dies zu einer zweiten Revolution und somit zu einer noch längeren Periode politischer Unsicherheit führen."

Zweifellos ist zu erwarten, dass am Mittwoch, wenn die Wahlergebnisse bekannt werden und die Proteste auf dem Tahrirplatz weitergehen, die Streitkräfte eingesetzt werden.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 21.06.2012
Massenproteste gegen Militärherrschaft in Ägypten
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/egyp-j21.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2012