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GLEICHHEIT/4877: Interview mit einem Flüchtling in Berlin


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

"Aufgrund des Nato-Krieges in Libyen sterben weiterhin Flüchtlinge in Deutschland und Europa"
Interview mit einem Flüchtling in Berlin

Von Sven Heymanns und Stefan Steinberg
18. Oktober 2013



Zwei Wochen nach dem Tod hunderter Flüchtlinge vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zeigt sich der wahre Charakter der europäischen Union in aller Deutlichkeit. Politiker aller Couleur heucheln Entsetzen über das Schicksal tausender Menschen, die bei der Überfahrt über das Mittelmeer ihr Leben verlieren. Zugleich gehen sie in aller Schärfe gegen diejenigen vor, die es bereits in die "Festung Europa" geschafft haben, sowie gegen jeden, der es zukünftig wagen sollte.

Besonders dramatisch ist die Lage der Flüchtlinge in Deutschland. In mehreren Städten existieren mittlerweile Zeltlager, die unter oft katastrophalen Bedingungen dutzende, manchmal hunderte Flüchtlinge beherbergen. In Hamburg sind etwa 80 Menschen in der St.-Pauli-Kirche untergekommen, die aus Libyen den gefährlichen Weg nach Lampedusa zurückgelegt haben. Der SPD-Senat lässt inzwischen Hubschrauber über der Kirche kreisen und schickt Zivilstreifen in die Umgebung, um jeden potenziellen Flüchtling festzunehmen und ausweisen zu können. In der Stadt machen Polizeistreifen gezielt Jagd auf Menschen schwarzer Hautfarbe.

In Berlin befinden sich 30 Asylbewerber im Freien vor dem Brandenburger Tor einen im Hungerstreik [1]. Weitere 100 Flüchtlinge, die meisten aus Afrika, haben sich in Kreuzberg auf dem Oranienplatz ein Zeltlager errichtet, in dem es selbst an den grundsätzlichsten Dingen fehlt. Die Schulden für Strom belaufen sich auf mehr als 6.000 Euro; richtige Toiletten fehlen, Nahrungsmittel, Hygieneartikel und medizinische Versorgung gibt es kaum. Die Bewohner des Lagers sind gezwungen bei dem feuchten, winterlichen Wetter in den Zelten zu schlafen. Viele der Flüchtlinge sind 2011 aus Libyen geflohen, als das Land von der NATO bombardiert wurde.

Inzwischen hat die Bezirksverwaltung unter der Grünen-Bürgermeisterin Monika Herrmann ein Haus zur Unterbringung der Flüchtlinge angeboten. Doch die Bewohner des Camps sind skeptisch. Manche sehen darin den Versuch, ihr politisches Zentrum von außen zu spalten.

Reporter der WSWS sprachen am Kreuzberger Flüchtlingscamp mit Victor C., der ursprünglich aus Nigeria stammt und nach Libyen gezogen war, um dort zu arbeiten:

"Vor dem Nato-Bombardement arbeitete ich zwölf Jahre lang in Libyen. Ich war einer von vielen afrikanischen Arbeitern, die in das Land kamen, um zu arbeiten. Ich war in der Bauindustrie tätig und lebte in Misrata, wo ich hart gearbeitet und ein gutes Auskommen hatte, solange ich dort war. Alles wurde anders im Jahr 2011, als die Nato, Frankreich und Amerika anfingen, das Land zu bombardieren. Für mich und alle die ich dort kannte, war es eine grauenvolle Erfahrung. An den Händen der Nato klebt das Blut unschuldiger Bürger. Sie töteten mit ihren Bomben gewöhnliche Bewohner und sogar Kinder. Ich hatte Freunde und Kollegen, die durch die Bomben getötet wurden und ich konnte selbst sehen, wie die Menschen starben."

"Die Nato schürte den Bürgerkrieg, der das Land zerrüttet hat und bis heute fortgeführt wird. Die westlichen Kräfte instruierten und bewaffneten die Rebellen, die daraufhin Pogrome gegen die eingewanderten Arbeiter verübten. Die Rebellen schnitten denen, die sie in die Hände bekamen, den Kopf ab. Misrata wurde zu unsicher und ich floh mit meiner Frau nach Tripolis. Wir mussten mein Haus und die Mehrzahl meiner Habseligkeiten zurücklassen. Als die Rebellen bis nach Tripolis vorgedrungen waren, schickten uns libysche Soldaten zum Hafen und sagten uns, wir seien nur dann sicher, wenn wir das Land verließen."

"Ende Mai war ich in einem Boot sieben Tage auf dem Mittelmeer unterwegs. Ich war gezwungen, meine Frau zurückzulassen und weiß bis heute nicht, was mit ihr geschehen ist. An Bord waren 800 von uns und wir hatten für die gesamte Reise weder Lebensmittel noch Trinkwasser. Wir mussten unser gesamtes Eigentum zurücklassen. Nach sechs Tagen kenterte das Schiff und hunderte Passagiere ertranken. Ich war einer von den Geretteten, die nach Lampedusa gebracht wurden und wo die Menschen alles in ihren Kräften Stehende taten, um uns zu helfen."

"Nach kurzem Aufenthalt auf Lampedusa wurden die Überlebenden in verschiedene Läger auf dem italienischen Festland gebracht. Ich kam in ein großes Lager nahe Mailand, das von der Caritas betrieben wird, wo ich fast ein Jahr verbrachte. Die ganze Zeit über wurden unsere Asylanträge von den Behörden ignoriert. Wir hatten ein Dach überm Kopf, mehr aber nicht. Es war, als existierten wir gar nicht. Zu Beginn dieses Jahres erklärten die italienischen Behörden dann, dass die Notsituation in Nordafrika zu Ende sei und lösten die Flüchtlingslager in ganz Italien auf. Von heute auf morgen wurden 30.000 Flüchtlinge auf die Straße gesetzt. Wir mussten draußen und ohne Schutz schlafen. Man gab uns ein Papier, mit dem uns sechs Monate Aufenthalt erlaubt wurde. Viele Flüchtlinge versuchten in andere Länder zu gelangen, wurden jedoch nach Italien zurückgeschickt. Laut europäischem Recht ist es für die Flüchtlinge verantwortlich, weil wir an der italienischen Küste ausschifften."

"Im Januar dieses Jahres kam ich nach Berlin, doch meine Situation hat sich nicht verbessert. Wir kamen hierher um zu arbeiten. Man kann nur dann Respekt erwarten, wenn man arbeitet. Wir wollen keine Almosen, wir wollen eine Chance, etwas gesellschaftlich Konstruktives tun zu können. Doch auch hier ignorieren uns die Behörden. Wir schlafen in Zelten, bei Feuchtigkeit und Kälte. Wir sind müde und hungrig. Alles was uns bleibt, ist für unsere Rechte zu kämpfen und zu demonstrieren."

Ich frage Victor nach der Bedeutungdes Slogans auf seinem Flüchtlingsbanner, auf dem geschrieben steht:

2011- 2013 Libya - Lampedusa - Berlin
Nach wie vor unter Nato-Bombardement

Victor antwortete: "Wir wollen darauf hinweisen, dass Menschen nach wie vor aufgrund des Nato-Bombardements sterben. Sie sterben in Libyen und die Flüchtlinge, die aus dem Land geflohen sind, sterben hier in Europa und Deutschland, aufgrund von Hunger und Vernachlässigung. Wir haben keinen Schutz."

"Die westlichen Länder sprechen von Humanität, doch in Libyen wollen sie die Humanität nicht bewahren sondern zerstören. Der wirkliche Grund für den Krieg waren das Öl und die Werte, die Libyen besitzt. Weil die Nato es so will, wird das Land niemals Frieden haben. Und jetzt nutzen die Franzosen und Amerikaner das Geld, das sie Libyen gestohlen haben, um Waffen für die Rebellen zu kaufen, die in Syrien dasselbe tun. Und wieder mit demselben Ergebnis: Bürgerkrieg und Massenflucht der Bevölkerung. Europa muss die Verantwortung für seine Verbrechen übernehmen."

http://www.wsws.org/de/articles/2013/10/18/inte-o18.html

Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2013/10/16/asyl-o16.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 18.10.2013
"Aufgrund des Nato-Krieges in Libyen sterben weiterhin Flüchtlinge in
Deutschland und Europa"
Interview mit einem Flüchtling in Berlin
http://www.wsws.org/de/articles/2013/10/18/inte-o18.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2013