Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GLEICHHEIT/5578: Zunehmende Proteste im Vorfeld des griechischen Referendums


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Bericht aus Athen
Zunehmende Proteste im Vorfeld des griechischen Referendums

Von Robert Stevens und Christoph Dreier
3. Juli 2015


Seit Mittwoch hängen politische Organisationen in ganz Athen Poster und Plakate auf, auf denen dazu aufgerufen wird, bei dem Referendum am Sonntag über den Sparkurs der Europäischen Union (EU) mit "Nein" zu stimmen. Zu den Parteien, die zu einem "Nein" aufrufen, gehören die amtierende Syriza (Koalition der Radikalen Linken) und die stalinistische Kommunistische Partei Griechenlands (KKE). Auch Sozialverbände, die u.a. Lebensmittel an Bedürftige verteilen, haben Poster und Plakate gegen weitere Sparmaßnahmen entworfen und fordern dazu auf, mit "Nein" zu stimmen.

Studenten der Nationalakademie hatten an der Fassade des Gebäudes ein Transparent aufgehängt, auf dem es hieß: "Am Sonntag stimmen wir beim Referendum mit Nein. Wir sagen Nein zu der Erpressung der EU und der EZB." An die Adresse der griechischen Medien, die sich überwiegend für den Sparkurs aussprechen und dazu auffordern, mit "Ja" zu stimmen, hieß es: "Wir schalten den Fernseher aus. Wir durchbrechen die Angst."

Syriza-Finanzminister Yanis Varoufakis verurteilte das Transparent und befahl, es abzunehmen. "Nicht in meinem Namen", schrieb er auf Twitter über das besagte Transparent. Es gehe auf die Initiative von Gewerkschaftern zurück - "und sie haben das Ministerium nicht um Erlaubnis gefragt", schrieb er.

Das Verhältnis zwischen den Klassen hat sich in Athen stark polarisiert. Die meisten Arbeiter erklären, sie würden gegen den Sparkurs der EU stimmen. Die Regierung steht dieser Stimmung jedoch feindselig gegenüber. Sie hat das Referendum nicht angesetzt, um den Sparkurs abzulehnen, sondern als Manöver im Rahmen der Verhandlungen mit der EU über eine Fortsetzung der Sparpolitik.

Syriza-Premierminister Alexis Tsipras hat bereits angedeutet, dass er sein Amt zu Gunsten einer rechten Regierung aufgeben werde, wenn eine Mehrheit mit "Ja" stimmen sollte. Wenn die Mehrheit mit "Nein" stimmen sollte, werde er die Verhandlungen mit der EU fortsetzen, um eine Einigung zu erzielen und die bereits vorgeschlagenen Kürzungen durchzusetzen.

Die weit verbreitete Ablehnung des Sparkurses in der Bevölkerung passt Syriza nicht ins Konzept. Überall diskutieren die Menschen über das Referendum und die jüngsten Schritte der Regierung. Während die wohlhabenderen Teile der Gesellschaft den Sparkurs verteidigen und aufrufen, mit "Ja" zu stimmen, wollen die Arbeiter und die Armen mit "Nein" stimmen.

In einem Café auf dem Syntagma-Platz führte ein arbeitsloser Journalist eine hitzige Debatte mit einem Rechtsanwalt und einem Physiker. Der Rechtsanwalt sagte: "Wir müssen eine Katastrophe verhindern. Wir müssen mit 'Ja' stimmen."

Sein Freund, der Physiker, stimmte ihm zu: "Das ist das einzig logische, was wir machen können."

"Ihr wollt eine gewählte Regierung stürzen. Ihr wollt den Bürgerkrieg wieder aufleben lassen", antwortete der unzufriedene Journalist. Er meinte damit den Bürgerkrieg 1946-49 zwischen der Regierung, die von Großbritannien und den USA unterstützt wurde, und der stalinistisch dominierten Demokratischen Armee Griechenlands, die gegen die Nazi-Besatzung gekämpft hatte.

Der Journalist fügte hinzu: "Eure Regierung hat bereits den Lebensstandard der Menschen zerstört. Ihr wollt, dass das weitergeht. Wenn ihr [den ehemaligen Premierminister der konservativen Nea Dimokratia Antonis] Samaras wieder an die Macht bringt, dann werdet ihr sehen, was passiert."

"Das 'Nein'-Lager provoziert einen Bürgerkrieg. Wir wollen, dass die Regierung zurücktritt und eine Allparteienregierung an die Macht kommt", antwortete der Physiker.

Der Rechtsanwalt fügte hinzu: "Die griechische Verfassung sieht für so eine Situation eine Lösung vor. Einer der drei höchsten Richter wird Premierminister einer Übergangsregierung, die mit der EU eine Einigung aushandeln und das Land stabilisieren könnte. Danach kann es Neuwahlen geben."

Nach fünf Jahren Sparkurs wissen große Teile der Bevölkerung nicht mehr, wie sie von einem Tag auf den anderen leben sollen. Sie wollen keine Verschärfung des Sparkurses akzeptieren, wie es die EU fordert und wie es die Syriza-Regierung vorschlägt.

Reporter der WSWS sprachen am Mittwoch während einer Demonstration gegen Rentenkürzungen vor dem Finanzministerium mit einem 80-jährigen Rentner. Er zeigte ihnen eine Tabelle mit den Rentenkürzungen, die Syriza vorschlägt, und eine andere mit den Kürzungen, welche die EU und der IWF fordern. Er erklärte wütend, beide seien so gut wie identisch, deswegen lehne er sie ab.

Er erklärte, der Plan der EU sei, die Renten auf 325 Euro zu senken und fügte hinzu: "Schäuble, Merkel und der Rest der EU werden uns umbringen, wenn wir sie nicht vorher umbringen."

Seit die Syriza-Regierung am Sonntag Kapitalverkehrskontrollen eingeführt hat, können viele Rentner nicht auf ihre Bankkonten zugreifen, da sie keine Bankkarten haben und stattdessen auf Sparbücher angewiesen sind. Syriza hatte ursprünglich angekündigt, dass Rentner ihre vollständige Rente abheben könnten, am Montag dann allerdings eine Obergrenze von 240 Euro festgelegt, die später auf 120 Euro reduziert wurde. Hierdurch hat sich die Lage noch weiter verschärft.

Einige Banken haben beschlossen, am Mittwoch nur an Rentner auszuzahlen, deren Namen mit den Buchstaben von A bis I beginnen. Die anderen wurden angewiesen, Ende der Woche noch einmal zu kommen.

Der Rentenfonds OAEE gab am Dienstag bekannt, er könne am Mittwoch nur die Hälfte der Renten auszahlen. Der Vorsitzende des Fonds, Tasos Petropoulos, kündigte an, statt dem durchschnittlichen Betrag von 700 Euro würden nur 350 Euro ausgezahlt - und auch das nur, wenn der Kapitalfluss normal funktioniere.

Ein anderer Rentner, der ebenfalls an der Demonstration teilnahm, erklärte, er habe 30 Jahre im Schiffsbau gearbeitet. In den letzten fünf Jahren wurde seine Rente von 1.200 Euro auf 424 Euro gekürzt.

Vor dem Finanzministerium findet eine dauerhafte Protestveranstaltung der dortigen Reinigungskräfte statt. Sie waren ursprünglich von der früheren Regierung entlassen worden, nachdem die EU und der IWF Stellenabbau im öffentlichen Dienst gefordert hatten.

500 Beschäftigte wurden entlassen und nahmen den Kampf für ihre Wiedereinstellung auf. Etwa 300 wurden von Syriza wieder eingestellt, wobei Finanzminister Varoufakis den Institutionen versicherte, dass dies keine Folgen für die künftige Sanierung des öffentlichen Dienstes haben werde. 200 Beschäftigte, die zuvor mit minderwertigen Arbeitsverträgen beschäftigt waren, sind jedoch weiterhin arbeitslos.

Ihre Lage ist ein Ergebnis der enormen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiter in den letzten fünf Jahren. Sie waren offiziell für zwanzig Stunden pro Woche beschäftigt und erhielten nur 325 Euro im Monat. Wie sie den Reportern der WSWS erklärten, haben sie keine Sozialversicherung, keinen Kündigungsschutz und keinen Urlaubsanspruch. Eine der Befragten namens Aglaia erklärte auf die Frage, welche Auswirkungen der Sparkurs auf ihre Familie habe, die Rente ihrer Mutter sei um etwa 50 Prozent gekürzt worden.

Im Stadtteil Exarchia unterhielten sich WSWS-Reporter mit Marius und Spyros, zwei jungen Lehrern an einer öffentlichen Schule in der Hafenstadt Piräus. "Unser Gehalt wurde in den letzten Jahren um 50 Prozent gekürzt", erzählte Marius. "Aber viele unserer Schüler sind in einer noch schlimmeren Lage. Wir haben an unserer Schule bereits Lebensmittel gesammelt."

Er erklärte: "Unsere Generation hat keine Hoffnung. Wir können keine Familie gründen oder auch nur in den Urlaub fahren. Wir können nichts von dem tun, wofür man normalerweise arbeitet. Die 25 reichsten Familien haben alles und haben uns nichts übrig gelassen. Wir wurden für etwas bestraft, was wir nicht getan haben."

Beide waren angewidert von der Berichterstattung über das Referendum im Fernsehen. Spyros erklärte: "Ich werde den Fernseher ausmachen. Was da läuft, ist nur Meinungsmache."

Marius erklärte, keine der Optionen in dem Referendum biete Anlass zur Hoffnung, aber "vielleicht könnte eine 'Nein'-Stimme der Anfang von etwas sein. Vielleicht müssen wir uns einfach weigern, die Schulden zu zahlen."

*

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: psg[at]gleichheit.de

Copyright 2015 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten

*

Quelle:
World Socialist Web Site, 03.07.2015
Bericht aus Athen
Zunehmende Proteste im Vorfeld des griechischen Referendums
http://www.wsws.org/de/articles/2015/07/03/athe-j03.html
Partei für Soziale Gleichheit
Sektion der Vierten Internationale (PSG)
Postfach 040 144, 10061 Berlin
Telefon: (030) 30 87 27 86, Telefax: (032) 121 31 85 83
E-Mail: psg[at]gleichheit.de
Internet: www.wsws.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang