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GLEICHHEIT/5888: Griechenland schiebt erneut Flüchtlinge in die Türkei ab


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Griechenland schiebt erneut Flüchtlinge in die Türkei ab

Von Martin Kreickenbaum
9. April 2016


Am Freitag hat die griechische Regierung die Massendeportation von Flüchtlingen von den Ägäisinseln in die Türkei wieder aufgenommen. In den griechischen Internierungslagern auf Lesbos und Samos sowie in den Flüchtlingscamps in den Häfen von Chios und Piräus eskalierte derweil die Situation und es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verzweifelten, schutzsuchenden Menschen und der Polizei.

Am Morgen brachte ein großes Polizeiaufgebot 45 Pakistaner auf der Insel Lesbos aus dem Abschiebegefängnis auf die Fähre "Nazli Jale", mit der sie umgehend in die türkische Hafenstadt Dikili abgeschoben wurden. Weitere 95 Flüchtlinge wurden von den Inseln Kos und Samos nach Lesbos verfrachtet, um dann ebenfalls deportiert zu werden. Auch von der Insel Chios sollen Abschiebungen stattgefunden haben, wie die Deutsche Presseagentur dpa unter Berufung auf die griechische Küstenwache meldete.

Die Abschiebungen sind Teil des schmutzigen Deals der Europäischen Union mit der Türkei, der den Flüchtlingen den Weg nach Europa über die sogenannte "Balkanroute" vollständig versperrt. Bereits am Montag waren 202 Flüchtlinge in die Türkei gebracht worden. Die griechischen Behörden gaben an, dass die am Freitag abgeschobenen Flüchtlinge keine Asylanträge gestellt hätten. Doch inzwischen mehren sich die Zweifel an dieser Darstellung.

Die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen, UNHCR, hatte bereits am vergangenen Dienstag erklärt, die Asylgesuche von 13 Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Kongo, die am Montag von der Insel Chios in die Türkei abgeschoben worden waren, seien nicht angehört worden. Der Vorsitzende des europäischen Büros des UNHCR, Vincent Cochetel, sagte, die griechische Polizei habe nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens am 20. März "vier Tage lang keine Asylanträge entgegen genommen, weil sie darauf nicht vorbereitet war oder keine entsprechende Ausrüstung hatte".

Die 13 Flüchtlinge sind inzwischen in einem mit EU-Geldern finanzierten Abschiebelager im Nordwesten der Türkei nahe Pehlivanköy eingesperrt. Von dort aus sollen sie bald in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.

Die Europäische Union weigert sich bislang, den Vorwürfen des UNHCR nachzugehen, obwohl diese nahelegen, dass die Abschiebungen in die Türkei massiv gegen international geltende Normen des Flüchtlingsschutzes verstoßen. Stattdessen behauptet der Sprecher der europäischen Asylbehörde EASO, Jean-Pierre Schembri, es werde "individuelle Überprüfungen geben. Es gibt keinen Rückführungsautomatismus. Jeder hat das Recht, Asyl zu beantragen."

Doch dem widersprechen Menschenrechtsgruppen energisch. Die kalifornische Anwältin Kavita Kapur, die sich auf Lesbos für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt, berichtete dem US-amerikanischen Sender Voice of America: "Das größte Problem ist, dass den Menschen, die in die Türkei deportiert werden, bis wenige Stunden vor der Abschiebung überhaupt nicht klar ist, dass sie dorthin abgeschoben werden. Angeblich haben sie das Recht, Asyl zu beantragen, aber sie werden nur mit Formblättern in englischer Sprache über ihre Rechte aufgeklärt, ohne Zugang zu Dolmetschern zu haben. Die meisten, die uns freiwilligen Helfern sagten, sie wollten Asyl beantragen, wurden gar nicht zu einem Verfahren zugelassen."

Obwohl die griechische Regierung die neuen Asyl- und Abschieberegelungen vor einer Woche im Eilverfahren durch das Parlament gepeitscht hat, sind die Behörden mit den Asylanträgen heillos überfordert. Selbst bei der Bearbeitung der Anträge im Schnellverfahren werden derzeit nur etwa 50 Bescheide täglich erstellt, während in Griechenland immer noch mehr als 52.000 Flüchtlinge festsitzen.

Die Europäische Union hat zwar über die Grenzschutzagentur Frontex Hunderte Grenzschützer und Polizisten nach Griechenland beordert, jedoch bislang nur 20 Rechtsexperten und Dolmetscher, die bei der Bearbeitung der Asylanträge unterstützend tätig sind. Das unterstreicht, dass das Abkommen der EU mit der Türkei in erster Linie eine Polizeistaatsmaßnahme ist, mit der die Flüchtlinge so schnell wie möglich aus Europa weggeschafft werden sollen.

Die drohende Abschiebung lässt in den Lagern inzwischen die Verzweiflung wachsen. Syrische und afghanische Flüchtlinge haben nach einem Bericht des britischen Guardian angekündigt, sich eher umzubringen, als in die Türkei deportieren zu lassen. Souaob Nouri aus Kabul, der im Hochsicherheitslager auf der Insel Chios festgehalten wird, sagte der Zeitung: "Wenn sie uns deportieren, bringen wir uns um. Wir werden nicht zurückgehen."

Ein anderer, der sich Akimi nannte, erklärte: "Wir sind keine Terroristen, wir sind Flüchtlinge. Die Zustände hier sind sehr schlecht. Es gibt kein Wasser. Sie schlagen schwangere Frauen. Warum behandeln sie uns so? Alles was wir wollen, ist Asyl."

Auch im Internierungslager Lesbos mehren sich die Stimmen, die den Tod einer Abschiebung in die Türkei vorziehen. In dortigen Lager wie auch auf der Insel Samos sind Dutzende Flüchtlinge in den Hungerstreik getreten, um ihre Abschiebung zu verhindern. Ein sich im Hungerstreik befindender pakistanischer Flüchtling brach im Lager Moria auf Lesbos zusammen und musste in ein Krankenhaus gebracht werden.

Am Donnerstag brachen zudem rund 250 Flüchtlinge aus dem Haftlager auf Samos aus und marschierten durch die Straßen von Vathy, dem Hauptort auf der Insel. Sie forderten, nicht in die Türkei deportiert zu werden, sondern nach Zentraleuropa weiterreisen zu dürfen. Mit einem massiven Polizeieinsatz konnten die meisten Flüchtlinge wieder ins Lager zurückgebracht werden.

Den 4.270 Flüchtlingen, die im selbst errichteten Lager im Hafen von Piräus ausharren, wurde von den Behörden ein Ultimatum gestellt, innerhalb von zwei Wochen das Lager freiwillig zu verlassen. Ansonsten werde es gewaltsam geräumt. In Athen hat die Polizei zudem Flüchtlinge daran gehindert, vor dem griechischen Parlament ein Protestlager zu errichten. Mehr als 40 Flüchtlinge wurden von der Polizei verhaftet, Hunderte weitere gewaltsam zum Hafen nach Piräus gebracht.

Der massive und gewalttätige Polizeieinsatz gegen Flüchtlinge ermuntert extrem rechte Gruppen, ihrerseits gegen Flüchtlinge und deren Unterstützer vorzugehen. Auf der Insel Chios ging ein Mob, der von Mitgliedern der faschistischen Partei Goldene Morgenröte angeführt wurde, gegen ein Flüchtlingscamp vor, das schutzsuchende Migranten auf der Kaimauer des Hafens der Insel errichtet hatten, nachdem sie letzte Woche aus dem dortigen Abschiebegefängnis geflohen waren. Unter anderem wurde ein Cafe, in dem sich vor allem Unterstützergruppen der Flüchtlinge treffen, mit Steinen und Molotowcocktails beworfen.

Die Verantwortung für die gewalttätigen Auseinandersetzungen und die verzweifelte Lage der Flüchtlinge in Griechenland trägt die Syriza-Regierung in Athen. Sie setzt den von der EU mit der Türkei vereinbarten Pakt in die Tat um. Flüchtlinge werden mit den Methoden eines Polizeistaats inhaftiert und massenhaft deportiert, Menschenrechtsgruppen und freiwillige Flüchtlingshelfer kriminalisiert. Die Athener Regierung stützt sich dabei auf das Militär und Spezialkräfte der Polizei, die enge Verbindungen zur rechtsextremen Goldenen Morgenröte unterhalten.

Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière begrüßt das brutale Vorgehen der griechischen Sicherheitskräfte ausdrücklich. "Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig", sagte de Maizière den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Er will diesen menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen sogar noch ausdehnen und den EU-Türkei-Deal zum Modell für weitere Abschiebeabkommen in Nordafrika machen.

"Wir werden auf Sicht gesehen über Modelle zu diskutieren haben, ähnlich wie wir sie mit der Türkei praktiziert haben", sagte de Maizière am Dienstag in Wien. "Diese Methode ist richtig, die sollten wir auch für die zentrale Mittelmeer-Route von Nordafrika aus über Italien anwenden."

Er reagierte damit auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen, die versuchen, das Mittelmeer von Libyen in Richtung Italien zu überqueren. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden dort bereits 19.287 Flüchtlinge registriert, etwa 60 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum.

Dabei weiß de Maizière genau, dass Flüchtlinge in den nordafrikanischen Staaten massiv misshandelt und gefoltert werden. Vor allem in Libyen, wo infolge des Nato-Krieges zum Sturz von Muammar al-Ghaddafi islamistische Milizen herrschen, sind Flüchtlinge völlig schutzlos.

Vor einer Woche wurden bei Zusammenstößen zwischen Flüchtlingen und Sicherheitskräften im Al-Nasr-Abschiebelager nahe der Stadt Al Zawyah fünf Flüchtlinge erschossen und weitere elf schwer verletzt. In dem Abschiebelager werden 1.500 Flüchtlinge aus Staaten wie Somalia, Nigeria und Mali gefangen gehalten, die im März dieses Jahres festgesetzt wurden, als sie versuchten, nach Italien zu fahren.

Auch die von der EU-Kommission Mitte dieser Woche vorgelegten Pläne zur Reform des europäischen Asylsystems beinhalten vor allem mehr Repressionen und Restriktionen gegen Flüchtlinge. Die Medien berichteten fast nur über den Teil des 20-seitigen Dokuments, der einen Notverteilungsmechanismus vorsieht, falls ein EU-Mitgliedsstaat durch einen Flüchtlingszuzug überlastet sein sollte.

Damit soll zum einen der Druck auf die betroffenen Länder aufrecht erhalten bleiben, die EU-Außengrenzen auch weiterhin rigoros gegen Flüchtlinge abzuschotten. Zum anderen versucht die EU-Kommission, dem gescheiterten Dublin-System neues Leben einzuhauchen, das festlegt, dass für die Bearbeitung eines Asylantrags der Staat zuständig ist, den ein Flüchtling als ersten betritt. Nach Ansicht der EU-Kommission ist das Dublin-System notwendig, um das Schengen-Abkommen zu retten und den freien Transport von Kapital und Waren durch Europa weiter zu garantieren.

Für Flüchtlinge hingegen wird es in Europa nach diesen Plänen keine Reisefreiheit mehr geben. Vielmehr sollen Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge im für sie zuständigen Mitgliedsstaat festgesetzt werden. Dazu sind explizit Zwangsmaßnahmen vorgesehen, die von der Reduzierung der Sozialleistungen über die Aberkennung des Flüchtlingsstatus bis zur Inhaftierung und Abschiebung reichen. Zudem wird kein Daueraufenthalt mehr garantiert. Stattdessen wird ein regelmäßiges Widerrufverfahren innerhalb von fünf Jahren eingeführt - eine Regelung, die vor allem in Deutschland bereits praktiziert wird. Das heißt, Flüchtlinge leben in Europa dann in ständiger Furcht vor erzwungener Ausreise und Abschiebung.

Außerdem soll die Liste der "sicheren Herkunftsstaaten" EU-weit angeglichen werden, um überall Asylanträge in Schnellverfahren abzuarbeiten und in der Regel abzulehnen. Die Europäische Union reagiert auf die humanitäre Not der vor Krieg und Elend fliehenden Menschen, indem sie die Zugbrücken der Festung Europa immer weiter hochzieht.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.04.2016
Griechenland schiebt erneut Flüchtlinge in die Türkei ab
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2016

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