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GLEICHHEIT/5904: Merkel und Tusk auf PR-Tour in türkischem Flüchtlingslager


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Merkel und Tusk auf PR-Tour in türkischem Flüchtlingslager

Von Martin Kreickenbaum
27. April 2016


Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Ende letzter Woche zusammen mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem Vizepräsidenten der EU-Kommission Frans Timmermans ein Vorzeigeflüchtlingslager nahe der türkischen Millionenstadt Gaziantep unweit der türkisch-syrischen Grenze besucht. Der Besuch war an Heuchelei nicht zu überbieten. Das Elend der großen Masse der Flüchtlinge in der Türkei wurde dabei ebenso ausgeblendet, wie die Entrechtung der Flüchtlinge durch den schmutzigen Deal der Europäischen Union mit der türkischen Regierung.

Der Aufenthalt der Kanzlerin und des EU-Ratspräsidenten im Flüchtlingslager Nizip glich dem Besuch eines potemkinschen Dorfes. Nach offiziellen Angaben leben hier 5.000 Flüchtlinge aus Syrien, darunter etwa 1.900 Kinder. Selbst die rechtslastige Tageszeitung Die Welt musste konstatieren, dass es in der ganzen Türkei "kein Camp gibt, in dem es Menschen besser geht als in diesem Lager. Die Ausstattung ist gut, es gibt Schulen für die Kinder, und viele Bewohner gehen einer Arbeit nach."

Zusammen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu eröffneten Merkel und Tusk dann noch ein Kinderschutzzentrum des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Gaziantep, das mit EU-Geldern finanziert wurde und als Vorzeigeprojekt dient. Dass die EU mit den versprochenen Hilfsgeldern für die Türkei auch Internierungslager und Abschiebegefängnisse errichtet, blieb bei dem Besuch unerwähnt.

Vielmehr stellten Merkel, Tusk und Timmermans heraus, dass das Abkommen mit der Türkei angeblich im Interesse der Flüchtlinge sei und "humanitäre" Ziele verfolge. EU-Ratspräsident Tusk erklärte auf der anschließenden Pressekonferenz: "Seit der Vereinbarung im März haben wir gesehen, dass die illegalen Flüchtlingsströme über die Ägäis deutlich abgenommen haben. Unsere Rückführungs- und Rückübernahmemaßnahmen funktionieren. Im Gegenzug siedeln wir syrische Flüchtlinge aus der Türkei um. Wir befinden uns also auf dem Weg von der illegalen Migration zur legalen Migration."

Ganz abgesehen davon, dass Flucht vor Krieg und Verfolgung ein international anerkanntes Grundrecht darstellt und daher nicht als "illegal" kriminalisiert werden kann, blendete Tusk die menschenverachtenden Folgen des EU-Türkei-Pakts völlig aus. Zwar sind in den drei Wochen seit Inkrafttreten des Abkommens nur noch 5.847 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln angekommen gegenüber 26.878 in den drei Wochen davor, aber nicht weil die Türkei eine bessere Versorgung der schutzsuchenden Menschen garantiert, sondern weil die EU die Neuankömmlinge brutal und unmenschlich behandelt und abschiebt.

Auf Lesbos, Samos oder Chios werden die Flüchtlinge in völlig überfüllte Haftanstalten gepfercht, Familien werden auseinandergerissen und Asylbegehren in Schnellverfahren abgehandelt, ohne den Flüchtlingen die Chance auf juristischen Beistand zu geben. Auch das versprochene Umsiedlungsprogramm, mit dem sich die EU verpflichtet hat, für jeden in die Türkei abgeschobenen syrischen Flüchtling einen anderen direkt aus der Türkei aufzunehmen, läuft nur schleppend an. Bisher hat die EU im Rahmen dieses Tauschhandels erst 102 Flüchtlinge aus der Türkei ausgeflogen, von denen 54 nach Deutschland kommen durften.

Auch Merkel lobte auf der Pressekonferenz "die Möglichkeit, sehr praktisch einen Teil des EU-Türkei-Abkommens einmal in Augenschein zu nehmen". Sie fügte hinzu, dass mit dem Deal mit der Türkei die Flüchtlinge "auch mehr Chancen in der Nähe ihrer Heimat haben. Dem dient eben auch die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Türkei."

Tusk fügte noch hinzu, dass der Besuch "das beste Beispiel für die Welt ist, wenn es darum geht, wie wir insgesamt mit Flüchtlingen umgehen sollten. Keiner hat das Recht, belehrend auf die Türkei einzuwirken."

Das soll nicht nur die Abschottungspolitik der Europäischen Union rechtfertigen, sondern auch davon ablenken, dass die EU die Türkei für die Drecksarbeit der Flüchtlingsabwehr einspannt. Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention bis heute nicht vollständig ratifiziert. Flüchtlinge, die nicht aus Europa stammen, werden in der Türkei nicht als solche anerkannt und haben keine demokratischen Rechte.

Der Deal zwischen der Türkei und der EU hat das Grundrecht auf Asyl faktisch ausradiert. Denn während einige handverlesene Syrer nach Europa kommen dürfen, haben Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak, Iran, Eritrea oder dem Sudan keine Chance mehr und müssen damit rechnen, in brutalen Kettenabschiebungen aus Griechenland über die Türkei in ihre Herkunftsländer deportiert zu werden. Die Türkei handelt dafür Rücknahmeabkommen mit den wichtigsten Herkunftsländern der Flüchtlinge aus.

Davon betroffen waren bereits 13 Flüchtlinge aus dem Kongo und Afghanistan, die die EU Anfang April völlig rechtswidrig in die Türkei abschob, wo sie in Haft genommen wurden. Menschenrechtsorganisationen und Anwälten wird der Zugang zu ihnen verweigert. Laut Amnesty International werden Flüchtlinge in der Türkei systematisch in Internierungslagern isoliert. Mitarbeitern vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR und anderen Nichtregierungsorganisationen wird der Zugang zu diesen Abschiebehaftanstalten verwehrt.

Die Türkei hat außerdem die Außengrenzen für Flüchtlinge hermetisch abgeriegelt. Anfang 2015 wurden die Grenzübergänge für Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien fliehen, geschlossen. Nun hat die Regierung sogar eine 911 Kilometer lange Mauer entlang der Grenze errichtet. Amnesty hat minutiös dokumentiert, wie sich in den letzten Wochen gewaltsame Rückschiebungen an der Grenze häufen. Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichteten zwei Flüchtlinge, dass Menschen aus ihrer Fluchtgruppe "so schwer geschlagen wurden, dass sie kaum wiederzuerkennen waren".

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nutzte den Besuch von Merkel, Tusk und Timmermans, um diese Vorwürfe abzustreiten. "Ich möchte hier ganz offen betonen, dass keine einzige Person gegen ihren Willen nach Syrien zurückgeschickt worden ist", erklärte Davutoglu, um hinzuzufügen, dass Amnesty eine Organisation sei, von der man nicht wisse, mit wem sie alles zusammenarbeite. Ohne Widerspruch von Merkel oder Tusk zu ernten, rückte Davutoglu die Menschenrechtsorganisation damit in das Zwielicht der Zusammenarbeit mit angeblich "terroristischen" Gruppen.

Tatsächlich sind in den letzten vier Monaten nach Angaben der Organisation Syrian Observatory for Human Rights mindestens 16 Flüchtlinge an der Grenze von türkischen Soldaten erschossen worden. Ein Flüchtlingsschleuser berichtete der Daily Mail: "Flüchtlinge, die die Grenze überqueren, werden jetzt entweder getötet oder festgenommen. Türkische Soldaten, die zuvor den Flüchtlingen geholfen haben und sogar ihre Taschen trugen, schießen jetzt auf sie."

Der europäische Vizedirektor von Amnesty International, Gauri van Gulik, sagte dem britischen Guardian: "Merkel und Tusk sollten PR nicht mit der Realität verwechseln. Misshandlungen von Flüchtlingen in der Türkei finden real statt und, was das Ganze schlimmer macht, Merkel und Tusk machen sich mitschuldig. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, das Verhalten der Türkei reinzuwaschen und weiter anzuspornen, sollte Europa sich seiner eigenen Verantwortung bewusst werden."

Denn abseits von Vorzeigelagern wie Nizip, in denen gerade einmal 250.000 der geschätzten 2,7 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak untergebracht sind, leben die Flüchtlinge in der Türkei zumeist in Armut, Not und Elend.

In einer Reportage der Welt wurden beispielhaft die provisorischen Lager in der Westtürkei beschrieben. Im Landkreis Torbali leben mindestens 10.000 syrische Flüchtlinge in Baracken, Ruinen und Zelten unter menschenunwürdigen hygienischen Zuständen. Die Flüchtlinge zahlen den Landbesitzern zum Teil bis zu 375 Euro im Monat für einen Zeltplatz. Selbst die Kinder müssen schon als Tagelöhner auf den Feldern arbeiten, für umgerechnet 11 bis 14 Euro pro Tag. Eine Schule besucht hier niemand.

Nesrin Semen vom Welternährungsprogramm WFP berichtete dem Tagesspiegel, dass es für die Flüchtlinge mühsam sei, in der Türkei Arbeit zu finden. "Einige Familien müssen in verlassenen Gebäuden oder fensterlosen Verschlägen oder leeren Geschäften leben." Die Hilfen des WFP und des türkischen Halbmondes reichen nicht aus, um die Masse der Flüchtlinge zu versorgen. "Fakt ist, dass die meisten syrischen Flüchtlinge in der Türkei nicht ausreichend zu Essen haben", sagt Semen und ergänzt: "Viele Flüchtlinge haben ihr Erspartes aufgebraucht und sehen sich dazu gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, damit diese ein wenig dazuverdienen können."

Die Europäische Union ist für die katastrophale Lage der Flüchtlinge und ihre Misshandlungen direkt verantwortlich. Die imperialistischen Mächte Europas haben als Verbündete der USA die Kriege im Nahen Osten unterstützt, die Millionen Menschen in die Flucht getrieben haben. Diesen verzweifelten Menschen verwehrt sie das Grundrecht auf Asyl und weist sie an ihren Außengrenzen ab, indem sie autoritäre Regime zum Handlanger der "Festung Europa" macht.

Während Merkel in Deutschland für ihre angebliche "Willkommenskultur" gepriesen wird und sie selbst den schmutzigen Deal der EU mit der Türkei als nachhaltige "Lösung" der Flüchtlingskrise lobt, erleiden die Flüchtlinge in der Türkei die brutalen Konsequenzen dieser rigorosen Abschottungspolitik der Europäischen Union.

Der Geschäftsführer von ProAsyl, Günter Burckhardt, erklärte der Frankfurter Rundschau: "Merkels Türkei-Reise gaukelt Humanität vor, wir erleben aber den größten Angriff in der Geschichte der EU auf das Menschenrecht auf Asyl." Der EU-Türkei-Deal, so Burckhardt, "hebelt das Recht auf Asyl aus, systematisch werden Flüchtlinge schutzlos gestellt und Menschenrechte missachtet."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 27.04.2016
Merkel und Tusk auf PR-Tour in türkischem Flüchtlingslager
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2016

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