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GLEICHHEIT/5937: Berlin - Massiver Polizeieinsatz gegen Roma


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Berlin: Massiver Polizeieinsatz gegen Roma

Von Andy Niklaus und Carola Kleinert
26. Mai 2016


In der Nacht von Sonntag auf Montag ging eine Hundertschaft der Berliner Polizei brutal gegen Roma-Familien vor, die an der Gedenkstätte für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gegen ihre drohende Abschiebung protestierten.

Die Initiative "Alle bleiben", in der zahlreiche Roma- und Sintigruppen bundesweit zusammenarbeiten, fordert in ihrem Kundgebungsaufruf "eine Revision der Asylrechtsverschärfung, bedingungsloses Bleiberecht in Deutschland und gesellschaftliche Teilhabe". Das historische Versprechen, Sinti und Roma zu integrieren, müsse mehr als 70 Jahre nach der Ermordung von bis zu 500.000 Angehörigen der Minderheit endlich Realität werden, sagte Stefan Asanovski von der Vereinigung Romano Jekipe Ano Hamburg.

Die rund 80 Roma aus Norddeutschland, darunter viele Frauen und Kinder, hatten sich auf dem Gelände des Mahnmals gegenüber dem Reichstagsgebäude niedergelassen, um auf die zunehmenden Abschiebungen von Roma in ihre angeblich sicheren Herkunftsländer auf dem Balkan aufmerksam zu machen. Viele unter ihnen hatten in den vergangenen Wochen ihren Abschiebebescheid erhalten.

Gegen Mitternacht ließ die Berliner Polizeibehörde jedoch, nach Absprache mit Bundestagspräsident Lammert (CDU) und dem Direktor des Holocaust-Denkmals Neumärker, die Wiese am Denkmal räumen. Sie setzte Schlagstöcke ein, es gab Verletzungen und Festnahmen.

Zur Begründung hieß es, ein Protest an der erst 2012 eröffneten Gedenkstätte in unmittelbarer Nähe des Holocaust-Denkmals könne nicht geduldet werden, weil damit ein heiliger Ort für die Toten gestört werde.

Ein absurdes Argument, so die Roma-Familien. Sie wollten gerade hier protestieren, um ihr ermordetes Volk zu ehren und darauf aufmerksam zu machen, dass es heute wieder verarmt, isoliert, ausgegrenzt und ständig von staatlicher Willkür und Vertreibung bedroht wird. Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nazis eine halbe Million Angehörige der Roma und Sinti aus ganz Europa, fast neunzig Prozent.

Das Datum der Aktion solle zudem an den Roma-Aufstand im Konzentrationslager Auschwitz vom 16. bis 23. Mai 1944 erinnern. Damals hatten sich Tausende Insassen des "Zigeunerlagers" mit Steinen und Werkzeugen gegen die SS-Schergen zur Wehr gesetzt.

WSWS-Reporter sprachen am Montag mit zwei Teilnehmern des Protests, die uns gebeten haben, ihren Namen wegen der drohenden Abschiebungen nicht zu nennen. Sie berichteten noch voller Erregung über den nächtlichen Polizeieinsatz.

"Wir haben Respekt vor unserem ermordeten Volk"

"Wir wurden aufgefordert, den Gedenkplatz zu verlassen", sagte S., der schon länger in Deutschland lebt. "Es sei ein heiliger Ort für die Toten, und wir sollten Respekt vor den Toten zeigen. Wir haben vollen Respekt für unser ermordetes Volk! Eine halbe Million wurde auf bestialische Weise umgebracht. Für uns sind außerdem die Tage vom 16. bis 23. Mai Feiertag, und ich bin sehr traurig, dass ich auf der Gedenkstätte keine Blumen sehen kann. Wenn dieser Ort so heilig ist, dann sollen sie auch etwas tun. Keine Blumen - keine Aufmerksamkeit, so sehe ich das!"

Über das Verhalten offizieller Vertreter des Berliner Senats und des Bundestags, einschließlich der Oppositionsparteien, zeigte sich sein Freund K. enttäuscht. Auch der Grünen-Politiker Volker Beck und der innenpolitische Sprecher der Linken im Senat Hakan Tas hätten lediglich versucht, die Roma zur Beendigung ihrer Aktion zu drängen, ebenso der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, und Roman Franz vom Landesverband NRW, die sie telefonisch zur Aufgabe bewegen wollten.

"Alle, die von der Verwaltung und den Parteien da waren, wollten uns nur zureden, dass wir hier gehen sollten. Und am Ende haben sie der Räumung zugeschaut. Es gab keine Partei oder Initiative, die hinter uns gestanden und gesagt hätte: 'Wir bleiben mit euch hier'. Nur die Helfer standen zu uns, die zu keiner Organisation gehörten."

Am Nachmittag wurde der Zugang zum Gedenkort abgeriegelt, der Zugang zu den Toiletten abgeschnitten. Essen und Trinken erhielten die Roma nur dank einiger Unterstützer. "Die Lage war irgendwie sonderlich. ... Wir hatten eigentlich gerade gedacht, dass der Menschenverstand gewonnen hat, und wir dürften die Nacht hier verbringen und am nächsten Morgen alles in Ruhe regeln." Doch plötzlich habe sich die Situation geändert, und gegen Mitternacht wurde mit der Räumung begonnen.

"Sie haben vor allem versucht, die Männer auseinanderzutreiben. Meinen Bruder haben sie geschlagen, auf die Nieren. Er hat immer noch Schmerzen und auch einen verletzten Fuß. Meine Nichte wurde von einem jungen Polizisten an den Handgelenken brutal gezerrt und ihre Hände verdreht. Mein 14-jähriger Neffe wurde festgenommen und in einen Polizeiwagen gezerrt." Als er ihn mit seinem 7-jährigen Neffen unter dem Arm und Koffer und Laptop an der Hand holen wollte, handelte er sich selbst eine Anzeige wegen "Widerstands gegen die Staatsgewalt" ein.

In dem Gerangel hätten die Kinder geweint und geschrien. Eine Frau erlitt einen epileptischen Anfall. "Sie und ihr Mann haben sich vor Verzweiflung in den Brunnen des Mahnmals geworfen. Sie sehen keinen Ausweg mehr, sie haben schon den Abschiebebefehl erhalten. ... Unser Volk hat keine guten Erfahrungen mit der Polizei, und das wiederholte sich gestern erneut", resümierte S. "Wir Roma sind Staatenlose. Wir werden manchmal für eine Weile geduldet und dann überall wieder abgeschoben. Wir sind überall Ausländer."

"Auf dem Balkan gehen unsere Kinder auf die Müllhalden statt in die Schule"

S. schilderte der WSWS die verzweifelte Situation für Balkanflüchtlinge, die in ihrer großen Mehrheit der Minderheit der Roma angehören. "In den 50er Jahren hat die Bundesregierung versprochen, Sinti und Roma in Deutschland als Bürger anzuerkennen und uns ein dauerhaftes Bleiberecht und eine Lebensperspektive zu geben. Damit sollte das Unrecht des Faschismus gegen unser Volk anerkannt werden. Doch das Versprechen der Bundesregierung wurde bis heute nicht eingelöst."

Seit die Balkanroute komplett gesperrt ist, kommen kaum noch Roma nach Deutschland. Sie werden in Sonderlagern in den osteuropäischen Staaten festgehalten, bis ihr Asylantrag nach zwei bis drei Wochen abgelehnt ist, und sofort zurückgewiesen. "Die Familien, die jetzt von Deutschland abgeschoben werden, leben hier teilweise schon über 20 Jahre, haben hier ihre Kinder hochgezogen. Die Kinder haben die deutsche Sprache erlernt und besuchen die Schule. Sie können die Sprache der Roma nicht sprechen. ... Wenn sie abgeschoben werden, ist die Bildung für sie vorbei. Und ein Volk ohne Bildung ist kein Volk."

In den Balkanländern seien die Roma isoliert und hätten keine Möglichkeit, die Kinder in die Schule zu schicken. Neunzig Prozent der Erwachsenen könnten nicht lesen und schreiben, müssten täglich ums Überleben kämpfen, und auch die Kinder müssten arbeiten. "Kaum ist ein Kind groß genug, um ein kleines Papier aufzuheben, schon muss es mitarbeiten. Sie gehen auf die Müllhalden statt in die Schule. ... Das ist eines unserer wichtigsten Gründe für diese Kundgebung: Wir versuchen, unseren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen."

Erst im vergangenen Monat, am 8. April, fand die Gedenkveranstaltung zum ROMA DAY am Berliner Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma statt. Bundespräsident Joachim Gauck, die Bundestagsvizepräsidentinnen Petra Pau (Die Linke) und Claudia Roth (Grüne), Uwe Neumärker von der Stiftung Denkmal und weitere prominente Politiker bekundeten hier ihre Solidarität mit den Roma und Sinti.

Die Abschiebepolitik und der Einsatz des Polizeistiefels in Berlin gegen einen friedlichen Roma-Protest am selben Ort zeigen, was von solchen Worten zu halten ist.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 26.05.2016
Berlin: Massiver Polizeieinsatz gegen Roma
http://www.wsws.org/de/articles/2016/05/26/roma-m26.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2016

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