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GRASWURZELREVOLUTION/1023: Interview - Repression gegen Antimilitaristen in Israel


graswurzelrevolution 340, Sommer 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

INTERVIEW
"Nun sind wir an der Reihe"

Repression gegen AntimilitaristInnen in Israel
Ein Interview mit Sergeiy Sandler von New Profile.  


Kriegsdienstverweigerung (KDV) und Antimilitarismus sind in Israel emotional hoch aufgeladene Themen und VerweigerInnen haben mit harten Strafen zu rechnen. Nun hat diese Repression einen neuen Höhepunkt erreicht, indem versucht wird, die Arbeit der antimilitaristisch-feministischen Gruppe New Profile, die ebenso wie die Graswurzelrevolution (GWR) mit der War Resisters' International (WRI) assoziiert ist, zu kriminalisieren. Ende April wurden die Wohnungen mehrerer New Profile-AktivistInnen durchsucht und mehrere von ihnen vorübergehend festgenommen. Unter den Festgenommenen war auch Sergeiy Sandler, Mitglied des Internationalen Rates und des Vorstandes der WRI.
(Red.)


GRASWURZELREVOLUTION: New Profile wurde in letzter Zeit vom Staat mit vielen Problemen konfrontiert. Wie ist es um die antimilitaristische und KDV-Bewegung - angesichts des jüngsten Krieges in Gaza und der andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete - in Israel bestellt?

SERGEIY SANDLER: Sie geht ihren Weg. Wir machen unsere Arbeit weiter und hatten sogar, wenn man so will, einen Adrenalinstoß erhalten durch die jüngsten Ereignisse.

Seit einigen Jahren hat sich bei jungen linken AktivistInnen in Israel einiges getan in Bezug auf die Verweigerung des Militärdienstes. Kriegsdienstverweigerung war vor fünf Jahren ein großes Thema, nun aber denken viele junge AktivistInnen, dass es Kämpfe gibt, die wichtiger sind, wie z.B. die Solidaritätsarbeit mit PalästinenserInnen gegen die Apartheidmauer [1]. Relativ wenige entscheiden sich heute für eine öffentliche Konfrontation mit dem Militär als KriegsdienstverweigerInnen. Die Mehrzahl versucht, die Freistellung vom Armeedienst so einfach wie möglich zu erreichen - meistens mittels medizinischer Gründe - um dann weiterzumachen.

Trotzdem gibt es eine befriedigende Anzahl offener KriegsdienstverweigerInnen und auch eine Erklärung zur kollektiven Verweigerung - der Offene Brief der Shministim 2008. Einer der UnterzeichnerInnen geht momentan im Militärgefängnis ein und aus.

Es gab auch eine gute Reaktion der KDV-Bewegung in Israel auf den Angriff auf Gaza. Normalerweise dauert es bei Kriegen mehrere Monate, bis eine Verweigerungswelle als Antwort auf den Krieg hereinbricht. Diesmal gab es schon eine heftige Reaktion innerhalb der ersten zwei Wochen - zumeist von ReservistInnen. Die Armee vermied es, sich auf eine Konfrontation mit den VerweigerInnen einzulassen, weshalb nur eine Person ins Gefängnis gesteckt und eine andere für zwei Tage eingesperrt wurde.

GRASWURZELREVOLUTION: Mit welchen Themen setzt sich New Profile gerade speziell auseinander?

SERGEIY SANDLER: Wir betreiben Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, um den Militarismus in der israelischen Gesellschaft zu dokumentieren und zu enthüllen.

Der Militarismus ist ungezügelt und allgegenwärtig und zwar in einem Ausmaß, dass die meisten Israelis nicht erkennen, dass etwas falsch läuft. Israel ist eine Armee, die einen Staat hat, vergleichbar mit Preußen. Wir verbreiten alternative Informationen über die Okkupation Palästinas und andere verwandte Themen. Zudem unterstützen und beraten wir offene KDV wie auch nicht offene oder "graue" Formen der Verweigerung, also Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen dazu entschließen, sich nicht einberufen zu lassen oder das Militär zu verlassen. Wir denken, dass dies ihr Recht ist, egal, welche Gründe sie hierfür haben mögen. Mir persönlich ist es ziemlich egal, von welcher Motivation sie getrieben wurden, um zu dem Schluss zu kommen, ihre Mitmenschen nicht zu töten. Jedes Motiv ist hierbei zu begrüßen.

In einer Gesellschaft, die derart militarisiert ist wie jene Israels, mit der ständigen Präsenz des Militärs in Bereichen der Kultur und im Schulsystem - sogar in Kindergärten! -, ist es nie eine triviale Angelegenheit, wenn sich Jugendliche dazu entschließen, sich der Einberufung zu entziehen. Es ist immer ein Akt der Missachtung und des Widerstands gegen die militarisierte Gesellschaftsordnung. Solche Akte gilt es von unserer Seite zu unterstützen.

GRASWURZELREVOLUTION: Am 25. April wurden Wohnungen von New Profile-AktivistInnen durchsucht, sechs AktivistInnen wurden verhört. Seither wurden sechs weitere verhört und einigen wird das womöglich noch bevorstehen. Was ist der Grund dafür, dass der Staat mit solchem Nachdruck versucht, New Profile zu kriminalisieren?

SERGEIY SANDLER: Über die Motive kann ich nur Vermutungen anstellen. Aber eine Vermutung, die ich habe, hat damit zu tun, dass die Arbeit von New Profile im Grunde genommen erfolgreich ist. Die Einberufungen zur Armee sinken konstant. Zur Zeit befinden wir uns bei rund 50 % unter allen 18-jährigen israelischen StaatsbürgerInnen. Hinzu kommt eine signifikante Zahl von Personen, die früher aus der Armee ausscheiden. Der einst für jüdische Männer obligatorische Reservedienst ist eigentlich schon Vergangenheit. Dies ist die Folge eines sich lange entwickelnden demographischen und sozialen Trends und vielleicht noch mehr eine Folge der Einberufungskriterien der Armee selbst. Z.B. werden palästinensische StaatsbürgerInnen Israels nicht einberufen, obwohl sie per Gesetz eigentlich ebenso dazu verpflichtet sind. New Profile und andere Gruppen leisteten hierzu auch ihren Beitrag. Ich würde schätzen, dass ca. 20.000 Menschen in Israel jedes Jahr ihre Entlassung oder Ausmusterung aus der Armee in die Wege leiten. Von diesen Menschen kontaktieren uns ungefähr 10 % und viele mehr lesen vermutlich unser Infomaterial und unsere Website und benutzen diese, ohne uns zu kontaktieren.

Hier sollte auch noch eine weitere Gruppe erwähnt werden, welche zwar nicht wirklich eine politische Bewegung ist, aber von der Polizei gemeinsam mit uns angegriffen wurde: Sie heißt Target 21 - "profile 21" ist der Code, den das Militär für Menschen verwendet, die aus medizinischen Gründen ausgemustert werden. Target 21 ist eine Website in Russisch und Hebräisch, wo man Informationen darüber findet, wie man am besten eine Freistellung durch ein psychologisches Gutachten erhält. Die Personen, die diese Website betreiben, sind sehr darauf bedacht, dass ihre Identitäten geheim bleiben, weshalb auch wir nicht wissen, wer dahinter steckt. Sie haben teilweise Leute an uns verwiesen und wir haben einen Link zu ihrer Website online gestellt. Das ist nun einer der Hauptgründe, weshalb die Polizei hinter uns her ist.

Wenn man die Menschen zählt, die unsere und ihre Website aufrufen und unser Infomaterial lesen, kann gesagt werden, dass wir etwas verändern. Es ist nicht so, dass die israelische Armee zu wenig SoldatInnen hätte. Sie haben faktisch mehr als sie brauchen können, aber das militärische Oberkommando ist böse auf uns, weil wir laut kundtun, dass es legitim ist, sich nicht einberufen zu lassen, und weil wir ihr Bild des beliebten Kriegshelden unterminieren, der dann nahtlos von der Armee in die verschiedenen Abteilungen der israelischen Politik und Wirtschaft überwechseln kann. Sie bestehen auch darauf, bestimmen zu dürfen, wer unter den Jugendlichen Israels wohin geschickt wird. Sie wollen jene, die sie als "qualitativ hochwertiges Menschenmaterial" betrachten, in der Armee, während sie den Rest draußen haben wollen.

Das Militär hat im Grunde genommen einen signifikanten Einfluss auf die sozialen Strukturen und auf verschiedene Formen von Ungleichbebandlung und Diskriminierung in Israel, und das militärische Oberkommando will offensichtlich auch, dass das so weitergeht.

GRASWURZELREVOLUTION: Wie lauten die Vorwürfe gegen New Profile bzw. gegen jene AktivistInnen, die in Gewahrsam genommen wurden?

SERGEIY SANDLER: Die Vorwürfe lauten "Anstiftung zur Umgehung der Einberufung" und "Beihilfe zur betrügerischen Beschaffung einer Freistellung vom Militärdienst". Es gibt verschiedene Gesetze, die unter dieser Überschrift versammelt sind. Die Anschuldigungen fokussieren sich also auf unsere Unterstützung von KriegsdienstverweigerInnen.

GRASWURZELREVOLUTION: Wie werden sich diese Kriminalisierungskampagne und die Repression gegen New Profile weiter entwickeln?

SERGEIY SANDLER: Wir werden sehen. Offensichtlich hat die Staatsanwaltschaft, angestachelt vom Rechtsanwalt des Militärs, großes Interesse daran, unseren Fall weiter zu verfolgen, weshalb wir - entweder Individuen und/oder New Profile als Organisation - uns womöglich irgendwann vor Gericht verantworten müssen. Uns wurde mehr öffentliche Unterstützung zuteil, als wir es erwartet hatten. Ein Gerichtsverfahren, wenn es soweit kommen sollte, würde also auch eine gute Gelegenheit sein, wichtige Themen ins öffentliche Bewusstsein zu tragen.

GRASWURZELREVOLUTION: Ist es nur die Gruppe New Profile, die so große Schwierigkeiten hat, oder sind auch andere Organisationen, die KDV unterstützen, wie z.B. Yesh Gvul, in Bedrängnis?

SERGEIY SANDLER: Yesh Gvul hatte schon seine eigene Phase von Polizei-Schikane in den frühen 1990er Jahren. Es gab damals auch Verhöre, diese hatten aber kein Gerichtsverfahren zur Folge. Im Januar wurde einem der Organisatoren von Courage to Refuse, Noam Livneh, mit einem Gerichtsverfahren gedroht, weil er seinen Reservedienst im Gazastreifen verweigert hatte, aber auch hier wurde die Drohung nicht Realität. Nun sind wir an der Reihe und wie es zur Zeit aussieht, scheint es doch etwas ernster zu sein.

Außerhalb des Kreises der Gruppen, die KriegsdienstverweigerInnen unterstützen, sieht es schon trostloser aus. AktivistInnen, die sich bei Demos und Aktionen gegen die Besatzung engagieren, speziell jene, die mit PalästinenserInnen in der Westbank zusammenarbeiten, werden häufig kriminalisiert. Normalerweise wird ihnen vorgeworfen, PolizistInnen tätlich angegriffen zu haben, wenn es in Wirklichkeit die PolizistInnen waren, die gewalttätig gegenüber den AktivistInnen waren. Einer dieser AktivistInnen, Ezra Nawi, wird womöglich bald eine Gefängnisstrafe antreten müssen. [2] Palästinensische AktivistInnen - ob BürgerInnen Israels oder BewohnerInnen der Westbank oder des Gazastreifens - werden am strengsten bestraft, härter als es irgend jemandem von uns in naher Zukunft treffen könnte.

GRASWURZELREVOLUTION: Warum seid ihr gerade jetzt diesen Angriffen des Staates ausgesetzt? Hat es möglicherweise etwas mit der neuen, rechtsgerichteten israelischen Regierung zu tun?

SERGEIY SANDLER: Ich bezweifle, dass der Regierungswechsel hiermit viel zu tun hat. Die Entscheidung, diese Untersuchungen einzuleiten, wurde vor einem halben Jahr getroffen, also noch unter der alten Regierung.

Eigentlich sind in Israel alle Regierungen rechtsgerichtet. Die Linke hier - wenn wir großzügige Kriterien dafür anlegen, wer als links gilt - hat lediglich um die 10 % der Sitze im Parlament, hat noch nie eine Regierung geformt und wird dies in der Zukunft vermutlich auch nicht tun. Wir sind da ein bisschen wie Bayern, wenn auch noch weiter rechts. Von dem aber einmal abgesehen, ist es ohnehin nicht die Regierung, die entscheidet. Es ist das Militär. Tatsächlich wurden die Untersuchungen gegen uns aufgenommen aufgrund der expliziten und öffentlichen Aufforderung des Anwaltes des Militärs und dieser ist in die Untersuchungen involviert.

Der Zeitpunkt dieses Angriffes auf uns hängt mit anderen Faktoren zusammen. Vor einigen Jahren kamen die KommandantInnen des Militärs zu dem Schluss, dass die stetig fallenden Zahlen von Einberufungen ihr öffentliches Ansehen beschädigten, obwohl sie ja nicht einmal diese Masse an SoldatInnen gebrauchen können, die sie rekrutieren. Die israelische Armee hat teilweise ihren Glorienschein der "Volksarmee" verloren und das militärische Fiasko im Libanon 2006 war für das Image der Militärkommandantur schlecht.

Um ihr Ansehen wieder zu erlangen, wurden nun verschiedene Prozesse eingeleitet. Ein Teil davon war der in Israel beliebte und PR-technisch erfolgreiche Angriff auf Gaza - was soll's, wenn dabei mehr als eintausend ZivilistInnen brutal getötet werden? Viele Israelis beklatschen jegliche Art mörderischer Brutalität gegen die PalästinenserInnen.

Ein weiterer Teil dieses Prozesses war eine konstante Kampagne gegen die Umgehung des Militärdienstes. Ein Aspekt dieser Kampagne war, dass JournalistInnen - mit Informationen über unsere Website versorgt wurden, welche diese dann in ihren Artikeln "aufgedeckt" haben, wobei ich mich frage, was es da aufzudecken gibt, da die Inhalte unserer Website für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind. Diese Geschichten in den Medien wurden als Vorwand benutzt, um Anzeigen gegen uns einzureichen. Das hat möglicherweise zu dem Verfahren geführt.

GRASWURZELREVOLUTION: Wie können euch Menschen ans dem Ausland unterstützen?

SERGEIY SANDLER: Über die Vorfälle zu berichten, ist ein sehr wichtiger Aspekt, und die öffentliche Aufmerksamkeit in den eigenen Gesellschaften zu wecken, ein weiterer. Es könnte auch sinnvoll sein, auf die verschiedenen israelischen Behörden Druck auszuüben, ebenso wie finanzielle Unterstützung, damit wir unsere Anwalts- und Informationskosten decken können. Wir haben auf unserer Website ein Dokument zusammengestellt mit Hintergrundinformationen und Details über diverse Möglichkeiten, aktiv zu werden. (3)

Interview: Sebastian Kalicha


[1] Anm. den GWR-Setzers BD:
Die Bezeichnung "Apartheidmauer" für die von Israels Regierung errichtete Barriere ist in der dortigen Friedensbewegung nicht unüblich. Das aus dem Burischen kommende Wort "Apartheid" bedeutet Trennung" und steht für die rassistische Politik in Südafrika unter der burischen Herrschaft. Eine Gleichsetzung des südafrikanischen Apartheidregimes mit Israel ignoriert m.E. die politischen und historisches Unterschiede. Mit welchen Argumenten die Diskussion in Israel geführt wird, ist in der Einleitung des von Sebastian Kalicha herausgegebenen Buches "Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus (Verlag Graswurzelrevolution 08) zu lesen.

[2] Anm. das Interviewers SK:
Ezra Nawi ist ein jüdisch-israelischer Aktivist bei Ta'ayush und vor allem aktiv gegen SiedlerInnengewalt in der Region Hebron. Anfang Mai 2009 wurde er verhaftet, als er den Abriss eines palästinensischen Hauses durch die israelische Armee zu verhindern versuchte. Mehr Infos und ein Video sind im Artikel von Neve Gordon im Guardian zu finden:
www.guardian.co.uk/commentisfree/2009/may/06/israel-human-rights-police

[3] Siehe: www.newprofile.org/english/?p-102


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 340, Sommer 2009, S. 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2009