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GRASWURZELREVOLUTION/1118: Widerstand gegen Neonazis in Bulgarien


graswurzelrevolution 351, September 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Widerstand gegen Neonazis in Bulgarien

"HORA (1)", eine Bürgerinitiative gegen Neonazismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Widerstand gegen Neonazis in Bulgarien


Am 06.06.2010 wurden in einer Straßenbahn in Sofia fünf Jugendliche auf dem Weg zu einem friedlichen Protest gegen die illegale Festnahme von MigrantInnen im "Speziellen Heim für zeitliche Unterkunft von illegalen Einwanderern - Busmantzi" brutal verprügelt. Infolgedessen musste einer von ihnen am Arm operiert werden und ein anderer wurde mit gravierenden Kopfverletzungen im Krankenhaus untergebracht. Einige Tage später hat die Polizei die Täter eines vor 2 Jahren vollzogenen Mordanschlags gestellt, bei dem ein Medizinstudent ermordet worden war, weil er "wie ein Schwuler ausgesehen" habe. In der gleichen Woche wurden Roma-BürgerInnen auf dem Rückweg von einem Konzert im Zentrum von Sofia von einer Gruppe Skinheads mit Schlagstöcken attackiert. Dies sind nur Beispiele aus einer Woche, die belegen, dass der Neonazismus in Bulgarien zunimmt.


Die NS-Sympathisanten handeln nicht erst seit heute. Von niemandem gestoppt, konnten sie bisher im öffentlichen und privaten Raum agieren. In vielen Städten finden sich mittlerweile viele geschmierte Hakenkreuze und Parolen wie z.B. "Juden raus", "Alle Türken ins Massengrab", "Bulgarien über alles", "NS", auf den Straßen, auf Grabsteinen, auf den Wänden von Schulen und religiösen Stätten.

Im November 2009 wurde auf die Wände der Moschee in der Stadt Plovdiv "Allah ist ein Schwuler" und "Allah störe nicht" zusammen mit einigen Swastika gesprüht. Direkt im Zentrum der größten Schwarzmeer-Stadt (Warna) können Porzellantassen mit dem Antlitz von Hitler, anderen Naziführern und Hakenkreuzen gekauft werden. Antisemitische und faschistische Literatur wird offen verbreitet, fremdenfeindliche Stimmung wird auf Pro-Nazi-Websites wie bg.altermedia und nsaprotiva propagiert. u.a. T-Shirts mit stark nationalistischen, revanchistischen und rassistischen Symbolen werden verkauft (z.B. "Bulgarien an drei Meeren" als Hinweis auf die Zeit als der bulgarische Staat ans Schwarze, Ägäische und Adriatische Meer angrenzte, oder das Zeichen "88", das Ziffer-Äquivalent für Heil Hitler).

Neonazistische Versammlungen finden ungehindert statt, wie z.B. die von der Sofioter Gemeinde gestatteten Straßenumzüge der Organisation "Blood and Honour", der jährliche Lukov-Straßenumzug (General Lukov war ein Sympathisant von Nazi-Deutschland und Kriegsminister in den 30er Jahren) usw.. Im September 2009 wurde ein geheimes Treffen von Neonazis in Assenovgrad durchgeführt, verschleiert als Rock-Konzert, wo faschistische Ideologien propagiert wurden.


Die Liste mit Beispielen für Neonazi-Aktivitäten ist lang

Offene Anhänger von neonazistischen Ideologien in Bulgarien sind neben den schon erwähnten "Blood and Honour" auch die Organisationen "Nazionalna Saprotiva" (Nationaler Widerstand), die Bewegung "BNS-Gwardija" (Bulgarische Nationalallianz - Nationalgarde), die an den Parlamentswahlen in 2005 und 2009 teilgenommen hat, sowie die Nazi-Skinheads und die Fanklubs der großen Fußballmannschaften (z.B. die sog. Ultras bei der Mannschaft "Levski"). In einem durch das Internet bekannt gewordenen Videoclip ist sogar zu sehen, wie ein kommunaler Mitarbeiter in der Stadt Stara Zagora zusammen mit einem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister Hitlers Geburtstag am 20. April feiern. Die beiden schneiden eine Torte mit Swastika an, und hinter ihnen hängt ein Porträt von Adolf Hitler.

Politische Parteien wie "Ataka" (Attacke) und "WMRO" (Innere mazedonische revolutionäre Organisation) ihrerseits spornen diesen Trend mit ihren nationalistischen und fremdenfeindlichen Positionen zusätzlich an. Neulich hat die Partei WMRO eine nationale Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen den EU-Beitritt der Türkei unter dem Motto "7 Millionen Bulgaren in der EU gegen 70 Millionen Türken" durchgeführt; das "Anliegen" wurde mit 320.000 Unterschriften ins Parlament eingebracht!

Kennzeichnend für die neonazistische Bewegung hier ist der Wunsch, den Nationalsozialismus als Ganzes oder einige konkrete (pro)nazistische Organisationen aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (z.B. die faschistische Allianz der bulgarischen Nationallegionen) reinzuwaschen.

Als Motivation dient ein ethnisch motivierter Patriotismus, der Verweis auf die idealisierte bulgarische Vergangenheit, die Ablehnung des pluralistischen politischen Dialogs und die Suche nach der sozialen und ökonomischen Wohlfahrt des "Volkes". Als "Feinde" betrachten die Neonazis heute die Türken (9,4% der Bevölkerung nach Angaben von 2001 (2)), Roma (4,7% der Bevölkerung), Juden und AusländerInnen.

Menschen überfallen sie wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer politischen Ansichten. Nicht zuletzt wird häufig eine antikommunistische Rhetorik vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Negierung des Kommunismus benutzt. Dies ist eine grundsätzliche ideologische Linie, hat aber auch das Ziel, nazistische Anhänger aus der Zwischenkriegs- und Kriegszeit durch ihre Erklärung für antikommunistische patriotische Helden zu rehabilitieren.


Es existieren große Ähnlichkeiten und enge Verbindungen zwischen den bulgarischen Neonazis und deren "Gleichgesinnten" in Europa - sei es in der Form einer ideen- und habituellen Nachahmung, sei es in Form gemeinsamer Aktionen.

Der bulgarische "Nationale Widerstand" imitiert die deutschen "autonomen Nationalisten" sowohl rhetorisch (Benutzung der Devise "Frei, Sozial, National"), als auch stilistisch - Tragen von schwarzer Kleidung während politischer Veranstaltungen usw.. Die Bewegung "BNS-Gwardija" ist Beobachter in der Europäischen nationalen Front, einer paneuropäischen Allianz der neonazistischen politischen Bewegungen auf dem Kontinent.

Mitglieder sind "Deutsches Kolleg, NPD und Freier Widerstand, der belgische Vlaams Blok, die spanische La Falange, gegründet noch vom Diktator Franko, die französische Guarde Franque, die rumänische Noua Dreapta (Neue Rechte) und die niederländische Nationale Alliantie" (3). An neofaschistischen Umzügen nehmen häufig "Gäste" aus Deutschland, Rumänien, Italien und der Schweiz teil.

Die Ursachen für das Auftreten und Wachsen neofaschistischer Gruppierungen sind komplex. Sie reichen von der vererbten, in der bulgarischen Gesellschaft stark ausgeprägten ethnonational-etatistischen Tradition des Definierens der eigenen und der fremden Identität, über die nicht verwirklichte umfassende Demokratisierung des öffentlichen Raums in den letzten 20 Jahren.

Hinzu kommt die prekäre ökonomische und soziale Situation großer Teile der Bevölkerung heute infolge lokaler und globaler Wirtschaftsprozesse, und natürlich spielen auch enge parteipolitische Interessen eine Rolle. Dazu ist die Auswirkung von spezifischen individuellen- und Gruppenfaktoren wie der Notwendigkeit von sozialer Zugehörigkeit, Selbstdarstellung- und Verwirklichung zu erwähnen. Eine besonders besorgniserregende Konsequenz des Einflusses aller dieser Faktoren ist das Nicht-Erkennen des Phänomens Neonazismus in Bulgarien als solches und der Mangel an gesellschaftlichen und individuellen Gegenreaktionen im Allgemeinen.

Beunruhigt von dieser Ignoranz haben sich nach dem Überfall vom 6. Juni 2010 Menschenrechtsorganisationen, NGOs, Bürgerverbände und Einzelpersonen zur Initiative gegen Neonazismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit "HORA" zusammengeschlossen, um die Gesellschaft aufzurütteln dieses ernsthafte Problem zu benennen und anzugehen. Die antihumane und antidemokratische neonazistische Ideologie und Praxis sollen verurteilt werden!

Nach der Gründung und der öffentlichen Ankündigung einer gemeinsamen Plattform der neu ins Leben gerufenen Initiative wurde ein spontaner Flashmob im Zentrum von Sofia initiiert, wobei eine der meistbefahrenen Kreuzungen während der Rushour blockiert wurde. Danach wurde eine Pressekonferenz zum Thema mit breiter gesellschaftlicher Teilnahme organisiert, gefolgt von Auftritten im Radio, Fernsehen und in der Presse. Am 1. Juli fand die Aktion "Lasst uns die Wände des Hasses reinigen!" statt.

Dabei wurden Hakenkreuze und rassistische und xenophobe Schriften von den Wänden einer Sofioter Schule entfernt. Die TeilnehmerInnen trugen medizinische Kleidung und wollten symbolisch zeigen, dass es um die Heilung einer gesellschaftlichen Krankheit geht. Weitere Initiativen werden geplant.

Eine Konsequenz der unternommenen Aktionen zeigt sich in der erstmaligen Bereitschaft vieler Medien, den Neonazismus erstmals zu benennen und ihn nicht als eine "Randalierer-Tat" zu verkennen. Im Parlament steht die formelle Annahme einer (sehr soften) Erklärung gegen Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit bevor. Es wird intensiv über die Notwendigkeit diskutiert, die Gesetzgebung über Verbrechen aus ethnischen, religiösen, politischen und sexuellen Motiven zu konkretisieren, zu ändern und vor allem entsprechend anzuwenden.

Bis jetzt haben sich noch nicht viele Menschen der Initiative angeschlossen. Eine breite öffentliche Debatte konnte sich bisher noch nicht entfalten.

Und Institutionen wie die Regierung, die Sofioter Gemeinde usw. haben keine offizielle Position eingenommen. Vielmehr haben wir laut Innenminister Tzvetan Tzvetanov am 6. Juni einen "Zusammenstoß zwischen anarchischen linken und rechten Gruppierungen" beobachtet.

Diese Tatsachen sowie der internationale Charakter der neonazistischen Bewegung zeigen die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Gegenreaktion. Die Initiative HORA wird sich über Eure Unterstützung durch die Verbreitung der hier vorgelegten Information oder anderswie freuen!

Bitte unterschreibt unsere Plattform gegen den offenen und versteckten Rassismus, Neonazismus und die politisch motivierte Gewalt
http://www.petitiononline.com/nichtnaz/petition.html

Initiative HORA


Email: stopnazi.bg@gmail.com
URL: http://stopnazi-bg.blogspot.com/


Anmerkungen:

(1) Die Abkürzung entspricht der bulgarischen Abbreviatur für "Menschen gegen Rassismus"

(2) Wikipedia: Bulgarien: Bevölkerung, Stand 27.07.2010, abg. am 31.07.2010.

(3) Âæ. Papakotschev, Georgi (Deutsche Welle). "Bulgarokraten werden die Bewegung "Gwardija" (Nationalgarde) gründen. In:
http://www.bghelsinki.org/index.php?module=pages&lg=bg&page=obektiv12905
abg. am 29.07.2010


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 351, September 2010, S. 13
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
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Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2010