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GRASWURZELREVOLUTION/1162: Schwestern zur Sonne! Zur Freiheit!


graswurzelrevolution 357, März 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Schwestern zur Sonne! Zur Freiheit!
100 Jahre Internationaler Frauentag aus der Sicht von Anarchafeministinnen

Von Sigrid Lehmann-Wacker


Die "Diskriminierung der Frau" wird wie folgt definiert: "Jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge oder zum Ziel hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau - ungeachtet ihres Familienstands - im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird".


Der Internationale Frauentag oder kurz "Weltfrauentag", der am 8. März 2011 sein 100-jähriges Bestehen feiert, wird weltweit von Frauenorganisationen gefeiert. Mit diesem Tag sind Fortschritte und bittere Rückschläge der Frauen- sowie der ArbeiterInnenbewegung verbunden. Zeitweilig unterdrückt, verboten und dann wieder einfach nur vergessen, symbolisiert dieser Tag ursprünglich weit mehr als die Durchsetzung fundamentaler Frauenrechte.

In der Tradition dieses Tages stand die Utopie einer befreiten Gesellschaft, in der die Unterdrückung von Menschen durch Menschen überwunden und die Möglichkeiten zu einer selbstbestimmten Entfaltung und Entwicklung erreicht werden können.

Diese Vision schloss Männer nicht aus, sondern als Kämpfer gegen ausbeuterische Obrigkeitsverhältnissen mit ein. Es wundert nicht, dass der Weltfrauentag bei diesen "unerhörten" Anliegen zwischenzeitlich immer wieder historisch umgedeutet, Repressionen ausgesetzt oder schlicht verboten wurde.


Konstitution des Internationalen Frauentages

1910 brachte Clara Zetkin auf der zweiten internationalen sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen den Antrag ein, einen internationalen Frauentag ins Leben zu rufen. 100 Frauen aus 17 Nationen beschlossen auf der Konferenz, "alljährlich einen Frauentag zu veranstalten", der einen "internationalen Charakter" haben sollte. Im Fokus standen der Kampf um das Frauenwahlrecht, sowie bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, wozu Mutterschutz, ein 8-Stunden-Tag als auch das Recht auf Bildung und Frieden zählten. Der erste Internationale Frauentag wurde schließlich 1911, damals noch am 19. März, in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn, der Schweiz und den USA gefeiert. Andere Länder folgten bald.


Verbot des Internationalen Frauentages während des Ersten und Zweiten Weltkrieges

Der Internationale Frauentag wurde während des Ersten Weltkriegs verboten, stand aber am 8. März 1917 wieder auf, nachdem die frisch gegründete USPD seine Fortführung organisierte. Den aufständischen Arbeiter- und Bauernfrauen zu Ehren, welche mit ihrem Streik am 8. März 1917 die Februarrevolution in Sankt Petersburg auslösten, wurde auf der Zweiten Internationalen Konferenz kommunistischer Frauen 1921 in Moskau ein internationaler Gedenktag eingeführt.

Während des Kalten Krieges passten sozialistische bzw. kommunistische Herleitungen des 8. März nicht mehr in die Ideologien der westlichen Länder. Ein neuer Ursprungsmythos besagte nun, dass ein spontaner Streik von Textilarbeiterinnen, der sich am 8. März 1857 in New York ereignet haben soll, dieses Datum begründen sollte. Diese Theorie ist von Historikerinnen inzwischen widerlegt.

Zwischen 1933 und 1945 wurde der Internationale Frauentag von den Nationalsozialisten verboten. Dafür wurde der Muttertag zu einem offiziellen Feiertag erklärt. In der DDR verkam der einstmals widerständige Frauentag dann zu einer Art selbstgefälligen "DDR-Muttertag": Es war ja angeblich schon alles erreicht...

Auch in Westdeutschland verflachte nach und nach die ursprüngliche Bedeutung dieses Tages. 1994 erlebte der Weltfrauentag zum sogenannten "FrauenStreikTag" ein Comeback; teilweise wieder verlorene Frauenrechte wurden (zurück) gefordert. Anlässlich des 100. Frauentages werden in fast allen Ländern der Welt Demonstrationen für Frauenrechte, Veranstaltungen, Vorträge und Feiern erwartet.


Ist denn nicht schon alles erreicht?

Erfolge der Frauenbewegung und der selbst mikroskopisch kaum wahrnehmbaren Männerbewegung sind seit den 1990ern in vielen Ländern wieder rückläufig: Abtreibungsgesetze werden verschärft, biologistisch begründete Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden betont, um Frauen wieder auf ihren "natürlichen" Platz in der zweiten Reihe zurückzupfeifen. Trotz zunehmender Gewalt an Frauen, bedingt durch das Elend, das weltweit zunehmend prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen mit sich bringen, schließen Frauenhäuser und enden andere Mädchen- und Frauen- wie auch Jungen- und Männerarbeit fördernde Projekte wegen Unterfinanzierung. Immer noch ist Häusliche Gewalt weltweit die häufigste Ursache von Verletzungen bei Frauen. Jeden Tag werden 6.000 (!) Mädchen dem grausamen "Ritual" der Genitalverstümmelung unterworfen. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs.

Frauenunterdrückung ist in ihren unzähligen Erscheinungsformen nicht immer offen erkennbar: Anzügliche und herabwürdigende Bemerkungen und taxierende Blicke zielen schon früh auf das Selbstwertgefühl von Mädchen. 1% des gesellschaftlichen Reichtums weltweit ist in Frauenhänden, dabei verrichten Frauen mit einschließlich allen speziell ihnen zugedachten Aufgaben wie Stillen, Kindererziehen, der Pflege älterer Menschen usw. etwa 75% aller gesamtgesellschaftlich relevanter Arbeit. Frauen übernehmen die weniger abwechslungsreichen, prestigeträchtigen und schlechter entlohnten Arbeiten.


Die heutige Situation

Die autonome Frauenbewegung entstand in den 1970er Jahren. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Unabhängigkeit von Männern und Parteien. In dieser Bewegung wird der Funktion eines von "oben" aufoktroyierten Frauentages von jeher misstraut. Nach Meinung vieler autonomer Frauen, wozu sich auch Anarchafeministinnen zählen, steht ein einziger symbolhafter Tag im Jahr im Widerspruch zu den halbherzigen Bemühungen aller Regierungen und auch der sogenannten Zivilgesellschaft, echte Geschlechtergleichheit zu erzielen.


Die rechtliche und die strukturelle Ebene von Sexismus

Anarchafeministinnen akzeptieren die Herrschaftsstrukturen in der Gesellschaft nicht. Nicht in der Familie, nicht in dem Zusammenleben mit anderen Menschen und auch nicht in Arbeitszusammenhängen, wie immer man auch Arbeit definiert. Ausgehend von der persönlichen Erfahrung mit ihrem Körper, ihren Beziehungen und ihrer eigenen Geschichte analysieren Anarchafeministinnen das Phänomen des Sexismus. Sie beschreiben Frauenleben aus ihrer eigenen Perspektive, ohne sich auf das ExpertInnenwissen von WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und MedienmacherInnen zu verlassen.

Während bürgerliche Feministinnen und Frauenrechtlerinnen Reformen innerhalb des bestehenden Systems anstreben, suchen Anarchafeministinnen nach radikaleren Strukturen, wie z.B. dem Leben und Arbeiten in Wagenburgen oder dem Aufbau einer weiblichen Gegenkultur.

Anarcha-Feminismus geht davon aus, dass es eine allgemeine Politik "für Frauen" nicht geben kann. Zu unterschiedlich sind Herkunft, Möglichkeiten und Träume einer jeden. Ein Charakteristikum des Anarchismus wird von den vielen Feministinnen geteilt: das Wirken in dezentralen kleinen Gruppen, die mit Konsensbeschluss arbeiten. Einige radikale Feministinnen sehen die Affinität zu herrschaftsfreien Umgangs- und Lebensformen als Schwächung der Frauenbewegung. Ihrer Meinung nach hätte mehr Führung der Frauenbewegung zu effektiveren Einflussmöglichkeiten verholfen. Für Anarchafeministinnen ist keine Form von Herrschaft tolerierbar und der Kampf gegen Herrschaft muss auf vielen verschiedenen Ebenen geführt werden.


Warum engagieren sich nicht mehr Frauen in politischen Verbänden?

Frauen wirken immer noch selten in politischen Verbänden mit, auch weil viele es mit Selbstverleugnung gleichsetzen würden, sich das gleiche dominante Redeverhalten aneignen zu müssen, um in gemischten Zusammenhängen in Diskussionen "mithalten" zu können. Eine Auseinandersetzung mit dem als typisch männlichen Politikstil zu bezeichnenden Verhalten ist nicht nur hinsichtlich der Beziehung zwischen Mann und Frau relevant, reflektiert er doch Herrschaftsstrukturen, mit denen auch Männer Probleme haben. Die etablierte Gleichstellungspolitik ist in ihrem Denken zu angepasst, um eine ernsthafte Bedrohung für die herrschende Ordnung darzustellen. Selbst mit einer Modernisierung des Geschlechterverhältnisses und einer besseren Integration in herrschaftliche Politikverhältnisse vergessen Anarchafeministinnen nicht, dass das ganze System auf Unterdrückung und Ausbeutung zielt.

Anarchafeministinnen teilen in der Regel nicht den bürgerlichen Fortschrittsglauben an eine allmähliche Demokratisierung der Gesellschaft. Gleichberechtigung auf juristischem Wege erreichen zu können. Diese Vorgehensweise erscheint ihnen lächerlich anhand der überhand nehmenden Technisierung und Bürokratisierung, die ihrer Meinung nach mehr Probleme schafften, als dass sie sie beseitigten. Festzuhalten ist, dass Diskriminierung kein Problem zwischen einzelnen Frauen und einzelnen Männern, sondern eins zwischen Dominierenden und Unterdrückten, ein Problem einer auf Hierarchie gegründeten Gesellschaft ist. Dies manifestiert sich auch darin, was Unterdrückung und Ausschluss von Homosexuellen, MigrantInnen und Armen betrifft.

Die "alte" Frauenbewegung, die in Deutschland zum ersten Mal um die 1848er Revolution sichtbar wurde, schöpfte ihre Kraft noch aus der umfassenden Berufung auf die Menschenrechte, nicht nur die der Frauen. Auch bei dem aktuellen Kampf um Menschenrechte in Tunesien und Ägypten haben Frauen wieder eine entscheidende Rolle gespielt (siehe Seite 1). Werden sie nun beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung wieder bei Seite gedrängt, wie so oft nach von ihnen mitgetragenen Revolutionen? Anarchafeministinnen wünschen sich mutige Männer und Frauen, die sich über den tolerierten Rahmen dieser patriarchalischen Gesellschaft hinwegsetzen und somit die herrschenden Zustände nachhaltig zum Tanzen bringen.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, 357, März 2011, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2011