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GRASWURZELREVOLUTION/1395: Ukraine bankrott


graswurzelrevolution 388, April 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Ukraine bankrott

von Nicolai Hagedorn



Einer der Gründe für die Wut vieler UkrainerInnen ist die wirtschaftliche Situation des Landes. Wie in den meisten Staaten des ehemals etatistisch-sozialistischen Ostblocks ist die nachholende Modernisierung grandios gescheitert.


Allein zwischen dem 23. und 25. Februar 2014 wurden rund 30 Milliarden Hryvnia von Ukrainischen Banken abgezogen. Das entspricht 2,3 Milliarden Euro oder 7 Prozent der gesamten Bankeinlagen auf ukrainischen Konten. So etwas nennt man landläufig einen "Bankrun".

Anfang März reagierten die Notenbanker in dem Land, das unterdessen zum Schauplatz der "größten europäischen Krise seit dem Mauerfall" geworden war, wie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte, mit Einschränkungen im Devisenhandel und Liquiditätshilfen für den heimischen Bankensektor. Der Verfall der Währung konnte so zumindest zwischenzeitlich gestoppt werden, nach einem Einbruch von rund 16 Prozent in zwei Monaten.

Sowohl die Kapitalabflüsse als auch die Währungsturbulenzen setzen das ohnehin bettelarme Land weiter unter Druck.

Bereits vor Ausbruch der Krise waren die Währungsreserven der Ukraine auf rund 18 Milliarden Dollar geschmolzen, bis Ende Februar 2014 verschärfte sich der Schwund um weitere 3 Milliarden Dollar. Die Ukraine, die seit 2005 wachsende Außenhandelsdefizite verzeichnet, ist faktisch zahlungsunfähig, allein im dritten Quartal 2013 erzielte das Land ein Defizit im Außenhandel von gut 7 Milliarden Dollar.

Der politische Auslöser der Proteste auf dem Maidan, die Weigerung des Präsidenten Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, ist vor diesem Hintergrund so unverständlich nicht, zumal die mächtigen ukrainischen Oligarchen an einer einseitig ausgerichteten Außenpolitik kein Interesse haben. Der russische Präsident Putin hatte im Gegensatz zur EU der Ukraine materielle Hilfe auf verschiedenen Ebenen zugesagt und Gaspreise subventioniert. EU und IWF hingegen beharrten auf ihren Forderungen nach Spar- und Marktliberalisierungsprogrammen.

Janukowytsch hatte sich unter anderem geweigert, die Energiesubventionen für Privathaushalte, die derzeit etwa 70 Prozent der privaten Energiekosten ausmachen, komplett abzuschaffen, wie vom IWF gefordert.

Anfang März verkündete der russische Gaskonzern Gazprom, ab April die Gaspreise für die Ukraine erhöhen zu wollen. Derzeit zahlt das Land einen Vorzugspreis von 268 US-Dollar für 1000 Kubikmeter Gas, dieser könnte sich ab April auf über 400 Dollar erhöhen.

Mit der nächsten Gasrechnung dürfte die ukrainische Bevölkerung also einen Vorgeschmack darauf erhalten, was eine Zusammenarbeit mit der EU bedeutet.

Dabei hat die Ukraine Schätzungen zufolge einen kurzfristigen Finanzierungsbedarf von rund 35 Milliarden Dollar, das zuletzt von der EU zugesagte Hilfspaket von insgesamt 11 Milliarden Euro dürfte bei weitem nicht ausreichen, um das Land nachhaltig vor dem Bankrott zu bewahren. Diese wie weitere in Aussicht gestellte Hilfsgelder wurden aber in einer Erklärung des EU-Präsidenten Barroso wie üblich unter dem Vorbehalt in Aussicht gestellt, dass die Ukraine "Reformen wolle".

Dabei ist das Land längst auch von den Zuwendungen des Westens abhängig. So steht die Ukraine mit rund 4,5 Milliarden US-Dollar beim IWF in der Kreide, während seit 2008 weitere in Aussicht gestellte IWF-Kredite in einem Gesamtvolumen von rund 32 Milliarden Dollar nach Janukowitschs Reformverweigerung eingefroren wurden. Der US-amerikanische Vertreter im IWF-Exekutivdirektorium, Douglas Rediker forderte, die neue Regierung in Kiew müsse "an das Programm glauben und beweisen, dass sie versteht, was für den Erfolg des Programms nötig ist - indem sie es umsetzt."

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Ignoranz die westlichen Kreditgeber ihre drakonischen Liberalisierungen und Einsparungen einfordern, obwohl gerade die Ukraine aufgrund genau solcher "Reformen" in den 90er Jahren einen großen Teil ihres wirtschaftlichen Leistungspotenzials einbüßte. Wie in den meisten anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurde der ukrainischen Wirtschaft der Privatisierungswahn der Nachwendejahre zum Verhängnis. Die neoliberale Privatisierungswelle sorgte für die Herausbildung einer Wirtschaftsoligarchie und einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von rekordverdächtigen 60 Prozent bis 1995.

Erst ein Jahrzehnt nach der Loslösung von der Sowjetunion erreichte die Ukraine wieder ein Wirtschaftswachstum, allerdings auf einem erbärmlichen Niveau und in erster Linie aufgrund eines Lohnniveaus, das inzwischen auf Drittweltniveau gefallen war. Laut Daten der Ukrainischen Statistikbehörde betrugen die monatlichen Durchschnittslöhne im Jahr 2000 rund 230 Hryvnia, das waren zu diesem Zeitpunkt umgerechnet knapp 50 Euro. Zwar haben sich Wirtschaft und Löhne seither erholt, allerdings in erster Linie aufgrund kreditfinanzierten Konsums und dank der Subventionierungen aus Russland. Heute gilt in der Ukraine ein monatlicher Mindestlohn von 1218 Hryvnia, umgerechnet rund 95 Euro, die Mindestrente, die ein Großteil der ukrainischen RentnerInnen bezieht, beträgt aktuell umgerechnet knapp 75 Euro monatlich.

Derweil berichtete die russische Tageszeitung Komersant von den Vorhaben der neuen ukrainischen Regierung, um die Anforderungen der westlichen Partner, also vor allem des IWF und der EU zu erfüllen.

Demnach sind Budgetkürzungen von bis zu 80 Milliarden Hryvnia, starke Kürzungen in den Bereichen Bildung, Soziales und bei den Renten geplant, ebenso wie eine Mehrwertsteuererhöhung.

Damit wird der Ukraine als Mittel gegen den drohenden Staatsbankrott genau die Medizin verschrieben, die zu der Misere erst geführt hat. Die weitere Hinwendung zum Westen dürfte die Bevölkerung mit verschärfter Armut bezahlen, während eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die im derzeitigen weltkonjunkturellen Umfeld nur über massive Investitionen in Forschung und Innovationen zu erzielen ist, in immer weitere Ferne rückt.

Die ukrainische Volkswirtschaft dürfte damit endgültig jede Eigenständigkeit verlieren und im besten Fall eine weitere "Werkbank des Westens" werden, wo zu Hungerlöhnen für westliche Märkte die Arbeiten gemacht werden, bei denen sich eine Automatisierung (noch) nicht lohnt.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 388, April 2014, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2014