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GRASWURZELREVOLUTION/1508: Frankreich - Noch mehr Krieg und noch mehr Bomben


graswurzelrevolution 402, Oktober 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Noch mehr Krieg und noch mehr Bomben

Frankreichs Antwort auf die Fluchtwelle ist an Zynismus kaum zu überbieten


Ostentativ stellte sich Präsident Hollande an die Seite Merkels. Das Land der Menschenrechte war jetzt gefragt: Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Denn der Beitrag Frankreichs zur Unterbringung der Flüchtenden ist im Vergleich geradezu lächerlich - und in seiner Kriegspolitik zynisch.
(GWR-Red.)


Während in der BRD rund eine Million Geflüchtete für 2015 erwartet werden (zum Vergleich: 1992, im Jahr der Asylrechts"abschaffung" mit der Regelung der sogenannten "sicheren Drittstaaten", die jetzt plötzlich aufgehoben wurde, waren es 438.000), sind es in Frankreich in 2015 Voraussichtlich 65.000. Hollande hat versprochen, über die kommenden zwei Jahre hinweg 24.000 Geflüchtete zusätzlich aufzunehmen. Das ist mittlerweile eine Zahl, die in München an einem Wochenende ankommt.(1)

Frankreichs Antwort auf die Fluchtwelle ist die Bombardierung Syriens

Wenn es denn bei diesen lächerlichen Proportionen bliebe, wenn Frankreich nur von der "Gnade der geografischen Randlage" profitieren würde - über das Mittelmeer durch Flüchtlingsboote unerreichbar; weit entfernt von der Landroute über den Balkan -, dann wäre der Spruch vom "Land der Menschenrechte" eben nur peinlich.

Die Fluchtwelle für ein erstmaliges Bombardement Syriens zu instrumentalisieren, ist aber auch noch zynisch und brutal, sie dominiert die französische Diskussion - und findet damit ebenfalls keine Entsprechung zur BRD. Am 7. September 2015 erklärte Hollande auf einer Pressekonferenz, schon ab dem nächsten Tag würden Aufklärungsflüge über Syrien beginnen. Die französische Luftwaffe sei dann fähig, ähnliche Luftschläge über Syrien durchzuführen wie schon im Irak - und zwar dem eigenen Anspruch einer Großmacht entsprechend unter eigenem Befehl und außerhalb der US-geführten internationalen Militärallianz.

Doch wie sieht es real aus im Irak? Wieder kreißte der Berg und gebar eine Maus: Frankreich hat über Jahre hinweg bisher 200 Luftschläge gegen den IS im Irak durchgeführt, kein Vergleich zu den 6.500 der US-Luftwaffe im Irak. Und - haben all diese Luftschläge den Krieg im Irak beendet, die Fluchtwelle dort verhindert? Die Frage ist rhetorisch.

Die französische Bombardierung Syriens in ähnlich symbolischem Ausmaß ist jedoch auch mit einem Politikwechsel verbunden. Hatte Frankreich seit dem - in den ersten sechs Monaten gewaltfreien - Aufstand gegen das Assad-Regime 2011 den Abgang Assads zur absoluten Bedingung jeder Zukunftsregelung erhoben, so wird die Bombardierung des IS in Syrien nicht ohne direkte militärische Koordination mit Assads Luftwaffe bewerkstelligt werden können. Entsprechend glättete Hollande seine Rhetorik gegen Assad: Der Abgang Assads und seine Ersetzung durch eine breite oppositionelle Übergangsregierung ohne IS - ohne zu sagen, was denn da je "breit" sein könnte - wird jetzt nur noch "zu einem gewissen Zeitpunkt oder einem anderen" gefordert, also gar nicht mehr. So leicht wechseln also die Bombardierungsziele: Noch vor ein paar Jahren, als es öffentliche Anschuldigungen gab, Assad würde im Krieg gegen die Opposition Giftgas einsetzen, drängte Frankreich die USA zur Bombardierung Assads und schreckte nur aufgrund unzureichender eigener militärischer Kapazitäten und unter großer Kritik Obamas, weil der nicht mitmachte, zurück. Jetzt wird eben mit Assad militärisch paktiert, um den IS zu bombardieren. Fast könnte man sagen: Hauptsache Bombardierung, legal gegen wen! Die französische Presse steht hinter Hollandes "Lösung" des Flüchtlingsproblems, die Tageszeitung Libération muss aber immerhin auf eine nur selten wahrgenommene Realität hinweisen, die nicht so recht in die Strategie passt:

"Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge in der Türkei und den anderen Nachbarländern sind weniger vor den Übergriffen der Dschihadisten geflohen als vor den Bombardierungen des Assad-Regimes mit Fassbomben."(2) Letztere sind nämlich flächendeckend, ungenau und verursachen enorme Opfer unter der Zivilbevölkerung.

Doch die herrschenden Medien in Frankreich sind dermaßen kriegsborniert, dass wie selbstverständlich als Alternative zu unzureichenden Kapazitäten aus der Luft Bodentruppen in Syrien gefordert werden. Auch hier, wie schon bei der Erfahrung der Irak-Bombardierung, werden alle Kriegserfahrungen seit 2001 ignoriert und wie blind wird Obama die Schuld gegeben, weil Frankreich wieder mal militärisch zu schwach sei, in Syrien einen Bodenkrieg allein zu führen. Wenigstens - es ist geradezu bitter, das festzustellen - kommt bei den zwei Argumenten Hollandes "nur" für Bombardierungen, aber gegen Bodentruppen noch ein - kleines Bewusstsein für die bisherigen Erfahrungen zum Ausdruck.

Er erklärte nämlich, dass französische Bodentruppen in Syrien "nicht realistisch [sind], weil wir dann die Einzigen wären; und inkonsequent, weil das bedeuten würde, dass eine Operation in eine Besatzungsarmee umgewandelt würde".(3)

Wenigstens hier scheint noch ein Anflug von Bewusstsein derjenigen Erfahrung durch, dass die US-Besatzung im Irak und der darauf folgende Bürgerkrieg seit 2003 die Fluchtwelle nicht etwa "gelöst", sondern eben "ausgelöst" hat.

Innenpolitische Ursachen: die rassistische Opposition in Frankreich

Die "Lösung" des Flüchtlingsproblems durch die Bombardierung Syriens hat allerdings wenig mit einer Lageeinschätzung in Syrien selbst zu tun, sondern viel mit der massiven innenpolitischen, rassistischen Opposition gegen die Hollande-Regierung - auch hier kein Vergleich mit der Lage in der BRD und der politischen Bedeutung der CSU, der nur noch wutschnaubenden Pegidisten und der Nazis, mit der sich die Merkel-Politik des "es gibt keine Obergrenzen für Asyl" auseinanderzusetzen hat.

Nicolas Sarkozy, der Vorsitzende der neubenannten Konservativen, Les Républicains (LR), will die Vorwahlen seiner Partei für die Präsidentschaftswahlen 2017 rechts außen gegen den Front National gewinnen und propagiert einen neuen Schengen-Vertrag, bei dem nur noch EuropäerInnen, aber nicht mehr MigrantInnen frei zirkulieren dürfen, was eine faktische Schließung der Nationengrenzen bedeuten würde.

Neben seiner Abschiebepolitik gegen "Wirtschaftsflüchtlinge", die inzwischen auch Merkel in einem ersten Rückschritt von der Politik der Offenen Grenzen wieder propagiert, nimmt Sarkozy eine neue Unterscheidung zwischen politisch Geflüchteten mit Anrecht auf Asyl (d.h. nur wenn sie von der Regierung politisch verfolgt werden) und Bürgerkriegsflüchtlingen vor, 'für die eine neue Kategorie mit sofortiger Abschiebung bei Nachlassen oder Ende - wer will das bewerten? - des Bürgerkriegs geschaffen werden soll. All das fordert der Front National (FN) schon lange.

Damit wird der Bürgerkrieg als ein unpolitisches Geschehen eingestuft, Kriegsbetroffene wären somit keine politisch Geflüchteten mehr und hätten auch kein Anrecht auf Asyl.

Damit wird der Bürgerkrieg als ein unpolitisches Geschehen eingestuft, Kriegsbetroffene wären somit keine politisch Geflüchteten mehr und hätten auch kein Anrecht auf Asyl.(4)

Sarkozy mit seinem rassistischen Diskurs einer Entpolitisierung des Bürgerkrieges als Menschenrechtsproblem und auch Hollande mit seiner Kriegspolitik werden im französischen öffentlichen Diskurs von Marine Le Pen und ihrem Front National (FN) vor sich hergetrieben, die in aktuellen Umfragen für die kommenden Präsidentschaftswahlen immer noch mit 27 % intendierter Stimmen vorne liegt.

Auf dem FN-Parteitag vom 6. September 2015 in Marseille setzte sogar der von ihr hinausgedrängte Alte, Jean-Marie Le Pen, seinen Feldzug gegen Marine solidarisch aus, um ihre rassistische Rede gegen MigrantInnen nicht zu gefährden.

Und die ging so: "Die Immigration ist keine Chance, sie ist eine Bürde." Es folgte die flammende Anklage gegen die aktuelle deutsche Politik, die reine "Aufwiegelung" sei und damit eine "sehr große Verantwortung" für die Flüchtlingskrise habe.

Die BRD sei "demographisch dem Tode geweiht" und wolle "durch die massive Immigration Sklaven rekrutieren". Und ganz im Duktus der Kritik von Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich in der BRD:

"Wieviele Mohamed Merahs [islamistischer Terrorist, der vor einigen Jahren jüdische Schulkinder ermordete; d.A.] sind in den Booten und Flugzeugen, die, Voll von Immigranten, jeden Tag in Frankreich ankommen." Und zum um die Welt gehenden Foto des toten Aylan Shenu sagte sie zynisch: "Man macht nicht Politik, wenn man zu denken aufhört und sich von Emotionen überwältigen lässt." (5)

Dank der Gnade der geografischen Lage kommen natürlich keine vollgepfropften Flugzeuge und schon gar kein Boot an Frankreichs Küsten an - doch seit wann kümmert das die Populistin der rechten NormalbürgerInnen, die in Frankreich derzeit zahlreicher erscheinen als in der BRD?

Selbst die französischen katholischen Bischöfe sind verzweifelt: Angesichts des Papst-Aufrufes, Flüchtlinge in Kirchen aufzunehmen, wurde die geringe Hilfsbereitschaft der christlichen Gemeinden moniert, die doch vor zwei Jahren noch in Massen gegen die Homo-Ehe auf die Straße gegangen sei.

Diese armen Verwirrten im Geiste glauben tatsächlich, ihre Herden würden genauso selbstverständlich MigrantInnen helfen wie sie schon heterosexuellen Eheleuten vor der Bedrohung durch Schwule und Lesben geholfen haben! Bischof Léandri etwa: "Was ist nur aus der Manif pour tous [Demo für alle; Organisation der Anti-Homo-Ehe-Massendemos 2013] geworden? Wenn sie wirklich für alle ist, dann muss sie doch auch für die Migranten sein!"(6)

Reale Hilfe gibt es auch

Bereits im Sommer wurde die europäische Öffentlichkeit auf den "Dschungel" in Calais aufmerksam, auf die legalen und illegalen Flüchtlingscamps in der Nähe des Eurotunnels, die überforderten französischen Fluchthilfeorganisationen vor Ort und die Versuche von Flüchtenden aus englischsprachigen Herkunftsländern Afrikas, über lebensgefährliches Verstecken in Lastwagen oder Erklimmen von Zügen zu Bekannten oder Verwandten in Großbritannien zu kommen. Das Problem wurde durch ein vergrößertes und repressiv vorgehendes Polizeiaufgebot "gelöst", was zur Folge hatte, dass MigrantInnen nicht mehr direkt in Calais, sondern in den umliegenden Gemeinden untergebracht wurden.

Dort sprechen die Bürgermeister inzwischen von einem "neuen Dschungel", denn etwa im Ort Grande Synthe sind Unterkünfte für 50 bis 70 Leute vor allem durch die Freiwilligenarbeit von Organisationen wie "Salam" oder den "Médecins du Monde" aufgebaut worden, aber heute wohnen dort schon zwischen 500 und 600 Menschen. Die örtlichen Bürgermeister schreien nach Hilfe vom Staat, doch der lässt sie allein.(7)

Den überforderten französischen Hilfs-Associations in Calais greifen inzwischen Solidaritätsgruppen aus Großbritannien und Irland unter die Arme: Ende August kam eine 150 Leute große RadlerInnengruppe aus England, ließ die Räder im "Dschungel" und ging zu Fuß bzw. mit Fähre zurück. Für Ende September ist eine irische Gruppe "Cork Calais Refugee Solidarity" angekündigt, die mit zwei Fünftonner-LKWs, sieben Gepäckwagen, Autos, Camping-Cars und Minibussen, bis zum Rand mit Lebensmitteln vollgepackt, anreisen und eine Woche im Dschungel bleiben wollen.

Eine Londoner Gruppe kam in den Dschungel, um sauber zu machen und hat innerhalb weniger Tage 8000 Müllsäcke zu 240 Litern vollgepackt und entsorgt. Doch, doch, reale Hilfe französischer BürgerInnen und Initiativen von unten gibt es: In Calais und im Umkreis von 50 Kilometern hat die seit sieben Jahren existierende Association "Auberge des migrants" (Herberge der MigrantInnen) 97 Freiwillige, Tendenz steigend. Sie gehen jeden Tag mit Hilfsmitteln zu den MigrantInnencamps, u.a. mit Kleidern, Zelten oder bauen selbst Holzhäuser. Immer mehr AnwohnerInnen helfen ihnen spontan bei den Arbeiten.

Frankreichweit organisiert die Association Singa über ihre Internet-Plattform "Calm - Comme à la Maison" (Wie bei uns zuhause) die Aufnahme von Geflüchteten bei Privatpersonen und Familien, wo sie zwischen zwei Wochen und neun Monate lang bleiben können. Allein in den ersten Septembertagen kamen 600 Angebote, die Organisation spricht von der ausgeprägtesten Großzügigkeit seit langem: "Die Leute wollen nicht mehr Zuschauer bleiben."

"France Terre d'Asile" (Frankreich Asylland) ist eine Assoziation zur Begleitung von Asylsuchenden bei der oft mehrmonatigen Suche nach einer Wohnung, die sie für einen Asylantrag brauchen, und beim Verfahren selbst. Seit August hat sich die Zahl der Begleitung Suchenden verdoppelt. Die meisten Asylsuchenden in Frankreich kommen aus der DR Kongo, dem Kosovo und aus Albanien. Die Verfahren dauern bis zu 18 Monate; 2013 wurden in Frankreich 24,5 % der Asylanträge positiv beschieden.(8)

Ein ungläubiges Staunen bleibt

Sowohl bei reaktionären wie bei den wenigen progressiven und sympathisierenden ZeitungskommentatorInnen der französischen bürgerlichen Presse bleibt ein ungläubiges Stauen gegenüber der Dimension der Hilfsbereitschaft aus Kreisen der deutschen Bevölkerung angesichts der aktuellen Fluchtwelle. Frédéric Lemaître spricht in Le Monde etwa von einem historischen "deutschen Augenblick" oder von der BRD-Bevölkerung als "den Amerikanern Europas" im Hinblick auf die Rolle, welche die USA als Aufnahmeland für Exilsuchende während der. Nazi-Herrschaft spielte. (9) Noch vor Wochen war der Tenor angesichts des Merkel-Austeritätsdiktats gegenüber Griechenland ein ganz anderer. Jedenfalls: Einfach so aus Spaß lobt die französische nationale Presse die massive BRD-Bürgerbeteiligung nicht, da schwingt schon auch ein Stück Anerkennung mit.

Nun scheint der "Augenblick" schon vorüber, Merkel hat als zweiten Rückschritt Grenzkontrollen eingeführt und Hollande hat ihr begeistert beigepflichtet.

Absent Friend


Anmerkungen:

(1): Cyril Simon: Au centre de séjour de Cergy, le soulagement pour 46 réfugiés, in: Le Monde, 11.9.2015, 3.9. Ebenfalls:
www.ad-hoc-news.de/paris-dpa-frankreich-ist-bereit-wie-von-der-eu-kommission-vorgesehen-24000··/de/News/45755370

(2): Zit. nach M.S.: Des frappes symboliques en Syrie, in: Libération, 8.9.2015, S. 6.

(3): Hollande, zit. nach: Ebenda, a.a.O.

(4): Alexandre Lemarié: Réfugiés: Sarkozy veut refonder Schengen, in: Le Monde, 11.9.15, S. 8.

(5): Zitate Marine Le Pen nach: Olivier Faye: À Marseille, Mme. Le Pen fulmine contre le "fardeau" de l'immigration, in: Le Monde, 8.9.2015, S. 4.

(6): Cécile Chambraud: Le pape appelle chaque paroisse à l'accueil, in: Le Monde, 8.9.15, S. 3.

(7): Laurie Moniez: Les maires inquiets face à l'afflux des migrants, in: Le Monde, 11.9.15, S. 9.

(8): Zu den vier aufgeführten Beispielen: Sylvain Mouillard, Marie Piquemal, Thomas Laborde: Aider, un peu, beaucoup, in: Libération, 4.9.2015, S. 3. Asylstatistik für 2013 entnommen aus Forum réfugiés, 30.4.2014:
www.forumrefugies.org/s-informer/actualites/statistiques-de-lasile-en-france-un-meilleur-niveau-de-protection-en-2013

(9): Frédéric Lemaître: L'Allemagne fait une haie d'honneur aux migrants, in: Le Monde, 8.9.20.15, S. 3.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 402, Oktober 2015, S. 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2015

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