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GRASWURZELREVOLUTION/1636: Der autoritäre Staat Griechenland


graswurzelrevolution 416, Februar 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Der autoritäre Staat Griechenland
Die Syriza-Regierung verteilt Almosen und forciert den Abbau erkämpfter demokratischer Rechte

Von Ralf Dreis, Vólos


Während die griechische Syriza-Anel-Regierung versucht durch eine einmalige Sonderzahlung an arme Rentner_innen den verlorenen Rückhalt in der Bevölkerung zurückzugewinnen, drohen zugleich weitere Einschnitte bei Renten und Löhnen, sowie vereinfachte Massenentlassungen und die Beschneidung des Streikrechts. Politischen Gefangenen wird der ihnen zustehende Hafturlaub verwehrt.


Trotz der schwierigen Finanzlage des Landes verkündete Ministerpräsident Aléxis Tsipras Anfang Dezember 2016 im Staatsfernsehen überraschend, bis kurz vor Weihnachten rund 617 Millionen Euro an die 1,6 Millionen Rentner_innen zu verteilen, die monatlich über weniger als 850 Euro verfügen. Dies käme ungefähr zwei Dritteln der 2,7 Millionen Rentner_innen zugute, von denen mehr als eine Million weniger als 500 Euro im Monat erhalten.

Viele von ihnen finanzieren damit noch ihre arbeitslosen Kinder und Enkelkinder. Inzwischen sind sogar den offiziellen Daten der griechischen Statistikbehörde Elstat zufolge mehr als 35 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht. Die Arbeitslosenquote liegt erneut bei über 30 Prozent, Unternehmen gehen der Reihe nach in Konkurs und vor allem junge, gut ausgebildete Menschen wandern aus. Immer öfter sieht man in den Straßen Athens, Thessalonikis und anderer Städte Rentner_innen betteln oder im Müll nach Essbarem suchen.

Tsipras kündigte ebenfalls an, dass die für griechische Inseln geplante Mehrwehrsteuererhöhung für die ostägäischen Inseln nicht in Kraft treten soll. Da Tausende Geflüchtete dort in Folge des EU-Türkei-Abkommens seit Monaten festsitzen und auf ihr Asylverfahren warten, ist die Lage extrem angespannt. Das Abkommen dient als Begründung, die Weiterreise von Flüchtlingen, über deren Asylanträge noch nicht entschieden ist, aufs Festland zu verhindern. Da die von der EU versprochenen Expert_innen nie in Griechenland ankamen ist der Mangel an Sacharbeiter_innen und Dolmetscher_innen riesig. In den letzten Wochen kommt es immer wieder zu körperlichen Angriffen auf Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen."

Die reibungslose Zusammenarbeit faschistischer Organisationen mit der Polizei hat bei diesen Übergriffen ein erschreckendes Ausmaß angenommen.

Erneute schwere Foltervorwürfe gegen die griechische Polizei

Am 8.12.2016 protestierten die großen Gewerkschaften mit einem Generalstreik gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts, die Einschränkungen beim Streikrecht sowie erleichterte Massenentlassungen vorsieht. Zwei Tage zuvor, am 6.12., war es aus Anlass des achten Jahrestags der Ermordung des jungen Anarchisten Aléxandros Grigorópoulos durch Polizeibeamte zu wütenden Demonstrationen in vielen griechischen Städten gekommen. In Athen, Thessaloniki, Iráklion, Agrínio und Vólos. kam es dabei zu schweren, teilweise stundenlangen Auseinandersetzungen mit der Polizei. In diesem Zusammenhang erhebt die antiexousiastikí kínisi athínas (Antiauthoritäre Bewegung/Strömung Athen) in ihrer Presseerklärung vom 10.12. schwere Foltervorwürfe gegen die Polizei. "Nach dem Ende der Demonstration (...) verfolgten die berüchtigten Folterer der DIAS [Motorradsondereinheit, d.Ü.] ohne Grund unseren Genossen Ch. K. Nachdem sie ihn festgenommen hatten, warfen sie ihn zu Boden, prügelten wild auf ihn ein und brachen ihm das Kniegelenk. Mit zertrümmertem Knie und trotz seines lauten Protests schleiften sie ihn über den Boden bis zur Alexandra Straße, wo sie ihn, obwohl er weder stehen noch gehen konnte, zwangen, ohne Hilfe in den Gefangenenbus zu klettern. Statt ihn in der, Folge ins Krankenhaus zu bringen, verschleppten sie ihn (...) in die Gefangenensammelstelle, wo sie ihn ohne Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand weiter folterten. Letztendlich wurde er mit fürchterlichen Schmerzen ins Krankenhaus gefahren (...) und nach ärztlicher Diagnose sofort in den OP gebracht."

Der Artikel der linken Athener Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón vom 11.12. spricht von "fürchterlicher Folter". "Statt Almosen an Rentner zu verteilen" sollten die Regierung und "die Verantwortlichen im Bürgerschutzministerium endlich für Ordnung in den Reihen der Ordnungskräfte sorgen". Oder seien letztendlich doch "die Staatsorgane einer Mitte-, Rechts- oder Mitte-Links-Regierung alle gleich", also auch "staatliche Macht immer gleich, weshalb sie nie ohne Repression" auskomme? Der Artikel schließt mit der rhetorischen Frage: "Haben wir uns das unter linker Ideologie vorgestellt?" Und verweist als Antwort auf die Presseerklärung von AK: "Wir wissen sehr gut, dass der Staatsapparat nicht besetzt wird, sondern Besitz ergreift. (...) Auch ist uns klar, dass die 'linke' Regierung niemandem in den faschistischen Brückenköpfen der Polizei auch nur ein Haar gekrümmt hat, und dass, solange es Staaten gibt (...) es auch Bullen geben wird, die mit roher Gewalt ihre Macht durchsetzen."

Weder Hafturlaub noch Redefreiheit

Vor fast 15 Jahren, im Sommer 2002, glückte dem griechischen Staat der größte Fahndungserfolg seiner Geschichte. Nach der vorzeitigen Explosion einer Bombe, gelang den staatlichen Behörden die Festnahme des schwerverletzten Sávvas Xirós, und in der Folge die Zerschlagung der marxistisch-leninistischen "bewaffneten revolutionären Organisation 17. November".

Die Organisation hatte zuvor 27 Jahre lang mit spektakulären Sprengstoff- und Panzerfaustanschlägen, Banküberfällen sowie der Ermordung von Junta-Folterern, US-Generälen, türkischen Diplomaten, englischen und US-amerikanischen Geheimdienstlern sowie griechischen Politikern, einigen Rückhalt bei Teilen der Bevölkerung genossen und ein ernstes Problem für die herrschenden Eliten des Landes dargestellt. Unter Lobeshymnen der Massenmedien und der Gesamtheit des politischen Personals begann mit den Verhaftungen im Sommer 2002 die als "besonders" bezeichnete Periode der metapolítevsi, der nach dem Sturz der Junta 1974 installierten Demokratie in Griechenland. Die als Mitglieder des 17. November Angeklagten wurden mit besonderen Methoden verhört, Unter besonderen Bedingungen inhaftiert, vor besondere, extra nach deutschem Vorbild zusammengestellte, Staatsschutzgerichte gestellt und mit besonderen Strafen abgeurteilt Alles unter Missachtung der griechischen Verfassung und Gesetzgebung, wo es ausdrücklich heißt, dass politische Verbrechen vor Geschworenengerichten verhandelt werden müssen und Folter natürlich verboten ist.

Es dauerte bis 2010, bis den zu lebenslangen Haftstrafen verurteilten Mitgliedern des 17. November das Recht auf erste Hafterleichterungen zugestanden wurde. Die entsprechenden Anträge von Dimítris Koufodínas und Aléxandros Giotópoulos (der bis heute bestreitet Mitglied der Organisation gewesen zu sein und geheimdienstliche Verschwörungstheorien verbreitet) wurden jedoch entweder nie beschieden oder sie erhielten Ablehnungen ohne Begründung. Auch der durch die damalige Explosion fast erblindete, so an wie taube und an beiden Händen verstümmelte Sávvas Xirós sitzt noch immer im Knast.

Das Thema des nicht gewährten Hafturlaubs betrifft inzwischen allerdings nicht nur ehemalige Mitglieder des 17. November, sondern auch den Anarchisten Kostas Gournás, der 2010 verhaftet, und nachdem er die politische Verantwortung für die Aktionen der Organisation Revolutionärer Kampf übernommen hatte, zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Sein Antrag auf Hafturlaub wurde vor kurzem abgelehnt, da er "seine Taten nicht bereut". Dem Anarchisten Nikos Romanós wird noch immer mit juristischen Spitzfindigkeiten das Recht auf Freigang zwecks Studiums verweigert, das er sich durch einen langen Hungerstreik im Dezember 2014 mit nachfolgender Gesetzesänderung erkämpft hatte.

Bei mehreren inhaftierten Mitgliedern der nihilistischen Gruppe "Verschwörung der Feuerzellen" schließlich, ist demnächst die rechtlich nötige Haftdauer erreicht, um Hafturlaub beantragen zu können. Da auch sie sich mit kämpferischen Stellungnahmen aus dem Knast immer wieder in die politische Diskussion einbringen, braucht es nicht viel Phantasie, um die Verweigerung des ihnen gesetzlich zustehenden Hafturlaubs vorherzusagen.

Lock out in der juristischen Fakultät

Aus den genannten Gründen war für den 14.12.2016 um 19 Uhr eine Veranstaltung verschiedener Solidaritätsgruppen an der juristischen Fakultät der Universität Athen mit Anwält_innen, Rechtsgelehrten, Professor_innen und Staatsrechtler_innen angekündigt.

Thema der Veranstaltung: Der seit Jahren verweigerte Hafturlaub für Dimítris Koufodínas. Wie es in Griechenland gängige Praxis ist, sollte Koufodínas der Diskussion telefonisch aus dem Gefängnis zugeschaltet werden. Zur Mittagszeit des 14.12. meldete sich jedoch seine Anwältin Ioánna Koúrtovik bei der Zeitung Efimerída ton Syntaktón mit einer "höchst beunruhigenden Mitteilung".

Der Gefangene sei von der Gefängnisleitung unterrichtet worden, dass ein vertrauliches Schreiben der Universitätsleitung vorliege, in dem diese der Gefängnisleitung strafrechtliche Konsequenzen androhe, sollte sie dem Gefangenen die telefonische Teilnahme an der Veranstaltung erlauben. Um "strafrechtliche Konsequenzen" zu vermeiden, habe ihm die Gefängnisleitung daraufhin die Teilnahme an der Diskussion verboten. Sollte er sich über das Verbot hinwegsetzen, werde ihm für zwei Jahre das Recht entzogen weitere Anträge auf Hafturlaub zu stellen. Um 14 Uhr des selben Tages ließ die Universitätsleitung verkünden, alle für den Nachmittag und den Abend geplanten Vorlesungen und Veranstaltungen fielen auf Grund "technischer Probleme" aus, die Universität sei "ab sofort" geschlossen. Nachdem Student_innen mit der Besetzung der Fakultät reagierten, forderte die Universität Polizeischutz beim Syriza-Bürgerschutzminister Nikos Tóskas an, woraufhin starke MAT-Sondereinsatzkommandos der Polizei das Universitätsgelände umstellten, die Eingänge absperrten und so die angesetzte Veranstaltung verhinderten. Am Abend verließen die Student_innen mit einer Spontandemo die umstellte Fakultät Menschenrechtsgruppen, die Initiative zur Unterstützung der politischen Gefangenen sowie Anwält_innen kritisierten das Vorgehen von Unileitung, Gefängnisleitung und Syriza-Regierung als skandalös. Etwa 30 Aktivist_innen führten eine Spontankundgebung mit Transparenten, Flyern, gerufenen und gesprühten Parolen für die Gewährung von Hafturlaub für Gournás und Koufodínas vor dem Haus der zuständigen Staatsanwältin Stamatína Periméni durch. Sie betonen in ihrer Stellungnahme auf indymedia athens, dass "Hafturlaube eine Errungenschaft der Gefangenenkämpfe vieler Jahre sind. Sie sind weder ein Privileg noch eine menschliche Geste von Seiten des Staates"

Koufodinas selbst meldete sich mit folgender Stellungnahme zu Wort: "Diese Regierung, die Wert darauf legt als links bezeichnet zu werden, verlangt als Voraussetzung für die Gewährung von Hafturlaub, dass ich meinen Überzeugungen abschwöre. Sie verlangt von mir eine Reueerklärung zu unterschreiben. Diesen Preis jedoch kann ich nicht bezahlen. Wer bin ich, ein solches Unrecht am revolutionären Gedächtnis zu begehen. Es wäre so feige und niederträchtig meine kleine persönliche Geschichte mit einer solchen Demütigung zu beschmutzen."

Sogenannte Reueerklärungen wurden unter der Militärdiktatur von Ioánnis Metaxás (1936-41) und während des griechischen Bürgerkriegs (1946-49) von Kommunist_innen verlangt um aus der Haft entlassen zu werden. Viele derjenigen, die nicht unterschrieben, wurden hingerichtet.

Vertreter_innen politischer Initiativen, Menschenrechtsorganisationen, Anwaltsvereinigungen und Staatsrechtler_innen luden am 19.12.2016 zur Pressekonferenz in den Räumen der Journalistengewerkschaft ESIEA, um das Recht der politischen Gefangenen auf Hafturlaub zu unterstreichen.

Tákis Polítis, Professor an der Universität Thessaliens betonte, das Verbot der Veranstaltung in der juristischen Fakultät sei "das genaue Gegenteil jeher Grundsätze, die in den Amphitheatern der Fakultät gelehrt" werden, und der "Versuch, einen sterilen Ort zu schaffen, an dem das Zitat Voltaires, 'Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst', in Vergessenheit gerät".

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 416, Februar 2017, S. 14
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2017

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