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GRASWURZELREVOLUTION/1788: Weiter voll auf Atomkurs


graswurzelrevolution Nr. 431, September 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Weiter voll auf Atomkurs

von Matthias Eickhoff


Viele Menschen - bis weit ins grüne Lager hinein - sind der Meinung, Deutschland habe nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima den Atomausstieg umgehend und komplett vollzogen. Doch mit dieser Vermutung liegen sie leider falsch! Allein derzeit laufen noch sieben große Atomkraftwerke in Deutschland mit "Rest"-Laufzeiten bis Ende 2022. Erst vor wenigen Wochen versuchte die Atomlobby in der CDU, diese Laufzeiten nochmals zu verlängern. Eine gesetzlich mögliche und sicherheitstechnisch dringend erforderliche Verkürzung der Laufzeiten wurde im Juni 2018 im Bundestag von der GroKo abgelehnt.

Atomausstieg? Nein, danke!


Wie dicht die Reihen der alten Atom-Seilschaften noch geschlossen sind, erweist sich spätestens, wenn man nach Gronau schaut, wo die bundesweit einzige Urananreicherungsanlage steht, und nach Lingen, wo sich die bundesweit einzige Brennelementefabrik befindet. Von hier werden mit Exportgenehmigungen, die vom Bundesumweltministerium abgesegnet werden, Reaktoren in aller Welt mit Uranbrennstoff beliefert - darunter so störanfällige Reaktoren wie Tihange, Doel, Fessenheim, Cattenom oder Flamanville.

2017 gelangte auch erstmals wieder angereichertes Uran von Gronau nach Japan, wo die Regierung selbst nach dem GAU in Fukushima unvermindert weiter von einer atomaren Zukunft träumt. Und aus Lingen wurden zur Jahreswende 2017/18 die ersten Brennelemente für den neuen EPR-Reaktor Olkiluoto 3 in Finnland geliefert. Das AKW gilt aufgrund zahlreicher Bauskandale schon vor Betriebsbeginn als Pannenreaktor und zog den französischen Staatskonzern Areva Ende 2017 wirtschaftlich in den Ruin. Die halbwegs profitablen Areva-Teile wurden vom anderen staatlichen französischen Atomkonzern EDF übernommen. Die Brennelementefertigung in Lingen und der Technik-Standort Erlangen firmieren jetzt unter dem Namen EDF/Framatome.

Aber ist es nicht ein Widerspruch, wenn Deutschland zwar selbst aussteigen will, aber dennoch den Uranbrennstoff für den ungestörten Weiterbetrieb zahlreicher Reaktoren in den Nachbarländern und darüber hinaus liefert? Selbstverständlich, aber eben nicht für die Bundesregierung. Hier bemüht man sich seit Jahren nach Kräften, die Urananreicherung und die Brennelementefertigung in Deutschland über den Atomausstieg hinaus zu retten. Ein Kalkül dahinter ist sicher der Wunsch, durch den Erhalt der auch militärisch brisanten Urananreicherungs-Technologie als stille Atommacht zu gelten. Immerhin fand aber aufgrund der zahlreichen öffentlichen Proteste in den aktuellen Koalitionsvertrag der Satz Einzug, man wolle den Export von Kernbrennstoffen gegebenenfalls untersagen, wenn das belieferte AKW aus deutscher Sicht sicherheitstechnisch zu große Probleme aufweise. Angekündigt wurde eine "Prüfung".

Am 9. Juni 2018 unterstrichen in Lingen mehr als 500 AtomkraftgegnerInnen mit einer Demo vom AKW zur Brennelementefabrik die Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg.


Pannenreaktoren plötzlich "sicher"

Unter Druck offenbarte das Bundesumweltministerium (BMU) unter der neuen Ministerin Svenja Schulze (SPD) in den letzten Monaten, wie atomfreundlich die Bundesregierung noch immer gesinnt ist. Denn eigentlich möchte Berlin weder den Export von angereichertem Uran oder Brennelementen stoppen und schon gar nicht die dazugehörigen Atomanlagen stilllegen. Dass diese Stilllegung problemlos möglich ist, hatte gerade erst im letzten Herbst ein Gutachten just im Auftrag des Bundesumweltministeriums ergeben: Zusammen mit dem Runterfahren des letzten deutschen AKWs Ende 2022 könnten auch die Urananreicherungsanlage (UAA) Gronau und die Brennelementefabrik Lingen stillgelegt werden. Alles kein Problem, wenn denn der politische Willen vorhanden ist. Das Thema Exportstopp wäre damit auch gleich vom Tisch, weil es nichts mehr zu exportieren gäbe.

Doch der politische Wind weht in eine andere Richtung: Anstatt sich unverzüglich an die Umsetzung des Koalitionsvertrags zu machen und auf Grundlage der vorhandenen Gutachten gegen die weiteren Exporte vorzugehen sowie die Stilllegung von UAA und Brennelementefertigung einzuleiten, arbeitet das Bundesumweltministerium derzeit in eine ganz andere Richtung. Ausgerechnet die seit jeher atomfreundliche Reaktorsicherheitskommission (RSK) wurde beauftragt, sich mit den gravierenden Sicherheitsmängeln in den belgischen AKW Tihange 2 und Doel 3 zu beschäftigen, aber nur auf Grundlage von Unterlagen der belgischen Atomaufsicht. Wenig überraschend kamen die deutschen "Experten" Ende Mai 2018 zu dem Ergebnis, dass die eingesehenen Unterlagen irgendwie plausibel aussehen. Und so verkündete der Chef der RSK, Rudolf Wieland, Anfang Juli in der Aachener Zeitung, dass die belgischen Reaktoren "sicher" seien. Das BMU ergänzte sofort, dass es nun "keine Handhabe" mehr gebe, die Stilllegung der Reaktoren zu fordern.

Und es kommt noch besser für das BMU: Denn wenn man die Bröckelreaktoren für "sicher" erklärt, muss man auch keinen Exportstopp mehr prüfen, weil der ja nur für Reaktoren gelten soll, deren Sicherheit aus Sicht des BMU nicht gewährleistet ist. Im Ergebnis führt der eigene Unwillen, den Atomausstieg konsequent umzusetzen, dazu, dass man lieber den bedrängten AKW-Betreibern in den Nachbarländern beispringt, um dortige Sicherheitsmängel kleinzureden - das ist in dieser scharfen Form ein Novum.

Zur Erinnerung: In Tihange 2 und Doel 3 waren Tausende Risse im Reaktordruckbehälter entdeckt worden, bei Nachmessungen wurden sogar mehr Risse entdeckt als zuvor.

Die belgische Atomaufsicht behauptete schnell, die Risse seien schon bei der Herstellung entstanden, und damit aus ihrer Sicht ungefährlich. Dieser Sichtweise schloss sich jetzt die deutsche RSK an und stellte den Belgiern quasi einen Persilschein aus. Der Haken: Wenn die Risse schon bei der Herstellung entstanden sein sollten, hätte niemals eine Genehmigung erteilt werden dürfen. Die Reaktoren wären gefährliche Schwarzbauten. Sind die Risse aber doch erst im Betrieb entstanden (worauf vieles hindeutet), müssten die Reaktoren ebenfalls sofort runtergefahren werden. Nun versuchen RSK und Bundesumweltministerium gemeinsam jedoch das Unmögliche zum neuen Standard zu machen: Möglicher Pfusch am Bau wird im Nachhinein schöngeredet und jegliche andere Erklärung für die wachsenden Risse einfach ignoriert. Damit macht sich das Bundesumweltministerium zur Retterin für extrem störanfällige AKWs. Das ist sieben Jahre nach Fukushima eine bittere Erkenntnis.


Wer sitzt in der RSK?

Nach außen hin erklärte Bundesumweltministerin Schulze die Reaktorsicherheitskommission zu einer unabhängigen und renommierten Expertenrunde. Doch hier lohnt ein genauerer Blick in die illustre Runde. Da sitzen u. a. der AKW-Chef aus Brokdorf, Uwe Jorden, sowie zahlreiche andere Mitarbeiter von EON/Preussen Elektra sowie EnBW. Warum sollten diese AKW-Leute schlecht über andere AKWs urteilen, denn damit würden sie ja die Messlatte auch für ihre eigenen Reaktoren wesentlich höher hängen. Im konkreten Fall sorgten jedoch zunächst zwei Mitarbeiter von EDF/Framatome für Aufregung. Denn in dem federführenden elfköpfigen RSK-Fachausschuss sitzt u. a. der Standortleiter von EDF/Framatome (bis Ende 2017: Areva) in Erlangen, Rainer Hardt, sowie eine weitere langjährige EDF/Areva-Angestellte, Dr. Renate Kilian.

Hier wird es brisant, denn EDF ist Miteigentümerin von Tihange 2 und Doel 3, der Alteigentümer Areva/Framatome war am Bau der Reaktoren beteiligt. EDF/Framatome modernisiert aktuell zudem die Sicherheitsleittechnik von Doel 1 und 2, bekommt also vom AKW-Betreiber Engie-Electrabel Aufträge. Und vom EDF/Framatome-Standort Lingen werden die Brennelemente für Tihange 2, Doel 1, 2, und 3 geliefert - die wirtschaftlichen Verquickungen sind extrem eng. Dennoch sah das BMU keine Anhaltspunkte für eine Befangenheit. Die beiden EDF/Framatome-Leute durften also im Ausschuss mitdiskutieren und dort auch abstimmen, nur nicht in der Fach-AG und bei der abschließenden RSK-Abstimmung dabei sein.

Das war aber auch nicht nötig, denn in der 16-köpfigen RSK sitzen u. a. mit Uwe Stoll und Ulrich Waas zwei langgediente Areva-Mitarbeiter aus Erlangen, die gemeinsam für Areva nach Fukushima einen Aufsatz verfassten, um die deutschen AKW für unbedenklich zu erklären. Mit "moderner" Sicherheitstechnik von Areva könnte man zudem international allen Herstellern unter die Arme greifen. Und genau das passiert jetzt gerade ja auch in Doel. Warum sollte man marode AKW vom Netz nehmen, wenn man an der Nachrüstung noch ordentlich Geld verdienen kann? (1)

Stoll ist mittlerweile übrigens wissenschaftlich-technischer Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), die bei Begutachtungen im Atombereich ebenfalls eine große Rolle spielt. Zwielichtig ist auch die Rolle des TÜV Nord: So arbeitete der RSK-Vorsitzende Wieland lange für den TÜV-Nord, genau wie der RSK-Mann und Ausschussvorsitzende Thomas Riekert. Der TÜV Nord gilt im Atombereich schon lange als unternehmensnah. Im Internet preist er auf der Firmenwebsite offen die Dienste seines Labels TÜV Nord Nuclear an. Da wird internationalen Kunden der komplette Neubau von Atomkraftwerken erläutert und der TÜV wärmstens als Geschäftspartner empfohlen. (2)

Auch hier ist also deutlich zu erkennen, dass eine negative Beurteilung der Sicherheit der belgischen Reaktoren nicht im Interesse der Beteiligten liegt. Für das BMU aber kein Problem, weil mit der Berufung in die RSK alle Beteiligten auf Unabhängigkeit festgelegt würden. Wie das konkret überprüft und garantiert wird, wenn die RSK-Leute weiter von ihren Firmen bezahlt werden und für diese arbeiten, bleibt offen. Außerdem gebe es ja noch "atomkritische Experten", z. B. das Öko-Institut Darmstadt.

Zum einen sind aber die angeblich atomkritischen Fachleute in der RSK klar in der Minderheit und im federführenden Ausschuss eigentlich gar nicht vertreten, zum anderen hat sich das Öko-Institut im konkreten Fall bei der geheimen RSK-Abstimmung voll auf die Seite der Atomlobby gestellt, nachdem man jahrelang in Aachen öffentlich kritische Positionen eingenommen hat, zuletzt im April 2018 auf einer Fachkonferenz in Aachen. Ausgerechnet der RSK-Chef selbst machte das vollständige Einknicken des Öko-Instituts publik.

Bis zum GWR-Redaktionsschluss lag vom Öko-Institut keine öffentliche Stellungnahme zu dem abrupten Richtungswechsel vor, obwohl es verständlicherweise heftige Kritik vom Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie gab.

Mehrere Anti-Atomkraft-Initiativen und Umweltverbände forderten zudem die Entlassung von RSK-Chef Wieland, eine komplette Neubesetzung der RSK sowie eine Neuvergabe des Gutachtens.

All dies wurde vom BMU rundweg abgelehnt. Nach seinem forschen Vorpreschen wurde RSK-Chef Wieland aber auch vom Chef der baden-württembergischen Atomaufsicht, Gerrit Niehaus, scharf kritisiert. Danach wollte Wieland nicht mehr öffentlich sagen, der Weiterbetrieb der Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 sei unbedenklich möglich. (3)

Unter dem Strich bleibt festzuhalten, dass sich gerade an den Beispielen Tihange/Doel sowie Urananreicherung/Brennelementefertigung zeigt, wie sehr die alten Atomkraftbefürworter in Deutschland noch immer mit aller Macht versuchen, von der Atomkraft im In- und Ausland soviel zu retten wie irgend möglich. Von einer ausstiegsorientierten Politik ist im Bundesumweltministerium auch sieben Jahre nach Fukushima nicht viel zu sehen. Anti-Atomkraft-Initiativen rufen deshalb zu weiteren Protesten auf.


Anmerkungen

(1) Wie groß der wirtschaftliche Nutzen im Bereich Nachrüstungen für EDF/Framatome (ehemals Areva) in Erlangen ist, wird durch eine Pressemitteilung von Framatome (damals noch Areva) vom 7. November 2016 deutlich, in der man angibt, vom Standort Erlangen aus die Sicherheitsleittechnik für insgesamt 80 AKW in 16 Ländern weltweit modernisiert zu haben oder dafür einen Auftrag zu besitzen
(www.framatome.com/EN/businessnews-1145/areva-np-erhaelt-auftrag-fr-sicherheitsleittechnikprojekt-in-belgien.html).
In Erlangen arbeiten derzeit rund 3000 Angestellte, die auch bei der Entwicklung der neuen EPR-Druckwasserreaktoren in Frankreich, Finnland, Großbritannien und China beteiligt sind. Der erste dieser EPR-Reaktoren (Taishan 1) ist Anfang Juni 2018 in China ans Netz gegangen. Der EDF/Framatome-Standort Erlangen ist also erheblich am Ausbau der Atomenergie weltweit beteiligt
(www.framatome.com/EN/businessnews-1366/china-framatome-welcomes-taishan-1-grid-connection-the-first-epr-reactor-in-the-world.html)

(2) Siehe: https://www.tuev-nord.de/de/unternehmen/energie/kerntechnik/

(3) Siehe ebd.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 431, September 2018, S. 17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
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Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2018

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