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GRASWURZELREVOLUTION/977: Ein Interview mit dem jordanischen Anarchisten Hamza Budeiri


graswurzelrevolution 336, Februar 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Wir können die, die wir bekämpfen, doch nicht um Erlaubnis fragen!"

Ein Interview mit dem jordanischen Anarchisten Hamza Budeiri


2008 erschien auf diversen anarchistischen Websites ein Text mit dem Titel "An overview of Anarchism in Jordan today". Viele waren überrascht, denn von AnarchistInnen in Jordanien war zuvor nichts bekannt. Nun haben sie sich in einer Gruppe zusammengefunden und sich der sozialistischen Organisation Social Left angeschlossen. In diesem Interview - das dazu beitragen soll, etwas mehr Bewusstsein für libertäre und soziale Bewegungen im Nahen und Mittlere Osten zu schaffen(*) - berichtet der jordanische Anarchist Hamza Budeiri über die sozialen Bewegungen in Jordanien, die Social Left und welche Rolle die AnarchistInnen in den verschiedenen Kämpfen, ob nun gegen Neoliberalismus, Korruption oder Krieg, einnehmen.


GRASWURZELREVOLUTION: Erst kürzlich haben sich verschiedene Gruppen und Individuen aus Jordanien zusammengeschlossen und die Social Left gegründet. Kannst du uns kurz etwas darüber erzählen?

HAMZA BUDEIRI: Im März 2008 fand sich eine Gruppe von MarxistInnen, die aus der Kommunistischen Partei ausgetreten waren, GewerkschafterInnen und linken Intellektuellen, die niemals Mitglied in einer Partei waren, zusammen und veröffentlichten die erste Aussendung der Social Left in Jordanien. Mit der Zeit versammelten sich immer mehr AktivistInnen aus dem linken Spektrum bei dieser neuen Organisation. Es waren sozialistische PanarabistInnen, MarxistInnen und auch AnarchistInnen.

Der Grund, warum wir AnarchistInnen uns der Organisation ebenfalls anschlossen, ist, weil sie uns politischen Schutz bietet. In unserem ersten Treffen mit Leuten der Social Left stellten wir klar, dass wir nur beitreten würden, wenn wir in unserem Tun nicht eingeschränkt würden. Sie meinten, dass sie damit einverstanden seien, sie uns unterstützen würden und ohnehin nicht vorhätten, eine autoritäre Stimmung aufkommen zu lassen.

Die Social Left versuchte später, einen Generalstreik zu organisieren, der jedoch fehlschlug, und zwei AnarchistInnen wurden in Folge dessen verhaftet, weil sie Flugblätter verteilten. Al Jazeera berichtete über sie, und wir waren auch sehr aktiv anlässlich der Nakba
(arabische Bezeichnung für die Flucht bzw. Vertreibung von 750.000 PalästinenserInnen im Krieg von 1948; Anm. S.K.)

Was wir AnarchistInnen innerhalb der Social Left versuchen, ist, was wir die "'Anarchisierung' der Social Left" nennen. Die meisten marxistisch-leninistischen AktivistInnen halten an dem Konzept des "Demokratischen Zentralismus" fest; was wir aber anstreben, sind dezentrale, autonome Komitees innerhalb der Bewegung.

Einer der wichtigsten Teile der Bewegung sind aber die GewerkschafterInnen. Das sind oft AktivistInnen, die nie bei einer Partei waren, aber seit 30 oder 40 Jahren in Gewerkschaften aktiv sind. Sie sind meistens älter als wir und marxistisch, sie stehen aber uns AnarchistInnen politisch viel näher als den Mitgliedern der Partei.

GRASWURZELREVOLUTION: Wieviel AktivistInnen sind ungefähr in der Social Left organisiert?

HAMZA BUDEIRI: Die Regierungszeitschrift, die absolut regierungstreu ist, wohlgemerkt, schrieb einmal, dass wir bereits über 1.000 nach nur zwei Wochen waren. Nach dieser Meldung wurde die Berichterstattung über uns eingestellt, weil wir zunehmend selbstsicherer wurden und es auf die Spitze trieben, als wir MinisterInnen öffentlich anprangerten. Aber ich denke, dass die Zahl der AktivistInnen um die 2.000 liegt, obwohl die jüngste Kooperation zwischen der Social Left und der alternativen Gewerkschaft der "daily workers" die Zahl wieder nach oben treibt.

GRASWURZELREVOLUTION: Welche Rolle spielen Frauen bei euch?

HAMZA BUDEIRI: In der Linken sind weniger Frauen als Männer aktiv, aber sie ist definitiv feministisch und gegen die Unterdrückung der Frau. Gender-Studies sind Teil unserer Bewegung. Es gibt den Plan, dass wir mindestens 40 % Frauen in jedem Komitee haben wollen, leider haben wir diese Quote noch nicht erreicht.

GRASWURZELREVOLUTION: Wie reagieren nun das jordanische Königshaus und die Regierung auf euch?

HAMZA BUDEIRI: Alles, was wir machen, ist im Grunde genommen illegal, weil wir keine offiziell registrierte Organisation sind. Sollten wir das einmal sein, so müssten wir für alles, was wir machen, um Erlaubnis fragen, für Demos, Verteilen von Flugblättern usw. Von Regierungsseite kamen immer wieder Drohungen, dass wir bis zu drei Jahre ins Gefängnis gehen würden.

GRASWURZELREVOLUTION: Seid ihr mit Repression konfrontiert worden?

HAMZA BUDEIRI: Ganz generell haben die älteren AktivistInnen lange Geschichten zu erzählen von Verhaftungen, Misshandlungen, auf offener Straße Verprügelt werden etc., aber seit wir Teil der Social Left sind, werden wir von Regierungsseite weniger belästigt. Das hat seine Gründe. Wir sind mittlerweile stark geworden. Wenn man Teil einer kleineren Bewegung ist, wird man viel häufiger verhaftet, aber seit wir Teil der Social Left sind, weiß die Regierung, dass wir das Ganze eskalieren können. Sie wollen uns nicht diese Gelegenheit geben und es vermeiden, dass die Medien verstärkt über uns berichten.

Vor kurzem, als zwei Anarchisten politische Graffiti sprühten, kam plötzlich ein Auto des Geheimdienstes, und die beiden wurden verhaftet. Sie wurden misshandelt und eine Woche im Gefängnis des Geheimdienstes und eine weitere Woche im Hauptgefängnis inhaftiert.

Nach ihnen wurden noch ein weiterer Anarchist und ich verhaftet. Wir mussten zwei Tage in Isolationshaft verbringen und dann noch vier Tage im Hauptgefängnis. Es war fürchterlich. Die Dinge laufen gerade aber wieder etwas besser, und wir haben schon wieder neue Pläne.

GRASWURZELREVOLUTION: Der Staat scheint ja schon etwas in die Defensive geraten zu sein, da die Social Left weiter wächst und er nicht wirklich weiß, wie er damit umgehen soll, oder?

HAMZA BUDEIRI: Richtig, und im Grunde genommen haben wir es selbst noch auf die Spitze getrieben. In der Vergangenheit war es schon genug, die generelle wirtschaftliche Lage zu kritisieren, um eine Gefängnisstrafe zu riskieren, aber wir begannen, bekannte Persönlichkeiten in wichtigen Positionen und MinisterInnen zu kritisieren. Das macht es so schwierig für den Staat, mit uns umzugehen. Manche glaubten sogar schon, dass wir vom Iran unterstützt werden (lacht), und manchmal bekommen wir Telefonanrufe von Regierungsseite, wo wir gefragt werden, ob wir wirklich diese oder jene Aussendung veröffentlicht haben, weil sie immer wieder so überrascht sind davon.

GRASWURZELREVOLUTION: Momentan wird in der Social Left intensiv diskutiert, ob man sich als offizielle Organisation/Partei registrieren soll. Es gibt da verschiedene Pro- und Contra-Standpunkte. Wie entwickelt sich die Diskussion?

HAMZA BUDEIRI: Es gibt jene, die dafür sind, und andere, die dagegen sind, sich beim Staat offiziell als Organisation oder Partei registrieren zu lassen. Diejenigen, die dagegen sind - das sind normalerweise die radikaleren in der Organisation -, argumentieren, dass es nicht richtig sei, die Regierung um Erlaubnis zu fragen. Sie ist es ja, gegen die wir kämpfen. Wir können die, gegen die wir kämpfen, doch nicht um Erlaubnis fragen, ob wir dürfen! Die Regierung hat keine Legitimität.

Und es gibt den anderen Teil, der sich registrieren lassen will, damit die Bewegung wachsen kann und wir nicht ständig mit bis zu drei Jahren Haft bedroht sind, nur weil wir Teil dieser Organisation sind.

GRASWURZELREVOLUTION: Was sind die Hauptthemen, die ihr behandelt? Ich habe den Eindruck, als ob es eine Agenda für Inner-Jordanische Bereiche gäbe und eine für Themen außerhalb.

HAMZA BUDEIRI: Eigentlich gibt es vier verschiedene Agenden. Da gibt es die Social Left-Agenda für innerhalb und außerhalb Jordaniens und es gibt die anarchistische Agenda Ihr innerhalb und außerhalb Jordaniens. Das ist nicht dasselbe. Die Ziele der Social Left sind nicht so hoch angesetzt wie jene der AnarchistInnen.

Die Social Left-Standpunkte sind u.a., die Neoliberalen davon abzuhalten, die Bevölkerung auszuhungern und das Land an transnationale Konzerne zu verkaufen. Ein weiterer Punkt ist die Säkularisierung des Systems, der Kampf ganz allgemein für mehr Freiheiten, für mehr soziale Gerechtigkeit, für eine bessere Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen und Ökologie.

GRASWURZELREVOLUTION: Und der Standpunkt der AnarchistInnen?

HAMZA BUDEIRI: Die AnarchistInnen in Jordanien streben einen Wandel in der jordanischen Linken an und treten dafür ein, neue und weniger traditionelle Formen des Kampfes zu praktizieren.

Wir können z.B. von AktivistInnen aus anderen Ländern wie Ägypten oder Libanon lernen, wie diese beispielsweise das Internet für ihre Zwecke nutzen. Unsere neuen Ideen lassen sich vielleicht durch ein Beispiel illustrieren: Die Social Left meinte, wir müssten etwas zu Mahmud Darwisch - dem verstorbenen palästinensischen Dichter - machen, und schlug vor, jemanden einzuladen, der über Darwisch spräche. Wir dachten, es wäre doch viel besser, raus zu gehen mit einer Kamera und einfach die Leute auf der Straße zu fragen, was sie von Mahmud Darwisch denken, wie er sie beeinflusst hat, alles, was ihnen in den Sinn kommt. Wir sind gegen dieses elitäre Expertentum, dass dir irgend jemand erzählt, wie dies und jenes abläuft. Nein, wir dachten, jeder auf der Straße sollte seine Meinung dazu abgeben. Das ist unsere Herangehensweise.

GRASWURZELREVOLUTION: Das ist also die Inner-Jordanische Agenda, der Kampf gegen Neoliberalismus, die Schwächung der Regierung und die Mobilisierung von Menschen. Wie sieht es mit den Problemen außerhalb Jordaniens aus, wie z.B. im Irak, in Israel/Palästina oder im Libanon?

HAMZA BUDEIRI: Die Social Left befürwortet den Widerstand, auch den bewaffneten, im Irak, in Palästina und im Libanon. Aber leider gibt es z.B. im Irak kaum linke Widerstandsgruppen, die wir unterstützen können. Wir hörten von KommunistInnen, konnten aber keinen Kontakt herstellen, also unterstützen wir im Irak bislang nur zivile Projekte wie z.B. Gewerkschaften oder feministische Komitees. Im Libanon halten wir den bewaffneten Widerstand ebenfalls für legitim, kritisieren aber gleichzeitig die Politik der Hisbollah dort. Wir haben aber gute Kontakte zu Linken im Libanon und auch zur libanesischen Kommunistischen Partei.

Zum Thema Palästina vertritt die Social Left keine einheitliche Position. Es gibt da mehr als einen Lösungsvorschlag, und es existieren viele unterschiedliche Positionen, aber für uns AnarchistInnen stellt sich noch zusätzlich die Frage, wie wir eine Lösung des Konflikts mit unserer Position zum Staat vereinbaren können. Die Frage, die wir uns stellen, ist, wie können wir direkt zu einer "Nicht-Staaten-Lösung" gelangen.

Ein eigener palästinensischer Staat ist aber mittlerweile für viele wichtig geworden, die Frage des Staates rückte ins Zentrum. Ich denke, alle haben hier ihre eigenen Ideen, aber die meisten von uns unterstützen den Widerstand solange, bis die PalästinenserInnen das Gefühl haben, eine Lösung erreicht zu haben, die sie zufrieden stellt. Das könnte eine Zwei-Staaten- oder eine Ein-Staaten-Lösung sein. Alles, wofür sieh die PalästinenserInnen aussprechen, würden wahrscheinlich auch die meisten von uns unterstützen.

GRASWURZELREVOLUTION: Hier scheinen viele AnarchistInnen mit der Popular Front for die Liberation of Palestine (PFLP) zu sympathisieren?

HAMZA BUDEIRI: Ja. Das hat mehrere Gründe und ist vielleicht auch deshalb so, weil die PFLP eine der ersten wirklich linken Gruppen in Jordanien war. Allerdings denke ich, dass die Ein-Staaten-Lösung unrealistisch ist. (George Habash, Gründer der PFLP und Generalsekretär bis 2000, vertrat die Position einer sozialistischen Ein-Staaten-Lösung, in der AraberInnen und Juden/Jüdinnen mit gleichen Rechten auf dem Gebiet des historischen Palästina leben können. Dies ist auch weitgehend die Position der PFLP und der div. Splittergruppen. Anm. S.K.)

GRASWURZELREVOLUTION: Gibt es viele libertäre Publikationen in Arabisch? Ich sah viele marxistische hier in Amman.

HAMZA BUDEIRI: In der Bibliothek der Universität in Amman findest du eine große Abteilung nur zum Thema Marxismus. Dort habe ich aber auch arabische Bücher zum Anarchismus gefunden. Z.B. das Buch von Daniel Guérin (Anarchismus. Begriff und Praxis, Anm. S.K.), oder ein anderes Buch, das sich mit Anarchismus und Kunst befasst. Ich fand auch ein marxistisches Buch, das sich mit dem Anarchismus auseinandersetzt, es war aber doch sehr marxistisch, also voller Vorurteile dem Anarchismus gegenüber.

In marxistischen Publikationen findet man aber teilweise auch Kritik z.B. an dem Vorgehen gegen die anarchistische Machno-Bewegung und gegen die Matrosen von Kronstadt. Die wichtigsten Bücher - sind aber jene über den Spanischen Bürgerkrieg. Und es gibt auch noch eine arabische Übersetzung eines interessanten Romans namens Do It! Scenarios of the Revolution von Jerry Rubin, der Anarchist war und unter anderem, Verbindungen zu den Black Panthers hatte. Aber Bücher in Englisch sind für uns ja auch zugänglich.

GRASWURZELREVOLUTION: Es gibt hier weit mehr KommunistInnen als AnarchistInnen. Wie bist du in Kontakt mit anarchistischen Ideen gekommen?

HAMZA BUDEIRI: Durch die Kunst, viele AnarchistInnen hier sind in der Kunstszene aktiv. Das erste, was ich in Bezug auf Anarchismus kennen lernte, war der Dadaismus. Andere wurden z.B. von AnarchistInnen des International Solidarity Movement (ISM) beeinflusst, die hier in Amman waren.

Interview: Sebastian Kalicha


"Siehe dazu auch verschiedene Artikel/Interviews in älteren Ausgaben der GWR:

Allgemein:
Sebastian U. Kalicha: Anarkeya und al-muqawama. Ein Überblick über anarchistische Bewegungen in Jordanien, Libanon. Irak und Iran, in: GWR Nr. 331. September 2008

Libanon:
Lou Marin: Kampf zweier Linien im libanesischen Anarchismus. Warum zwei libertäre Strömungen im Libanon sich gegenseitig schneiden. in: GWR Nr. 321, September 2007 und Alternative Libertaire: Im Kampf gegen religiösen Bekenntniszwang. Ein Interview mit dem libanesischen Anarchisten Hazem (RASH, Red & Anarchist Skinhead, Libanon), übersetzt in: GWR Nr. 321, Sept. 2007

Israel/Palästina:
Sebastian U. Kalicha: Aktivismus für den Frieden. Die Anarchists Against the Wall und ihre Beile im gewaltfreien Widerstand gegen Besatzung und Barrierebau; in: GWR Nr. 320, Sommer 2007, etc.


*


Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 336, Februar 2009, S. 15
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2009