Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 21 vom 4. November 2017
Revolutionserinnerung in Zeiten der Niederlage
von Stefan Bollinger
Es mag irritieren: Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Sowjetunion ist das Jahr 1917, das Jahr der russischen Revolutionen, wieder in aller Munde. Vielleicht hat es mit dem Verlust demokratischer, sozialstaatlicher, sozialistischer Perspektiven in Zeiten der Trump, AfDler, Le Pen zu tun. Selbstverständlich dominieren die Verrisse, die Anklage ob der Gewalt und des Alleinvertretungsanspruchs der Bolschewiki, die grausamen Geschichten über den Bürgerkrieg und die spätere Zeit der Stalin'schen Säuberungen. Der Mainstream weiß, was er an dieser Revolution hat - die eherne Ordnung des Oben und Unten, des Reich und Arm wird erschüttert und zerstört. Aber auch nicht wenige Linke sind immer noch verstört, denn sie wissen um die Folgen eines vielleicht guten Beginns. Sie haben die Opfer sowjetischer Politik vor sich, erinnern sich der Gewaltakte zur Verteidigung des Realsozialismus. Vor allem wissen sie, dass sich 1989/91 in der DDR, in Osteuropa, in der Sowjetunion Mehrheiten von der Verheißung einer sozial gerechten, friedlichen demokratischen Welt abwandten, weil sie die Versprechen nicht einlösen konnte.
1917 begann eine andere Welt
So verständlich und erklärlich solche distanzierenden Sichten sein
mögen, so nachvollziehbar Kritiken und Verurteilungen sind, sie haben,
nur bedingt etwas mit der realen Geschichte des 20. Jahrhunderts und
den Herausforderungen des neuen Jahrhunderts zu tun. Denn die Welt
sieht seit 1917 vor allem bedingt durch die Ereignisse in Russland
anders aus, auch wenn die erhoffte Epoche des weltweiten Übergangs zum
Sozialismus nicht eingetreten ist. Die Völker Russlands,
osteuropäischer, asiatischer Staaten wurden unter der roten Fahne vom
Bastschuh zum Kosmonautenanzug katapultiert. Viele Völker Russlands
erhielten die Chance, die eigene Sprache und kulturelle Identität zu
entfalten. Die neue Ordnung beendete das Analphabetentum,
qualifizierte eine neue Intelligenz, brachte selbstbewusste Arbeiter
hervor. Sie sorgte dafür, dass die nationalen Befreiungsbewegungen
ihre Chance zur Entkolonialisierung erhielten. Und sie war das
Rückgrat einer kommunistischen Weltbewegung, die gegen und mit
Sozialdemokraten und liberalen bürgerlichen Kräften in den Metropolen
ein "sozialdemokratisches Jahrhundert" erzwang. Sowjetunion wie
Kommunisten trugen wesentlich zur Zerschlagung des Faschismus bei.
Eine Epoche sozialer Revolutionen
Gerade deshalb: Über 1917 ist zu reden und zu streiten. Für ein
ausgewogenes Urteil sind beide Revolutionen dieses Jahres, die
Ereignisse von Bürger- und Interventionskrieg, der Übergang zur Neuen
Ökonomischen Politik und die Gründung der UdSSR als einheitlicher
revolutionärer Prozess zu begreifen. Im Februar 1917 waren
Arbeiterinnen, Arbeiter und Soldaten auf der Straße, gab es
Demonstrationen, Kämpfe, das Wetterleuchten der Revolution. Dass die
Bolschewiki im Oktober die Macht erringen konnten in einem wenig
spektakulären, doch wohl organisierten bewaffneten Aufstand hat etwas
mit Charakter und Grenzen des ersten revolutionären Schrittes zu tun.
Gedrängt vom Kampfgeist der Straße hatten bürgerliche Politiker und
gemäßigte Linke, zunächst der Partei der Sozialrevolutionäre, später
der Menschewiki, eine Provisorische Regierung gebildet. Die
Erwartungen an sie waren hoch: Republik, demokratische Freiheiten,
Linderung der Not, Lösung der Bodenfrage, nationale Befreiung der
benachteiligten und unterdrückten Völker - aber zuerst: Frieden!
Gleichzeitig wuchs von unten her eine neue Macht: basisdemokratisch
gewählte Sowjets. Sie waren radikaler als die Regierung. Zunächst
gelang der, die Sowjetbewegung zu dominieren. Aber sie löste nicht die
drängendsten Probleme. Demokratische Freiheiten waren gut, aber die
Regierung gab weder Antworten auf die Boden- noch auf die nationalen
Fragen. Hingegen setzte sie den Krieg fort, um mit territorialer Beute
zugunsten des russischen und Entente-Kapitals zu siegen.
Vor allem Frieden!
Die radikale Linke, die Bolschewiki, sah früher und schärfer die
Klassen-Grenzen dieser Regierung. Lenin setzte auf die Sowjets als
neue Machtorgane, er griff die Stimmungen der desertierenden Soldaten,
der streikenden Arbeiter, der landbesetzenden Bauern, der nationalen
Bewegungen auf: "Frieden, Brot, Freiheit und Land". Vor allem Frieden!
Diese Konsequenz zeitigte Erfolg. Die Bolschewiki gewannen Stimme um
Stimme die Mehrheit in den wichtigsten Sowjets, sie gewannen Arbeiter,
Soldaten und Bauern, und sie hatten mit revolutionären Truppenteilen
und Roten Arbeiter-Garden die Mittel, um die Kriegsverlängerer, die
längst die demokratischen Freiheiten mit Füßen traten, zu stürzen. Der
Oktober war kein Putsch, sondern die konsequente Fortsetzung der
Massenbewegungen. Der Sowjetkongress konnte zwar dekretieren, aber
Frieden, sozialer Wandel, neue Eigentumsverhältnisse, der Sieg in
Bürger- und Interventionskrieg war nur durch Enthusiasmus und
Opferbereitschaft der Massen möglich.
Frieden, Klarheit der Losungen, die Interessen der arbeitenden Menschen im Lande, das Setzen auf basisdemokratische Sowjets und eine mobilisierende Partei waren das Erfolgsrezept Lenins, das bis heute seine Gültigkeit besitzt.
Weg vom Krieg, weg vom Kapitalismus - aber schon
Sozialismus?
Zur Geschichte der Oktoberrevolution und des revolutionären Prozesses
gehört auch, - neben den wichtigen zivilisatorischen Leistungen der
Revolution, ihrer internationalen Beispielwirkung und der
friedenspolitischen Rolle des Realsozialismus
- die früh angelegten und sich im Lauf der Jahre ausbildenden
diktatorischen und repressiven Momente dieses Sozialismusversuchs zu
sehen. Sie ließen diesen Versuch stagnieren, nahmen ihm die Chance zu
einer selbstkritischen Entwicklung und sorgten dafür, dass ihm in der
Sowjetunion, in der DDR, Osteuropa viele den Rücken kehrten. Das
schmälert nicht den Anfang, die Notwendigkeit eines linken Ausbruchs
aus Krise und Krieg, bedeutet aber eine hohe Verantwortung für Linke,
aus der Geschichte zu lernen und immer wieder die Unterstützung und
die Mitgestaltung bei und mit denen zu sichern, die eine ausbeutungs-,
unterdrückungsfreie Gesellschaft erstreben.
Wir erleben heute weit stärker als vor einem Vierteljahrhundert den Vormarsch nationalkonservativer, rassistischer, mindestens faschistoider Kräfte. Die haben sich alle Ideen der bürgerlich konservativen Kräfte zu eigen gemacht, die 1989 vom Ende der Geschichte geträumt hatten. Aber sie reagieren auch auf die Unfähigkeit der Eliten, ihre neoliberale Politik mit demokratischer Fassade umzusetzen. Dafür bieten sie autoritäre Antworten und den Ausschluss von jenen, die als Sündenböcke herhalten sollen: Flüchtlinge, Sozialleistungsempfänger, Ausgegrenzte.
Schlimmer aber ist: Die heutige vielfältige und uneinige Linke versagt, hat den Kampfgeist verloren und wird nicht mehr als jene radikale Alternative angenommen (oder auch nur bekämpft), die seit 1917 ganz selbstverständlich als Kraft gegen den Kapitalismus, für soziale Gerechtigkeit und Frieden anerkannt wurde. Die "Aurora" wird sicher nicht in die Spree oder in den Potomac einlaufen, aber Kampfgeist, inspiriert von 1917, kann heute nicht schaden. Rosa Luxemburg hatte recht, als sie mit Hutten ausrief: Sie haben es gewagt!
Aktuell zum Thema erschienen von Stefan Bollinger folgende
Bücher: "Oktoberrevolution - Aufstand gegen den Krieg 1917-1922",
edition ost, 224 Seiten, 14,99 Euro; "Lenin", Reihe Basiswissen,
PapyRossa, 120 Seiten, 9,90 Euro
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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwanzigster Jahrgang, Nr. 21 vom 4. November 2017, Seite 745-747
Herausgeber: Matthias Biskupek, Rainer Butenschön, Daniela Dahn,
Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Otto Köhler
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Jürgen Krause (Korrektor)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
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Ossietzky wurde 1997 von Eckart Spoo begründet und erscheint
zweiwöchentlich.
Einzelheft 2,80 Euro, Jahresabo 58,- Euro
(Ausland 94,- Euro) für 25 Hefte frei Haus.
veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2017
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