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STANDPUNKT/008: Aktuelle Debatte über Neutralität und Verantwortung der Medienmacher (M - ver.di)


M - Menschen Machen Medien Nr. 1/2014
Medienpolitische ver.di-Zeitschrift

Journalist und Aktivist
Aktuelle Debatte über Neutralität und Verantwortung der Medienmacher

Von Ralf Hutter



Die NSA-Enthüllungen haben nach dem US-amerikanischen nun auch dem deutschen Journalismus Streit über sein Selbstverständnis beschert. Doch lässt die Debatte die wünschenswerte Konkretheit vermissen.

Nachdem sich Glenn Greenwald im Sommer wegen seiner Aufbereitung von Edward Snowdens NSA-Material für die britische Guardian mit der New York Times darüber streiten musste, inwieweit er eigentlich Journalist und inwieweit Aktivist ist, und nachdem das mit Zeit Online kooperierende deutsche Blog Carta das Thema mehrmals aufgegriffen hatte, sah Zeit Online kurz nach Weihnachten den Moment für eine eigene Positionierung gekommen. Anlass war Greenwalds Auftritt per Video beim Chaos Communication Congress. Die beiden Redakteure Kai Biermann und Patrick Beuth kritisierten Greenwald, er habe keine Distanz mehr zu "Aktivisten und Bürgerrechtlern" und fragten: "Kann jemand gleichzeitig Journalist und Aktivist sein? Der eine soll beobachten und beschreiben, der andere soll kämpfen und überzeugen."

Dieser Sichtweise wurde im Internet in den folgenden Wochen vor allem widersprochen. Neben großen freien Blogs (Annalist, Metronaut, Internet Law und vor allem Carta) schrieben auch Neues Deutschland und taz in Blogs gegen Biermann und Beuth an, ebenso Spiegel Online. Das NDR-Medienmagazin Zapp berichtete und verteidigte Greenwald. Nur die FAZ kommentierte ohne deutliche Stellungnahme.

Seltsam ist, dass die beiden Zeit-Autoren Greenwald kritisierten, obwohl sie seine journalistische Arbeit zur NSA in jeder Hinsicht ausdrücklich lobten. Jochen Wegner, Chefredakteur Zeit Online lehnte es jedoch ab, "dass Journalisten Akteure eines Themas sind, dem sie sich professionell widmen. Sie können nicht aktives Mitglied eines Verbandes sein, über dessen Aktionsgebiet sie berichten."

Pech also vor allem für ver.di-Mitglieder, da ihre Gewerkschaft in so vielen Branchen aktiv ist. Wegners Online-Artikel wurde in die Zeitung übernommen. Darin wiederholt er: "Journalisten streben wie Wissenschaftler nach Erkenntnis, ja nach Wahrheit", und fügt hinzu: "Aktivismus darf das nicht, sonst wäre er zahnlos. Ein Anwalt dient seinem Mandanten und nicht der Wahrheitsfindung." Das ist schlicht anmaßend. Die große Mehrzahl der "Aktivisten" hat sicherlich keine finanziellen Interessen und würde wahrscheinlich wie Wegner behaupten, sich erstens faktenorientiert (und nicht etwa aus religiösen Gründen) und zweitens für das Allgemeinwohl einzusetzen, Anwalt der Wahrheit zu sein.

Die Beschwörung der eigenen Redlichkeit ist also nur auf der Grundlage eines Zerrbilds von politischem Aktivismus möglich. Das Problem ist hier die Abstraktheit der Begriffe. Auch "den" Qualitätsjournalismus gibt es nicht. Von Nachricht und Bericht wird anderes erwartet als von einem Essay; das Feuilleton einer Zeitung will mehr als andere Ressorts unterhalten, kreativ und mutig sein. Besser wären konkrete Diskussionen: Warum fährt eine bestimmte Zeitung eine bestimmte Linie? Welche Begriffe verwendet sie, welche lehnt sie ab? Wie sollen wir es interpretieren, dass viele Journalisten großer deutscher Medien, darunter viele in leitenden Funktionen, in transatlantischen Diskussionszirkeln und Vereinen von Politik-Eliten Mitglied sind und sich das deutlich in außen- und militärpolitischen Meinungsartikeln niederschlägt, wie Uwe Krüger kürzlich in seiner Dissertation am Leipziger Institut für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung (IPJ) analysiert hat?

Den Zeit-Online-Redakteuren ist klar: "Kein Journalist ist neutral", wie Beuth an Greenwald twitterte. Dessen Antwort: "Sind dann nicht alle Aktivisten? Die Unterscheidung ist falsch, und wer sie macht, setzt Standards, die er nicht erfüllen kann."

Das liegt daran, dass es keinen Nullpunkt gibt, von dem aus jemand sprechen, keine für alle gültige Norm, von der jemand Abweichungen definieren könnte. Das Selbstverständnis von Journalismus unterscheidet sich oft nicht nur von Land zu Land, sondern auch historisch. So verfolgte Carta-Mit-Herausgeber Wolfgang Michal anlässlich dieser Debatte aktivistischen Enthüllungsjournalismus in Europa und den USA bis vor 1900 zurück und zeigt, dass es oft Leute von außerhalb der Medien waren, die in der Hinsicht für Furore sorgten. Sie prangerten Dinge an, die damals normal oder unangreifbar erschienen, die heute aber sicherlich von den meisten Medien angeprangert werden würden: Antisemitismus, Faschismus, Wirtschaftskartelle, elende Arbeitsbedingungen.

Eine weitere Differenzierung, die wir machen müssen: Die abstrakten Maßgaben für unser Berufsverständnis können nicht für alle Themen gelten. Wir dürfen nicht von Menschen verlangen, über Themen, die sie existenziell betreffen, dauerhaft ohne jeglichen Zungenschlag zu sprechen, und das dann als neutral bezeichnen. Das betrifft nicht nur die NSA-Enthüllungen, sondern auch die Tatsache, dass auch wir Journalisten uns in der globalen ökologischen und ökonomischen Dauerkrise eingerichtet haben. Der Autor Dirk Fleck hat 2012 das Buch "Die vierte Macht. Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten" veröffentlicht, für das er 25 Interviews mit Spitzenleuten deutscher Medien geführt hat. Er will zeigen, wie diese Medien beim Thema Klimawandel dauerhaft versagen, da sie die Brisanz unterschlagen.

Jeder Politik-Journalismus folgt Grundwerten. Das zeigt sich nicht nur an der Themenauswahl, sondern etwa auch am Fall NPD: Kaum ein Medium berichtet ohne deutlichen Unterton über sie. So wie die Pressefreiheit überall nur eine relative ist (irgendetwas ist immer verboten), akzeptieren wir das journalistische Zurückhaltungsgebot nur innerhalb eines gewissen Rahmens, der von unserer Weltsicht, unserer Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge abhängt. In unserem, deutschen Fall sind Diktatoren und Faschisten außerhalb dieses Rahmens. Wir haben alle einen bestimmten Horizont, und über den konkret, nicht über Berufsbilder müssen wir uns streiten.


Lesenswert:
www.carta.info/68699/die-angst-der-deutschen-journalisten-vor-dem-aktivismus/

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Quelle:
M - Menschen Machen Medien Nr. 1, Januar 2014, S. 7
Medienpolitische ver.di-Zeitschrift, 63. Jahrgang
Herausgeber:
ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Fachbereich 8 (Medien, Kunst, Industrie)
Bundesvorstand: Frank Bsirske/Frank Werneke
Redaktion: Karin Wenk
Anschrift: verdi.Bundesverwaltung, Redaktion M
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin
Telefon: 030 / 69 56 23 26, Fax: 030 / 69 56 36 76
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2014