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ALTERNATIVMEDIZIN/254: Symposium - Grenzen und Alternativen der Schulmedizin (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2019

Symposium
"Kein Anlass für Überheblichkeit"

von Horst Kreussler


Grenzen und Alternativen der Schulmedizin: Symposium der Kaiserin-Friedrich-Stiftung.

Seit einigen Jahren treten neben die aktuelle wissenschaftsorientierte Medizin ("Schulmedizin") alternative bzw. komplementäre Heilverfahren und -mittel. Auch Chirurgen erkennen entsprechende postoperative Heilwirkungen an (Deutsches Ärzteblatt 49/2018, C 815 ff.). Das 48. Symposium der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen in Berlin thematisierte diesen eventuellen Trend: "Schulmedizin - Grenzen und Alternativen". Der neue Stiftungs-Geschäftsführer Prof. Walter Schaffartzig sagte einleitend: "Zu Überheblichkeit der Schulmedizin gegenüber der Alternativmedizin besteht kein Anlass, eine pauschale Ablehnung wäre nicht richtig, vielmehr können wir voneinander lernen." Dass dies in der Praxis geht, zeigte Prof. Andreas Michalsen, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel-Krankenhaus Berlin: "Die Ärzte in meiner Abteilung verstehen beide Seiten und wenden alle modernen Mittel an."

In der Geschichte der Medizin gelte bereits Hippokrates als klassischer Begründer sowohl der Naturheilkunde wie auch der konventionellen Medizin. Zum umfangreichen Gebiet der Naturheilkunde zählte er zunächst traditionelle Verfahren wie Phytotherapie, Schröpfen, Blutegeltherapie oder aus anderen Kulturkreisen indische oder chinesische Medizin. Hinzu kämen die klassischen Verfahren teils in Anlehnung an altgriechisch-römische Vorbilder wie Hydro-, Balneo-, Thalasso- und Klimatherapie. Eine erhebliche Rolle spielten die beiden weiteren "besonderen Therapierichtungen" nach SGB V neben der Phytotherapie, die Homöopathie und die Anthroposophische Medizin. Alles zusammen zumal in den Medien genannt Erfahrungsheilkunde, sanfte Medizin, ganzheitliche Medizin. Insgesamt praktizierten über 16.000 Ärzte, meist Allgemeinmediziner, in Deutschland Naturheilverfahren, darunter rund 13.000 Akupunktur und über 7000 Homöopathie, allesamt als Zusatz-Weiterbildungen qualifiziert. Er selbst, so Michalsen, habe besonders gute klinische Erfahrungen gemacht mit schmerzlindernder Arthrosebehandlung durch Blutegelansatz, auch mit Akupunktur bei bestimmten Schmerzkategorien wie Menstruationsschmerz. Den häufigen Vorwurf mangelnder Untermauerung durch große Studien und den Verweis auf unsichere Placebowirkungen ("Imprecision Medicine") konterte er mit dem Argument: "The absence of evidence is no evidence of absence" und mit dem Zitat des Medizinredakteurs Dr. Werner Bartens (sinngemäß): Wissenschaftler (die sich anderen gegenüber äußerst streng geben) suchen oft nur die besten Argumente zur Bestätigung ihrer Vorurteile und stilisieren sich dann als Verfechter reiner Wahrheitssuche. Dennoch bestehen, so die Referentin Prof. Jutta Hübner (Jena), wie schon kürzlich Prof. Ingrid Mühlhauser (Hamburg), die Verfechter der Evidence-based Medicine darauf, dass sich alle Medizinrichtungen den gleichen strengen Kriterien unterwerfen.

Die weite Verbreitung der Naturheilkunde in den letzten Jahrzehnten zeigte Prof. Gustav Dobos (Direktor der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin an der Universität Duisburg-Essen) auf. Eigentlich sei der moderne Begriff "Integrative Medizin" sinnvoll, der konventionelle und komplementäre Methoden zusammenfasse. Denn: "Die Integrative Medizin schließt die Lücken der konventionellen Therapie, insbesondere mit Ordnungstherapie (lebensstilbezogen) und mit der aus den USA kommenden 'Mind-Body-Medizin' unter Einbeziehung der Psyche." Die nach heutigem Stand besonders sinnvollen Tätigkeitsfelder der Integrativen Medizin seien nach seiner langjährigen beruflichen Erfahrung Schmerztherapie, Gastroenterologie, Onkologie, konservative Orthopädie, Kardiologie und Psychotherapie. So solle z. B. die ergänzende (auch "supportive") Onkologie - in den USA anders als bei uns Standard - den Patienten helfen, die belastende konventionelle Therapie durchzuhalten. Trotz aller medizinischen Bemühungen sei aber die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen im europäischen OECD-Vergleich auf einen hinteren Platz gefallen, was wesentlich mit der ungünstigen Lebensweise zusammenhänge: "Dringend umsteuern!" - so sein Appell.

Aus medizinhistorischer Sicht untermauerte Prof. Dr. phil. Robert Jütte (Robert-Bosch-Stiftung Stuttgart) diese Entwicklung. Die (Wieder-)Einbeziehung naturmedizinischer Verfahren sei Teil der Modernisierung der Medizin seit Ende des 18. Jahrhunderts. Im 19./20. Jahrhundert habe es erst eine (naturwissenschaftlich-technische) Gegenbewegung gegeben, nun werde umgekehrt die Naturheilkunde wieder "salonfähig".

Aus medizinethischer Sicht übte schließlich Prof. Bettina Schöne-Seifert (Universität Münster) Kritik an einer von ihr beobachteten Rechthaberei beider Seiten: "Jede Seite schreibt sich Unparteilichkeit zu, bezichtigt aber die andere der Lüge", meinte sie. Den Boom der Alternativmedizin mit Stiftungsprofessuren und GKV-Satzungsleistungen erklärte sie auch mit häufigen Mängeln der wissenschaftlich orientierten Medizin in der Praxis: Theoretisch gut mit Kausalitätserklärung und Wirksamkeitskriterien, aber für Patienten durch zunehmenden Zeitdruck und andere Probleme nicht immer attraktiv. Probleme der Alternativmedizin sah sie vor allem durch unwirksame Therapien mit der Folge von Schädigungen durch Unterlassung. Zu diesem Punkt referierten Heilpraktiker-Vertreter und Medizinjuristen wie Prof. Jochen Taupitz und Dr. jur. Christoph Jansen eher kritisch: Haftung der Ärzte auch für Nutzen, der Heilpraktiker nur für Schaden. Den subjektiven Patientennutzen wie auch den Respekt vor der Patientenselbstbestimmung sah Schöne-Seifert hingegen als Positiva der Alternativmedizin. Speziell die Homöopathie bewertete sie kritisch, wie die Forderung des von ihr initiierten "Münsteraner Kreises" nach Abschaffung dieser Therapierichtung im ärztlichen Bereich belegt. Ob aber ihr Vorschlag, den Wortbestandteil Medizin zu vermeiden und statt Alternativmedizin von "unterstützenden Maßnahmen" zu sprechen, erfolgversprechend ist, ist die Frage. Könnte nicht eher ein vorsichtig-probatorisches Nebeneinander der Heilmethoden sinnvoll sein angesichts der Relativität allen menschlichen Wissens und der Wissenschaft? Darauf hat kürzlich eine wissenschaftstheoretische Vorlesungsreihe der Akademie der Wissenschaften in Hamburg hingewiesen: "Wissen im Widerstreit".


16.000
Ärzte, meist Allgemeinmediziner, praktizieren in Deutschland Naturheilverfahren.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201904/h19044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, April 2019, Seite 28
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2019

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