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RADIOLOGIE/312: Das neue Strahlenschutzgesetz (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 758-759 / 32. Jahrgang, 2. August 2018 - ISSN 0931-4288

Strahlenschutz
Das neue Strahlenschutzgesetz - Fortschreibung des Lehrgebäudes der Atomlobby

Von Inge Schmitz-Feuerhake, Gesellschaft für Strahlenschutz e.V.(*)


Nach langem Kampf der Antiatombewegung ist Deutschland aus der Atomenergie ausgestiegen. Es ist aber nach wie vor Mitglied der europäischen Gesellschaft EURATOM, einer Institution zur Förderung der Atomenergie. Diese hat mit Grundnormen-Richtlinien zum Strahlenschutz verbindliches europäisches Recht geschaffen, das die BRD in innerdeutsches Recht umsetzen muss. Grundlage für die Strahlenschutzvorschriften bilden dabei die Empfehlungen der internationalen Strahlenschutzkommission ICRP, die seit Langem wegen ihrer Betreiberfreundlichkeit und Verharmlosung von Strahlenrisiken bei Umweltgruppen in der Kritik steht. Besonders beachtet werden muss der mangelnde Strahlenschutz des ungeborenen Lebens.


Einleitung

Im Dezember 2013 wurde die Richtlinie 2013/59/EURATOM erlassen, um die Strahlenschutzgesetzgebung an neuere Erkenntnisse der ICRP anzupassen. Bislang gab es in der BRD eine Strahlenschutzverordnung, die auf Grundlage des Atomgesetzes erlassen worden war, sowie die Röntgenverordnung, die den Umgang mit ionisierender Strahlung in der Medizin regelte. Beide Verordnungen wurden ersetzt durch das neue Strahlenschutzgesetz von 2017. Die darin festgelegten Regelungen treten am 1. Januar 1919 in Kraft.

Ich möchte beginnen mit der Forscherin Marie Curie, die zwei Nobelpreise im Zusammenhang mit der Entdeckung der Radioaktivität erhielt: den ersten 1903 für Physik zusammen mit ihrem Mann Pierre Curie sowie ihrem Doktorvater Henri Becquerel, den zweiten für Chemie im Jahr 1911 als alleinige Preisträgerin. Anhand ihres erstaunlichen Werdeganges möchte ich auf Aspekte zu sprechen kommen, die üblicherweise weniger betrachtet werden.

Marie, geborene Sklodowska, konnte aus materiellen Gründen erst mit 24 Jahren das Studium der Physik in Paris beginnen, das sie im Alter von 27 Jahren abschloss. Anschließend heiratete sie den 7 Jahre älteren Physiker Pierre Curie und bekam mit 29 Jahren ihre Tochter Irène (die bekanntlich später ebenfalls Nobelpreisträgerin wurde). Auf der Suche nach einem Thema für ihre Promotion wandte sie sich an den Physikprofessor Henri Becquerel, dem eigentlichen Entdecker der Radioaktivität. Er hatte nämlich bei seiner Beschäftigung mit Uransalzen festgestellt, dass diese eine durchdringende Strahlung aussenden, die Luft ionisiert und Fotoplatten schwärzt.

Der Beitrag von Marie Curie bestand darin herauszufinden, dass es noch andere Elemente gab, die strahlen (Thorium). Vor allem aber entdeckte sie ein weiteres bis dahin unbekanntes strahlendes Element, das Polonium. Die Messungen der Strahlungsintensität erfolgten mit Elektrometern. Pierre Curie, der ein Spezialist für elektrostatische Messungen war, entschloss sich alsbald, in die interessante Forschung seiner Frau mit einzusteigen. Gemeinsam entdeckten sie das Element Radium.

Beide litten während dieser Zeit an rascher Ermüdung und rheumatischen Beschwerden. Als sie zusammen mit Becquerel den Nobelpreis erhalten sollten, fühlten sie sich zu schwach, um von Paris nach Stockholm zu reisen, um ihn entgegenzunehmen (!). Sie war damals 35 Jahre alt und er 42.

Wenige Monate nach ihrer Promotion 1903 erlitt Marie eine Frühgeburt. Dieses Kind, eine Tochter, starb wenige Stunden danach. In einem Brief an ihre Schwester drückt Marie die Vermutung aus, dass dieser Verlust mit ihrer Arbeit zusammenhängt, und sie fühlte sich schuldig. Gleichzeitig bittet sie sie aber, anderen nichts von ihrem Verdacht zu erzählen, da das entdeckte Radium schon geeignet erschien, für die Strahlentherapie gynäkologischer Tumore eingesetzt zu werden. Damit geriet sie in den typischen Zielkonflikt, nämlich wegen des Fortschritts der Wissenschaft und der vorteilhaften Anwendungsmöglichkeiten für die Menschheit die möglichen Nebenwirkungen der Entdeckungen zu ignorieren. 15 Monate später bekam sie eine zweite gesunde Tochter.

Ihr Ehemann Pierre kränkelte auch während der folgenden Jahre. Müdigkeit, Abgeschlagenheit und wiederkehrende depressive Verstimmungen wurden zum Dauerzustand. 1906 lief er auf der Straße in eine fahrende Pferdekutsche und starb durch eine Kopfverletzung, da war er 46 Jahre alt. Wir wissen heute - vor allem durch die Erfahrungen nach Tschernobyl - dass chronische Niederdosisbestrahlung messbar auf das Gehirn einwirkt. Ich bin überzeugt, dass der Tod von Pierre nicht ein schlichter Verkehrsunfall war, sondern mit seinem Geisteszustand durch die ständige Strahlenbelastung zusammenhängt.

Marie durfte seine inzwischen erhaltene Professur an der Sorbonne übernehmen. Nur ihrer ungeheuren Selbstdisziplin und ihrer Leidenschaft für die Forschung ist es wohl zu verdanken, dass sie die Arbeiten trotz mannigfacher gesundheitlicher Probleme immer wieder fortsetzen konnte. Nach der Verleihung des Nobelpreises für Chemie 1911, den sie für die Reindarstellung des Elementes Radium bekam, erlitt sie einen Zusammenbruch, dem ein längerer Klinikaufenthalt und eine mehrmonatige Kur- und Erholungszeit folgten.

Im Folgenden erlitt sie eine Nierenoperation, bekam Hör- und Sehstörungen, und musste viermal an den Augen operiert werden. Auf Fotos, die sie im Alter von 60 zeigen, sieht sie aus wie eine Greisin. Sie starb mit 66 Jahren an Leukämie. Sie hatte sich ausschließlich mit natürlich vorkommender Radioaktivität beschäftigt. Ihr Doktorvater Becquerel wurde nur 55 Jahre alt, er starb an einem Herzinfarkt. Maries Tochter Irène, die sich der Erzeugung künstlich geschaffener Radioisotope zuwandte, starb mit 58 Jahren an Leukämie, ihr Ehemann und Forscherkollege Frédéric Joliot wurde ebenfalls nur 58 Jahre alt.

Anhand dieser Familiengeschichte wird eine große Vielfalt gesundheitlicher Beeinträchtigungen offenbar, die durch chronische Niederdosisbestrahlung am Arbeitsplatz entstehen kann. Offiziell und sozusagen im Volksmund ist aber praktisch nur von dem Krebsrisiko die Rede. Der Grund ist in der Auswahl der Experten zu sehen, die internationale Strahlenschutzempfehlungen verfassen.

Erst 1928 wurde das erste internationale Schutzkomitee für Anwendungen von Röntgen und Radium in der Medizin geschaffen, dessen Aufgaben 1950 um den Strahlenschutz in Nuklearanlagen und deren Umgebung erweitert wurden.

Das Komitee wurde umbenannt in International Commission on Radiological Protection (ICRP) und seine Mitgliederzahl wurde erhöht. Ernannt wurden die Mitglieder durch den Internationalen Radiologenkongress (ICR), der keine Beeinträchtigung für den Umgang mit diagnostischen Röntgenstrahlen wünschte. Anfang der 1960er Jahre, als die oberirdischen Atomwaffentests durch die USA, England, Frankreich und die Sowjetunion stattfanden und zu weltweiter Verseuchung mit Radioaktivität führten, war eine große Anzahl der ICRP-Mitglieder für die Atomwaffenindustrie tätig. Im Folgenden nahm die International Atomic Energy Agency (IAEA) großen Einfluss, eine Einrichtung der Vereinten Nationen zur Förderung der Atomenergienutzung.

Die Verharmlosung von Strahlenschäden ist dann erkennbar, wenn man die wissenschaftlichen Ergebnisse in ihrem heute vorhandenen Umfang mit den Angaben und Empfehlungen der ICRP vergleicht. Diese ist - wie gesagt - normgebende Institution für unsere Strahlenschutzgesetzgebung. Die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK), Beraterin des Bundesumweltministers, ist bis auf wenige Ausnahmefälle voll auf der Linie der ICRP.

Dosis als Maß für den Strahleneffekt und Dosisleistung

Als Maß für den Strahleneffekt gilt die Dosis in Sievert (Sv). Sie geht aus von der absorbierten Strahlungsenergie pro Kilogramm Gewebe. Für Röntgen- und Gammastrahlen entspricht 1 Sv einer absorbierten Energie von 1 Joule pro Kilogramm (J/kg). Niedrige Dosen, um die es bei den Dosisgrenzwerten im Strahlenschutzgesetz geht, werden in Millisievert angegeben (1 Sv = 1000 mSv). Beispiele für geringe Strahlendosen sind in Tabelle 1 aufgeführt.


Tabelle 1: Bestrahlung des Menschen durch natürliche und zivilisatorische Strahlenquellen


Die Euratom-Richtlinie basiert auf Empfehlungen der ICRP aus dem Jahr 2007, bei denen wesentliche Erkenntnisse über Niederdosiseffekte aus den letzten Jahrzehnten nicht berücksichtigt werden. Die ICRP lässt praktisch nur die Ergebnisse von den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als Referenzwerte für Strahlenfolgen gelten. Diese waren einer blitzartigen Bestrahlung von hoher Dosisleistung (Dosis pro Zeiteinheit) ausgesetzt. Man hat früher angenommen, dass eine Dosis bei hoher Dosisleistung wirksamer ist als eine gleich große kumulative nach einer Langzeitbestrahlung. Das trifft zu bei der Strahlentherapie, bei der es darauf ankommt, möglichst viele Tumorzellen abzutöten, nicht aber bei der Krebserzeugung. Diese beruht auf Mutationen in Zellen, die noch weiterleben und sich entsprechend unkontrolliert vermehren können.

Strahlenschäden bei niedriger Dosis im Überblick und Bewertung

Inzwischen liegen umfangreiche internationale Studien an Arbeitern aus dem Nuklearbereich vor, die zeigen, dass diese innerhalb der gesetzlich zulässigen Dosisgrenzwerte messbar erhöht an Krebserkrankungen leiden und genau das Umgekehrte zeigen, nämlich dass bei niedriger (chronischer) Strahlenbelastung am Arbeitsplatz höhere Krebsrisiken vorliegen als bei den Atombombenüberlebenden.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) hatte zum Entwurf des Strahlenschutzgesetzes Forderungen aufgestellt. Die EU-Richtlinie versteht sich nämlich als Rahmenvorschrift, und den einzelnen Mitgliedstaaten sind verschärfte Strahlenschutzmaßnahmen gestattet, sofern sie der Richtlinie nicht widersprechen. Tabelle 2 ist den Forderungen des BUND entnommen, sie enthält stichpunktartig die Kritik an den Einschätzungen der ICRP über die gesundheitlichen Folgen.


Tabelle 2: Zu erwartende Gesundheitsschäden nach Exposition einer Bevölkerung mit niedriger Dosis, Angaben nach ICRP und Bewertung

Spalte 2 der Tabelle enthält die Angaben zu strahlenbedingten Krebserkrankungen. Diese - genauer gesagt Krebstode - gehören nach ICRP jedoch immerhin zu den "stochastischen" Schäden. Das heißt, sie können auch bei beliebig kleiner Dosis auftreten. Wenn man eine Bevölkerung (im Mittel oder jeden einzelnen) mit einer Dosis von 1 Sv bestrahlt, werden nach ICRP 5,5 Prozent davon einen zusätzlichen strahlenbedingten Krebstod erleiden. Wenn man die Dosis halbiert, noch die Hälfte davon, usw., das heißt es wird kein unschädlicher Dosisbereich angenommen, keine sogenannte Schwellendosis. Die Vorstellung dabei ist, dass ein einzelnes Strahlenquant eine maligne Zellveränderung hervorrufen kann. Jede zusätzliche Strahlendosis durch eine zivilisatorische Maßnahme (früher zum Beispiel: Bau eines Atomkraftwerks) würde daher in einer größeren Bevölkerung zusätzliche Krebstode hervorrufen. Zur ethischen Rechtfertigung solcher Maßnahmen bemüht die ICRP den Vergleich mit der natürlichen Strahlenbelastung (Tabelle 1).

Die absoluten Zahlen zum Krebsrisiko aber werden durch die ICRP klein gehalten, in dem man Bezug auf die Atombombenüberlebenden nimmt und das Ergebnis halbiert wegen eines angeblich bestehenden Dosisleistungseffekts (dies ist eine der wenigen Annahmen, die auch von der deutschen Strahlenschutzkommission und dem Bundesamt für Strahlenschutz nicht mehr mitgetragen werden, ohne dass dies jedoch zu Änderungen im neuen Strahlenschutzgesetz geführt hat).

Weitere Erkenntnisse der internationalen Forschung darüber, dass bei Erwachsenen Kreislauf- und andere systemische und organische Erkrankungen durch niedere Strahlendosen erzeugt werden, führten bei der ICRP bislang nicht zu erweiterten Schutzmaßnahmen (Spalte 5 in Tabelle 2). Derartige Spätfolgen wurden auch bei den Atombombenüberlebenden festgestellt, deren mittlere Organdosis etwa 200 mSv beträgt. Trotzdem behauptet die ICRP, diese Befunde seien unter 500 mSv noch nicht endgültig bestätigt, und führt einen "praktischen" Schwellenwert in dieser Höhe ein. Damit liegen derartige Erkrankungen bei Arbeitnehmern jenseits aller Möglichkeiten, innerhalb des gültigen Dosisgrenzwertsystems als berufsbedingt anerkannt zu werden (Grenzwert für die Arbeitszeitdosis 400 mSv).

Genetische Strahlenschäden

Das genetische Strahlenrisiko, das heißt die Schädigung der Nachkommen nach Bestrahlung der Eltern, galt früher als Hauptproblem des Strahlenschutzes, da strahleninduzierte Mutationen durch den Genetiker und Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller in den 1920er Jahren als stochastische Schäden erkannt worden waren. Es ist aber kaum möglich, das Strahlenrisiko für nachfolgende Generationen quantitativ einzuschätzen. Es wird von der ICRP neuerdings herunterdekliniert (Spalte 3 in Tabelle 2 oben) mit der Behauptung, es gebe keine wissenschaftliche Evidenz für einen solchen Effekt beim Menschen bei niedriger Dosis.

Dies ist nur möglich unter Ausblendung zahlreicher internationaler Forschungsergebnisse, insbesondere über die Folgen der radioaktiven Bestrahlung von Tschernobyl.

Aufgrund von Forschungsergebnissen aus Tierversuchen und Beobachtungen beim Menschen muss mit folgenden Erbschäden bei den Nachkommen bestrahlter Eltern durch ionisierende Strahlung gerechnet werden:

1. schwerwiegende Entwicklungsstörungen (Aborte, geringes Geburtsgewicht, perinatale Sterblichkeit, früher Kindstod, Fehlbildungen, Unfruchtbarkeit, durch Chromosomen- oder Genanomalien bedingte Krankheiten wie Downsyndrom)

2. Krebs im Kindes- oder Erwachsenenalter

3. Immunschwäche und multiple Degenerationserscheinungen

Alle diese Effekte sind in europäischen Gegenden, die vom Tschernobylfallout betroffen waren, gefunden worden und teilweise auch in Studien nach diagnostischem Röntgen sowie bei Nachkommen von beruflich exponierten Personen.

Die ICRP bezieht sich auf Beobachtungen an den japanischen Atombombenüberlebenden und auf Studien an Nachkommen von Eltern, die sich im früheren Leben einer Strahlentherapie unterziehen mussten. In beiden Fällen lag eine Kurzzeitbestrahlung vor. Für die Mutationsentstehung in den Keimzellen ist jedoch der Zeitpunkt der Bestrahlung vor Konzeption von großer Bedeutung. Dies gilt besonders für die Spermatogenese.

Bei der Betrachtung des genetischen Strahlenrisikos ist es daher sehr wichtig, den Unterschied zwischen einer akuten und einer chronischen Exposition, wie sie bei Umweltkontaminationen und an Arbeitsplätzen vorliegt, zu beachten.

Die Stammzellen der Spermien in den Gonaden (Stamm-Spermatogonien) sind relativ unempfindlich gegenüber Strahlenwirkungen bzw. verfügen über gute Reparatursysteme bei Mutationen im Erbmaterial. Bis zur Entstehung der reifen Spermien durchlaufen die Tochterzellen verschiedene Entwicklungsstadien. Aus den B-Spermatogonien, die in die Hodenkanälchen gelangen, entstehen Spermatozyten, die durch Reifeteilung in solche mit halbem Chromosomensatz übergehen (haploid). Die weiteren Tochterzellen verwandeln sich zu Spermatiden und schließlich zu reifen Spermien. Die Zeitdauer der Spermatogenese beträgt etwa 86 Tage.

Die Stadien der Spermatozyten und Spermatiden sind um ein Vielfaches strahlenempfindlicher als die Stammzellen und auch als die reifen Spermien. Erstere kommen bei strahlentherapierten Eltern naturgemäß nicht zur Wirkung und waren auch bei den Atombombenüberlebenden wahrscheinlich nicht relevant. Hinzu kommt, dass die systematische Untersuchung der gesundheitlichen Folgen im Hiroshima-Forschungsinstitut erst 5 Jahre nach den Explosionen begann.

Bei chronischer Strahlenexposition von Männern werden ständig alle Stadien der Spermatogenese bestrahlt. Dadurch erklärt sich das relativ hohe Aufkommen von Fehlbildungen und anderen Geburtsfehlern in den durch Tschernobylfallout betroffenen Bevölkerungen.

Beim Vergleich mit den japanischen Daten wird ein weiterer wichtiger Punkt in den offiziellen Bewertungen nicht beachtet. Die Datenerhebung in der Kohorte der Atombombenüberlebenden in Bezug auf die Nachkommen war besonders unzuverlässig, weil sie eine gesellschaftlich ausgestoßene und geächtete Population darstellten. Um die Heiratschancen ihrer Kinder nicht zu gefährden, wurde ihre Herkunft möglichst verschwiegen und die potentiellen Schädigungen wurden von vielen Eltern nicht angegeben.

Auch mit Stammzellmutationen muss aber gerechnet werden, wie eine bislang unbeachtete Arbeit aus Deutschland zeigt. Herrmann u.a. untersuchten 61 Kinder von 47 Paaren, bei denen ein Elternteil eine Strahlentherapie erhalten hatte, über einen Zeitraum bis zu 20 Jahren. Es handelte sich um Bestrahlungen mit Gonadendosen zwischen 10 und 2000 mSv. Gegenüber dem Normalkollektiv zeigten sich eine erhöhte Frühgeburtlichkeit und eine Verzögerung der Skelettentwicklung. "2 der Kinder (3,3%) waren vor der 37. Schwangerschaftswoche mit schweren Fehlbildungen geboren worden und verstarben noch im 1. Lebensmonat (Atemnotsyndrom, Trisomie E)." Insgesamt traten 61 leichte und schwere Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen auf (bei einigen Kindern traten mehrfache Anomalien auf). Dazu geben die Autoren an: "Dabei fallen neben einer schweren Fehlbildung im Handbereich, eine angeborene Taubheit, eine Innenohrschwerhörigkeit sowie eine einseitige Blindheit als besondere, die Lebensqualität einschränkende Normabweichung auf."

Insgesamt wurden also mit diesen vier "schwereren Malformationen" und den genannten beiden früh verstorbenen mit schweren Fehlbildungen sechs klinisch schwerere oder schwere Fehlbildungen registriert, was mit einer Quote von fast 10 Prozent eine deutliche Erhöhung gegenüber normal darstellt. Auffällig war weiterhin die große Anzahl von Hernien (Nabel- und Leistenbrüche) - 16 Hernien bei 13 Kindern (21,3 Prozent der Kinder waren betroffen).

In West-Berlin, welches 1986 zur Zeit der Tschernobylkatastrophe eine Art geschlossene Insel bildete, fand der Humangenetiker Sperling einen auffälligen signifikanten Anstieg von Downsyndromfällen exakt 9 Monate nach dem Reaktorunfall. In anderen kontaminierten Gegenden Deutschlands und Europas ergaben sich ebenfalls Anstiege von Downsyndrom. Die zu Grunde liegende Mutation (Trisomie 21) bei dieser Erbkrankheit wird durch Strahlung kurz vor oder nach der Konzeption erzeugt.

Schäden nach Bestrahlung im Mutterleib

Es ist heute anerkannter Erkenntnisstand, dass vorgeburtliche Exposition durch diagnostisches Röntgen Leukämie und andere Krebserkrankungen auslöst. Die ICRP schätzt dieses Krebsrisiko als gleich hoch ein wie dasjenige nach Exposition im frühen Kindesalter (das wiederum etwa dreimal so hoch sein soll wie im Durchschnitt in der Bevölkerung insgesamt). Das Risiko bei Exposition in utero (Tabelle 2, Spalte 4) wird nicht gesondert berücksichtigt, sondern durch den Dosisgrenzwert für die Bevölkerung als hinreichend niedrig erachtet. Ansonsten geht die ICRP neuerdings von einem unschädlichen Dosisbereich von 100 mSv aus.

Schon in den frühen Zeiten der Strahlenforschung war bekannt, dass zwei weitere Klassen von Schädigungen zu erwarten sind: a. das vorzeitige Absterben der Frucht in utero und eine Erhöhung der perinatalen Sterblichkeit, b. Missbildungen von Organen oder des Körperbaus und fehlerhafte Organfunktion. Die Effekte sind naturgemäß sehr stark vom Entwicklungsstadium bei Exposition abhängig. Im Tierversuch sind sie auch unterhalb von 100 mSv nachweisbar.

Auch für die Atombombenüberlebenden werden erhöhte Schädigungsraten angegeben, obwohl diese ja nur zum Zeitpunkt der jeweiligen Katastrophe bestrahlt wurden, so dass man kaum glauben kann, dass man über die Ausgänge damaliger Schwangerschaften nachträglich seriöse Auskünfte erhalten konnte. Festgestellt wurde eine erhöhte Fallzahl geistiger Behinderung und eine dosisproportionale Senkung der IQ-Werte bei den im Folgenden geborenen Kindern. Ein unschädlicher Dosisbereich lässt sich daraus nicht ableiten, schon gar nicht in einer Höhe von 100 mSv. Dieser Wert ist auch angesichts der Daten aus der Tschernobylforschung vollkommen unangemessen.

Nach dem Tschernobylunfall 1986 wurde in zahlreichen deutschen und internationalen Studien aufgezeigt, dass nicht nur in den Nachbarländern der zerstörten Anlage, sondern auch in weiter entfernten europäischen Staaten die Fehlbildungsraten anstiegen und die perinatale Sterblichkeit erhöht war. Ferner zeigten sich nach Exposition im Mutterleib bei den Jugendlichen Störungen der Intelligenz, wie es nach den Befunden in Hiroshima und Nagasaki zu erwarten war. Wertelecki und Mitarbeiter fanden in den Jahren 2000 bis 2009 - also mehr als 14 Jahre nach dem Unfall - in der Ukraine noch über 50 Prozent erhöhte Fehlbildungsraten, und zwar in der hochverstrahlten nördlichen Provinz Rivne. Diese werden von ihnen als in utero erzeugt aufgefasst.

In Deutschland wird an der Universitätskinderklinik Mainz ein lokales Geburtenregister über angeborene Fehlbildungen geführt (ein deutsches Gesamtregister fehlt). Im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz führten Wiesel u. a. damit eine Untersuchung an strahlenexponierten Frauen durch. Bei deren Kindern zeigte sich eine 3,2-fach erhöhte Rate an Fehlbildungen, die die Autoren auf die Exposition während der Schwangerschaft zurückführen. Man hätte erwarten können, dass ein solches Ergebnis, das zwar nur auf 4 Fällen beruht, die aber sämtlich sehr schwerwiegend sind, zumindest zu umfangreicheren Folgeuntersuchungen geführt hätte. Das ist aber nicht der Fall. Der BUND hält diesen Befund eher für einen genetischen Effekt, in jedem Fall ist er keinesfalls kompatibel mit den Annahmen der ICRP.

Schlussbemerkungen

Die gefundenen Effekte nach Tschernobyl werden offiziell einfach bestritten, indem man behauptet, die Bevölkerungsdosis sei viel zu klein gewesen, um erkennbare Strahlenfolgen zu verursachen. Die Strahlendosis bei Umweltradioaktivität kann aber nicht direkt gemessen werden, sondern wird über Modellrechnungen mit vereinfachten Annahmen über die Ausbreitung der Radionuklide und ihr Verhalten im menschlichen Stoffwechsel abgeschätzt. Die Unsicherheiten bei den Ergebnissen sind unbekannt. Zahlreiche Bestimmungen von Mutationen in Zellen der betroffenen Bevölkerungen, die als "biologische Dosimetrie" angesehen werden können, beweisen aber, dass die offiziellen Angaben viel zu niedrig liegen.

Die Vielfältigkeit der in utero auslösbaren Strahleneffekte erfordert einen Strahlenschutz über das Krebsrisiko hinaus. Selbst wenn die teratogenen Schädigungen nicht zu den stochastischen Effekten zu zählen sind, können diese offensichtlich durch sehr niedrige Dosen weit unterhalb von 100 mSv erzeugt werden. Die skandalöse Leugnung der hohen Strahlenempfindlichkeit von Embryonen und Föten sowie des genetischen Risikos darf nicht hingenommen werden.

Der BUND hatte Gelegenheit, seine Kritik in einer öffentlichen Anhörung des Umweltausschusses des Bundestages am 27. März 2017 vorzutragen. Allerdings war politisch schon von vornherein klar, dass der Gesetzgeber beabsichtigte, die EU-Richtlinie eins zu eins in das deutsche Recht umzusetzen. Den Forderungen des BUND hat sich nur die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke angeschlossen.

Mit dem Ausstiegsbeschluss ist der Einfluss der Atomlobby auf die Standardsetzung im Strahlenschutz nicht beendet worden. Es bleibt eine wichtige Aufgabe, den Widerstand gegen überkommene Verharmlosungen im offiziellen Strahlenschutz fortzusetzen.

(*) Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake,
www.strahlenschutz-gesellschaft.de, mit freundlicher Genehmigung aus Tagungsband "Offene Akademie - Fortschrittliche Wissenschaft und Kultur". Gelsenkirchen März 2018.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Vortrag im Rahmen der 10. Offenen Akademie.


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Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_18_758-759_S01-05.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, August 2018, Seite 1-5
Herausgeber und Verlag:
Strahlentelex
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Telefon: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2018

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