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UMWELT/240: Das genetische Strahlenrisiko (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
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Nr. 656-657 / 2013 / 28. Jahrgang, 1. Mai 2014

Strahlenfolgen
Das genetische Strahlenrisiko - ein sträflich vernachlässigtes Problem bei der Folgenabschätzung atompolitischer Maßnahmen

Von Inge Schmitz-Feuerhake*



Das genetische Strahlenrisiko wird von der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP, dem normgebenden Gremium für unsere Strahlenschutzgesetzgebung, als äußerst gering eingeschätzt. Dies ist nur möglich unter Ausblendung zahlreicher wissenschaftlicher Befunde, denn zu erwarten sind u.a. Schädigungen der Frucht und Totgeburten sowie Fehlbildungen und Krebserkrankungen bei den Kindern, wenn die Keimdrüsen der Eltern vor Konzeption einer Bestrahlung ausgesetzt waren. Eine Zusammenstellung solcher Ergebnisse wird vorgestellt, die nach beruflicher Exposition, nach diagnostischen Bestrahlungen sowie bei radioaktiven Umweltkontaminationen und insbesondere nach Tschernobyl erhoben wurden. Ein neues Schutzkonzept für nachfolgende Generationen muss gefordert werden.


Herman Joseph Muller entdeckte in den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass Röntgenstrahlen mutagen sind. Man kannte damals bereits die Chromosomen als Träger des Erbmaterials und als eine direkte Strahlenwirkung hatte man sichtbare Änderungen an den Chromosomen festgestellt - Änderungen der Form und der Anzahl. Mullers Beitrag bestand insbesondere darin, dass er Missbildungen und frühe Sterblichkeit bei den Nachkommen bestrahlter Eltern fand. Sein Studienobjekt war die Taufliege wegen der vielen Generationen, die man in kurzer Zeit untersuchen kann.

Muller, der für diese Erkenntnisse 1946 den Nobelpreis für Medizin erhielt, schloss aus seinen Untersuchungen, dass selbst kleinste Strahlendosen wie auch die natürliche Hintergrundstrahlung mutagen sind.

1955 zur Genfer Atomkonferenz war der berühmte Strahlenforscher als Festredner vorgesehen. Dort wollte US-Präsident Eisenhower das Programm "Atoms für Peace" ausrufen, den Einstieg der Industrienationen in das Zeitalter der sogenannten friedlichen Verwendung der Atomenergie.

Rechtzeitig merkte man jedoch, dass Muller ein Bedenkenträger war gegenüber zusätzlichen ionisierenden Strahlungsquellen, und deshalb wurde er wieder ausgeladen. Diese Tradition hat sich bis heute erhalten.

Die Internationale Strahlenschutzkommission ICRP, das normgebende Gremium für unsere Strahlenschutzverordnung, behauptet, es gebe keinen direkten wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass Kinder von bestrahlten Eltern Erbkrankheiten haben. Im Jahr 2007 hat sie ihre Abschätzung für das genetische Strahlenrisiko auf einen sehr kleinen Wert gesenkt.

Prinzipiell muss man aber, wie man aus Tierversuchen und Beobachtungen beim Menschen weiss, mit den folgenden Schädigungen rechnen:

  1. Absterben der Frucht, Totgeburten, Säuglingssterblichkeit, früher Tod
  2. Fehlbildungen der Gliedmaßen und Organe, Stoffwechselstörungen, durch Chromosomen- oder Genanomalien bedingte Krankheiten
  3. Krebs im Kindes- oder Erwachsenenalter
  4. Immunschwäche und multiple Degenerationserscheinungen

Nach dem Tschernobylunfall sind in vielen kontaminierten Gebieten erhöhte Raten an Totgeburten und frühkindlichen Todesfällen registriert worden. Ebenso sind zahlreiche Untersuchungen über kongenitale (angeborene) Fehlbildungen und andere Entwicklungsstörungen gemacht worden, siehe Tabelle 1.

Tabelle 1: Anstiege von Fehlbildungen bei Neugeborenen nach dem Tschernobylunfall


Diese Effekte werden von den meisten Autoren für solche gehalten, die durch Bestrahlung von Embryonen und Föten im Mutterleib entstehen. Tatsächlich kann man bei Bestrahlung einer Bevölkerung die Folgen solcher vorgeburtlichen Expositionen nicht sämtlich von genetisch induzierten unterscheiden.

Nun ist es natürlich so, dass nach Tschernobyl Effekte im Mutterleib nicht jahrelang anhaltend erhöht bleiben können oder womöglich noch ansteigen, weil die Falloutbelastung im Körper abnimmt und auch die Nahrungsmittelkontamination.

Bemerkenswert ist, dass in der Ukraine von Wertelecki in der hochverstrahlten nördlichen Provinz Rivne mehr als 14 Jahre nach dem Unfall noch über 50 Prozent erhöhte Fehlbildungsraten gefunden werden (Tabelle 1). Er interpretiert das als Effekt im Mutterleib. Plausibel wäre jedoch, das als genetische Folge anzusehen.

In Weißrussland gibt es seit 1983 ein zentrales Register für Fehlbildungen und andere Geburtsfehler. Das wurde also bereits vor Tschernobyl eingerichtet und man registriert dort über Jahre ansteigende Fehlbildungen, die als genetisch induziert gelten.

Tabelle 2: Erhöhung der Rate angeborener Fehlbildungen in weissrusischen Gebieten (Lazjuk 1997)


Tabelle 2 enthält Ergebnisse der letzten mir bekannten Veröffentlichung, in der auch die Arten der Fehlbildungen spezifiziert werden.

Die Autoren halten diese Fehlbildungen auch deshalb für genetisch bedingt, weil sie solche Entwicklungsstörungen gesondert untersucht haben, die mit einer erkennbaren Genmutation einhergehen, die bei den Eltern nicht vorliegt. Auch diese Fehlbildungen waren erhöht. Dabei kann es sich nur um eine Mutation zwischen den Generationen handeln (Lazjuk 1999).

Ein weiteres verstrahltes Gebiet, in dem noch lange Zeit nach der Kontamination erhöhte Fehlbildungraten in der Bevölkerung festgestellt wurden, ist das ehemalige Atomtestgebiet der Sowjetunion bei Semipalatinsk, jetzt Kasachstan (Sviatova 2001).

Von Interesse sind natürlich solche Ergebnisse, bei denen entweder exponierte Väter oder exponierte Mütter und deren Kinder untersucht werden, weil die Expositionen von Vätern und Müttern unterschiedliche Auswirkungen haben. In Tabelle 3 sind Untersuchungen aufgeführt, die die Nachkommen beruflich exponierter Männer betreffen.

Tabelle 3: Angeborene Anomalien, Fehlbildungen bei Nachkommen beruflich strahlenexponierter Männer


Im Zeitraum vor dem Tschernobylunfall 1986 gab es nur wenige Untersuchungen über Strahlenschäden bei beruflich exponierten Kollektiven, daher auch kaum solche an deren Nachkommen. Man hielt die Exposition innerhalb der zulässigen Grenzwerte für hinreichend gering, um statistisch erkennbare Schädigungen auszuschließen. Krebs- und andere Erkrankungen als Folge der Arbeit im erlaubten Dosisbereich sind inzwischen ein anerkanntes Risiko.

Die angegebenen Dosen bei den Beschäftigten in Nuklearanlagen (Nr. 2 und 3 in Tabelle 3) sind sehr gering. Der Befund in Hanford führte in der Fachwelt zu erheblichen Zweifeln, konnte aber letztlich nicht wegdiskutiert werden. Diese Arbeiten führten trotzdem nicht zu großangelegten Folgeuntersuchungen.

Als "Liquidatoren" bei Tschernobyl wurden etwa 800.000 vorwiegend junge Männer der Armee und anderer staatlicher Einrichtungen sowie Reservisten eingesetzt, um Strahlenschutzmaßnahmen am Unfallreaktor und Aufräumarbeiten vorzunehmen. Sie bilden eine sehr große Gruppe, an der die Gesundheit der Nachkommen studiert werden kann (Nr. 5, 6, 7 in Tab.3). Bei ihnen zeigen sich erschreckend hohe Fehlbildungsraten und andere Geburtsfehler.

Über Letalfaktoren und Down-Syndrom haben meine Vorredner schon berichtet.†

Krebserkrankungen als genetischer Strahleneffekt wurden in den 1990-er Jahren heftig diskutiert, als es um die Leukämien bei der britischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield ging. Diese waren von Gardner und Mitarbeitern als genetischer Effekt gedeutet worden, da sich zeigte, dass die Väter der betroffenen Patienten in der Anlage gearbeitet hatten (Gardner 1990). Das Ergebnis ist in mehreren Folgestudien bestätigt oder auch angeblich widerlegt worden. Dabei waren derartige Effekte prinzipiell aus Tierversuchen bekannt (Nomura 1982, 2006) und bereits nach beruflicher Exposition und diagnostischem Röntgen gefunden worden (Tabelle 4).

Tabelle 4: Krebserkrankungen bei Kindern nach Niederdosisbestrahlung von Eltern vor Tschernobyl


Statistische Erhebungen in Weißrussland und anderen hoch kontaminierten Regionen in den Anrainerstaaten von Tschernobyl haben Anstiege der Krebsmortalität bei Kindern ergeben, die Jahre nach dem Unfall geboren wurden (Pflugbeil 2006; Yablokov 2006, 2007). Kinder von Liquidatoren litten ebenfalls vermehrt an Leukämie und anderen Krebserkrankungen (Pflugbeil 2006).

Bei den Kindern der Liquidatoren wurden nicht nur Fehlbildungen und Krebs nachgewiesen, sondern auch andere Folgen wie endokrinologische und metabolische Erkrankungen sowie psychische Störungen (Tsyb 2004; Pflugbeil 2006; Yablokov 2007).

Im weißrussischen Nationalregister wurden 1995 erhöhte Inzidenzen für folgende Erkrankungsgruppen bei den Kindern von tschernobylbelasteten Eltern festgestellt (Lomat 1997):

- Blutkrankheiten (6-fach)
- Endokrine Erkrankungen (2-fach)
- Erkrankungen der Verdauungsorgane (1,7-fach)

Zur Frage, inwieweit genetische Schäden über die Keimbahn der Mütter induziert werden können, gibt es eine interessante Arbeit aus Deutschland. An der Universitätskinderklinik Mainz wird ein Geburtenregister über angeborene Anomalien geführt. Im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz erfolgte dort eine Untersuchung an strahlenexponierten Frauen. Bei deren Kindern zeigte sich eine 3,2-fach erhöhte Rate an Fehlbildungen (Wiesel 2011).

Die Autoren interpretieren diesen Befund als Effekt durch Exposition in utero. Woher sie das allerdings wissen wollen, bleibt unklar. Er ist auch keinesfalls kompatibel mit den Annahmen der ICRP, die für Strahleneffekte in utero einen unschädlichen Dosisbereich von 100 mSv (!) annimmt. Man hätte erwarten können, dass ein solches Ergebnis, das zwar nur auf 4 Fällen beruht, die aber sämtlich sehr schwerwiegend sind, zumindest zu umfangreicheren Folgeuntersuchungen geführt hätte. Das ist aber nicht der Fall.

Mein Anliegen in diesem Beitrag war es, aufzuzeigen, dass Maßnahmen zum "Schutz künftiger Generationen" sich nicht auf die möglichst sichere Verwahrung von Atommüll beschränken dürfen. Ein besonderer Schutz des Erbgutes vor zusätzlichen Strahlenbelastungen ist offiziell schon lange nicht mehr vorgesehen. Denn die von der ICRP als Schadensmaß eingeführte "effektive" Dosis und damit die geltenden Dosisgrenzwerte orientieren sich ausschließlich am Krebsrisiko für die Bestrahlten selbst. Die bei ihren Nachkommen induzierten Erbschäden werden damit nicht erfasst.


* Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake, Hannover, Gesellschaft für Strahlenschutz e.V.
ingesf@unibremen.de


(†) Dr. Hagen Scherb, Prof. Dr. Karl Sperling; vergl. vorstehenden Bericht über das Fachgespräch "Die verlorenen Mädchen - Auswirkungen ionisierender Strahlung auf das Geschlechterverhältnis" am 7. April 2014 im Deutschen Bundestag; Anm. d. Red.


Literatur

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Stewart, A., Webb, J., Hewitt, D.: A survey of childhood malignancies. Brit. Med. J. (1958) 1495-1508 Die weiteren Literaturhinweise können dem Artikel "Genetisch strahleninduzierte Fehlbildungen" in Strahlentelex Nr. 644-645 vom 7.11.2013, S. 1-5, entnommen werden.
www.strahlentelex.de/Stx_13_644-645_S01-05.pdf


Dieser Text ist die überarbeitete Fassung des Vortrages in dem Fachgespräch "Die verlorenen Mädchen - Auswirkungen ionisierender Strahlung auf das Geschlechterverhältnis" am 7. April 2014 im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages in Berlin, veranstaltet von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_656-657_S06-10.pdf

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Mai 2014, Seite 6-10
Herausgeber und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2014