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ETHIK/919: Der steuerbare Mensch? (2) Hirnforschung gestern und heute (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Hirnforschung gestern und heute

Von Barbara Wild


Der Wunsch, geistige Funktionen zu klassifizieren, zu lokalisieren und zu beeinflussen, ist sehr alt. Bereits Plato[1] (428/427-348/347 v. Chr.) beschäftigte sich damit und lokalisierte den Intellekt im Kopf, die Furcht im Herzen und das Verlangen und die Begierde im Darm. Diese Vorstellungen finden sich auch bei Galen (130-200 n. Chr.)[2], der über die nächsten 1400 Jahre das Denken der Mediziner prägte. Er lokalisierte die höchste Form der Lebensgeister im Kopf, vermutete sie allerdings nicht im Gehirn selbst, sondern in den Ventrikeln, also den Hohlräumen des Gehirns. Er hatte die Vorstellung, dass sie von hier aus bei Bedarf in die Organe wandern und zum Beispiel Bewegungen induzieren. Galen postulierte, dass Kognition, das Gedächtnis und die Imagination in den (damals angenommenen) drei Ventrikeln lokalisiert seien.

Nach Galen dauerte es über 1000 Jahre, bis Mediziner tatsächlich systematisch Schädel eröffneten und die Ventrikel (eigentlich vier an der Zahl) betrachteten. Lange Zeit bestand ein religiös bedingtes Tabu bezüglich der Leichensektion. Für chirurgische Eingriffe waren die Bader und Barbiere zuständig, die Mediziner studierten statt des menschlichen Körpers lieber die Bücher. Erst in der Renaissance änderte sich dies. Andreas Vesalius (1514-1564)[3], der Leibarzt Karls V., war der erste, der sehr viele - über hundert - menschliche Leichen untersuchte und unter anderem auch das Gehirn zeichnete und beschrieb. Hierbei folgte er noch der Ansicht Galens und hielt die Ventrikel für den Sitz der höheren geistigen Funktionen und der Seele. Mit deren Sitz beschäftige sich auch René Descartes (1596-1650), der hier kurz erwähnt werden soll, auch wenn er nicht als Hirnforscher bezeichnet werden kann. Mit seiner Vorstellung des Dualismus zwischen dem wie eine Maschine funktionierenden Körper einerseits und der unsterblichen Seele andererseits, die nur über einen einzigen Punkt kommunizieren, den er in der Zirbeldrüse (Epiphyse) lokalisierte, übte er einen wichtigen Einfluss aus. Die Zirbeldrüse ist zwar heutzutage ein von der Hirnforschung eher vernachlässigtes Organ, Descartes' Position des Dualismus lebt aber weiter und zählte im 20. Jahrhundert zum Beispiel den Neurophysiologen John Eccles (1903-1997) und den Neurochirurgen Wilder Penfield (1891-1976) zu ihren Anhängern.[4]


Die Erforschung der Struktur

Der erste, der die Hirnfunktionen nicht mehr in den Ventrikeln, sondern in der Gehirnsubstanz selbst lokalisierte, war im 17. Jahrhundert der Engländer Thomas Willis (1621-1675). Er sah im Kleinhirn und im Hirnstamm den Ort der mehr unbewussten und emotionalen Funktionen und im Großhirn den Sitz der Beurteilungsfähigkeit.[5] In den darauf folgenden Jahrzehnten wurden die mit bloßem Auge erkennbaren Gehirnstrukturen genauer beschrieben. Die meisten Strukturen, die wir heute kennen, erhielten in dieser Zeit ihre Namen.[6]

Eine weitere, in ihren Auswirkungen auf das wissenschaftliche Leben nicht zu unterschätzende Entwicklung war das Mikroskop. Der Holländer Antoni van Leeuwenhoek (1632-1723) fand eine Methode, mit der man Linsen schnell und preisgünstig herstellen konnte, und erleichterte damit die Herstellung von Mikroskopen. Er selbst benutzte seine Mikroskope natürlich auch für eigene Forschungen und veröffentlichte viele seiner Beobachtungen. So beschrieb er 1674 unter anderem periphere Nerven und sah, wie aufgrund der Galenschen Theorie zu erwarten war, Hohlräume, in denen die Lebensgeister fließen sollten.[7] Dieser Fehler, nämlich das zu finden, was man aufgrund von Hypothesen erwartet, ist natürlich universell. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Geschichte der Hirnforschung als eine Abfolge hin zum immer Besseren und immer Klareren betrachtet werden muss. Jede Generation begeht ihre eigenen Fehler und tendiert dazu, auch in das Nervensystem und seine Funktionen durch Hypothesen hineinzuprojizieren, was sie für richtig und wichtig hält.

Nach der Entwicklung des Mikroskops vergingen noch einmal fast 200 Jahre, bis das Gehirn adäquat untersucht werden konnte. Erst mit einem technisch stark verbesserten Mikroskop gelang es Johann Evangelist Purkinje (1787-1869) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals, Nervenzellen, die später nach ihm benannten, sehr großen Purkinje-Zellen im Cerebellum (Kleinhirn) darzustellen.[8] Es mussten auch Färbemethoden entwickelt werden, um die sonst sehr blassen Gehirnstrukturen darstellen zu können. Ein weiterer Meilenstein war deshalb die Entwicklung der Silbernitratfärbung durch den Italiener Camillo Golgi (1843/44-1926).[9] Hiermit ließen sich Neurone bis in ihre feinsten Verästelungen darstellen. Golgi war - wie viele andere seiner Zeit - der Meinung, die Nervenzellen bildeten ein Synzytium, gingen also ineinander über. Nach der Entdeckung der Körperzellen im 19. Jahrhundert war man zwar relativ schnell davon überzeugt, dass zum Beispiel die Leber tatsächlich aus einzelnen kleinen Einheiten in Form der Leberzellen besteht, aber die Theorie, dass etwas so Komplexes und Einzigartiges wie das Gehirn ebenfalls aus solch winzigen Einheiten zusammengesetzt sein sollte, weckte heftigen Widerspruch.[10] Der Erste, der sich hierzu ganz klar bekannte und sich aufgrund erdrückender Beweise durchsetzte, war Santiago Ramón y Cajal (1852-1934). Zusammen mit Golgi erhielt er für seine Arbeiten im Jahr 1906 den Nobelpreis. Golgi provozierte allerdings einen kleinen Skandal, als er in seiner Verleihungsrede immer noch die Theorie des Synzytiums propagierte und seinen Mitpreisträger entwertete. Aber zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sich die Hirnforschung bereits mit anderen Fragestellungen. So erstellte Korbinian Brodmann (1868-1918) seine berühmte Karte der Hirnregionen.[11] Hierbei definierte er diese über ihre unterschiedliche mikroskopische Struktur. Die von ihm beschriebenen und nach ihm benannten Areale werden nach wie vor benutzt, um Hirnfunktionen zu lokalisieren, zum Beispiel mithilfe der funktionellen Kernspintomografie. Dies ist deshalb sinnvoll, weil unterschiedlich strukturierte Areale auch unterschiedliche Funktionen haben.


Die Erforschung der Funktion

Im 19. Jahrhundert war die Frage, ob sich unterschiedlichen Hirngebieten unterschiedliche Aufgaben zuordnen lassen, zunächst durch Franz Joseph Gall (1758-1828)[12] mit seiner Phrenologie in Verruf gebracht worden: Dass besonders häufig benutzte Gehirngebiete, zum Beispiel bei einem humorvollen Menschen das Gebiet für "Witz", besonders groß seien, den darüber liegenden Schädel ausbeulten, und dies dann von außen zu ertasten sei, war zwar eine faszinierende, aber natürlich falsche Theorie. Es bedurfte eines sehr berühmten französischen Neurologen, Paul Broca (1824-1880)[13], und seines nicht minder berühmten Patienten Leborgne, genannt "Tan", um die Lokalisationstheorie wieder zu rehabilitieren. Der Spitzname des Patienten rührte von der einzigen Silbe her, die er noch aussprechen konnte. Broca verstand es, diese sogenannte motorische Aphasie (Sprachstörung) mit der notwendigen Genauigkeit und Abstraktion zu beschreiben (also zum Beispiel, dass nicht die Sprache an sich, sondern eben nur die Sprachproduktion gestört war). Nach dem Tode des Patienten zeigte dessen Gehirn eine lokalisierte Schädigung im linken Stirnhirn, im heute so genannten Broca-Gebiet. Brocas Demonstration des Falls verhalf der Lokalisationstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Durchbruch.

Sehr wichtig waren in der Folgezeit die durch Tierversuche gewonnenen Erkenntnisse. Als Pioniere sind Eduard Hitzig (1838-1907) und Gustav Fritsch (1838-1927) zu nennen, die in den 1860er-Jahren in Hitzigs Küche in Berlin Hunde untersuchten. Sie stimulierten das Gehirn elektrisch und hatten das Glück, den motorischen Kortex (Bewegungszentrum) zu treffen. Sie beobachteten dann, dass je nach Stimulationsort unterschiedliche Muskeln zuckten, was ein Hinweis darauf war, wie differenziert verschiedene Funktionen auf einzelne Gehirnabschnitte verteilt sind.[14] Etwas später stimulierte der englische Physiologe David Ferrier (1843-1928) Gehirne bei lebenden Affen und führte auch Experimente mit gezielt im Kortex gesetzten Läsionen durch[15], was ihm übrigens einen Prozess wegen Tierquälerei einbrachte. Da er aber nachweisen konnte, dass die Tiere durch einen Fachmann anästhesiert worden waren, wurde er nicht verurteilt. Mit Verbesserung der neurochirurgischen Methoden war es dann möglich, auch bei Menschen intraoperativ das Gehirn zu stimulieren. Ein Pionier war der Neurochirurg Fedor Krause (1857-1937). Ganz besonders detailliert untersuchte in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts der Kanadier Wilder Penfield (1891-1976) Patienten, die wegen schwer behandelbarer Epilepsie operiert wurden.[16] Da das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist, kann man diese Patienten nach der Schädeleröffnung aufwachen lassen. Durch die Stimulation können erkrankte Gehirnteile erkannt werden. Andererseits kann man auf diese Weise auch Aufschluss über die Funktion der umliegenden gesunden Gebiete gewinnen. Penfield war auf der Suche nach dem Sitz der Seele, wie er später in seiner Autobiografie schrieb. In dieser Beziehung erfolglos, gelang es ihm jedoch zu klären, dass im Gehirn zumindest im primären motorischen und sensorischen Kortex die Körperteile nicht entsprechend ihrer Größe, sondern entsprechend ihrer Wichtigkeit repräsentiert werden. Zunge und Lippen sind beträchtlich mehr Nervenzellen zugeordnet als zum Beispiel den Füßen.

Dass durch elektrische Stimulation des Gehirns Reaktionen hervorgerufen werden können, ist bedingt dadurch, dass Spannungsänderungen ein Teil der neuronalen Funktionsweise und Informationsverarbeitung sind. Dem Nervenarzt Hans Berger (1873-1941)[17] gelang es, diese Hirnstromaktivität beim Menschen auch ohne Eröffnung des Schädels durch äußerlich applizierte Elektroden abzuleiten. Er entwickelte in den 1920er-Jahren das EEG (Elektroenzephalogramm). Das EEG wird heutzutage hauptsächlich in der Routinediagnostik bei Epilepsiepatienten eingesetzt. Es kann aber auch dazu verwendet werden, um zum Beispiel mit Sprachaktivität einhergehende Spannungsänderungen des Gehirns zeitlich sehr hoch aufgelöst zu beobachten. Die räumliche Auflösung ist allerdings recht unscharf.

Die Mechanismen der elektrischen Informationsweiterleitung entlang der Axone und Dendriten (Nervenzellfortsätze) wurden maßgeblich von John Eccles (1903-1997), Alan Hodgkin (1914-1998) und Andrew Huxley (geb. 1917) aufgeklärt, die für ihre Forschungen im Jahr 1963 den Nobelpreis erhielten.[18] Das an der Zellmembran bestehende Spannungsgefälle (innen negativer als außen) kehrt sich nach Stimulation kurz um. Diese Spannungsumkehr wandert dann den Nervenzellfortsatz entlang bis zum Zellkörper. Solche Reaktionen können sich summieren und zu einer Weitergabe der Information über das Axon, den langen Nervenzellfortsatz, an die nächste Nervenzelle führen. Dabei war es lange Zeit umstritten, wie die Informationsübertragung von einer Nervenzelle zur anderen an der Kontaktstelle zwischen den beiden, der so genannten Synapse[19], funktioniert - elektrisch oder chemisch. Erst nach der Entwicklung des Elektronenmikroskops in den 50er-Jahren konnten die Synapsen in ihrer Feinstruktur dargestellt werden. Bereits in den 20er-Jahren hatte jedoch Otto Loewi (1873-1961)[20] mit einem Experiment, für das er 1936 den Nobelpreis erhielt, gezeigt, dass es sich um eine chemische Übertragung handeln müsse: Ein in Nährflüssigkeit befindliches Froschherz schlägt langsamer, wenn der innervierende Vagusnerv stimuliert wird. Ein in derselben Nährflüssigkeit befindliches, nicht stimuliertes Froschherz aber verändert ebenfalls seine Schlagfrequenz. Dies konnte nur durch einen in die Nährflüssigkeit nach Vagusstimulation ausgeschütteten Botenstoff erklärt werden. Wie sich später zeigte, handelte es sich um den Transmitter (Botenstoff) Acetylcholin. Inzwischen ist geklärt, dass im Gehirn unterschiedliche Transmitter, wie zum Beispiel Serotonin oder Dopamin, im Bereich der Synapsen ausgeschüttet werden und in der Folge durch Bindung an spezifische Rezeptoren der nächsten Nervenzelle eine Aktivierung dieser Nervenzelle bewirken können.

Bis in die 70er-Jahre hinein war es aber, abgesehen von Stimulationen kleiner Hirnareale während einer Operation, nicht möglich, das Gehirn des lebenden Menschen direkt zu untersuchen. Aufschlüsse über die Funktion wurden durch Tierversuche mit all ihren Beschränkungen und durch den Vergleich der Läsionen verschiedener Patienten mit ähnlichen Störungen nach ihrem Tod gewonnen, was mühselig, fehlerbehaftet und langwierig war. Dann jedoch eröffnete die Entwicklung funktioneller bildgebender Verfahren wie der Computertomografie (CT)[21] und etwas später der Positronenemissionstomografie (PET) und der Magnetresonanztomografie (MRT) völlig neue Erkenntnismöglichkeiten. Mittels der auf Röntgenmethodik basierenden CT konnte man erstmals das Gehirn visuell gewissermaßen "in Scheiben schneiden" und beim lebenden Menschen die Gehirnstruktur und ihre Veränderungen, zum Beispiel durch Tumore, darstellen.

Mit der PET können im Gehirn auch Stoffwechselprozesse, so unter anderem die Verteilung und die Dichte von Rezeptoren, gemessen werden. Außerdem wurde es möglich darzustellen, welche Gehirngebiete bei einer vorgegebenen Aufgabe, wie zum Beispiel Fingerbewegungen, aktiv sind. Hierbei wird ausgenutzt, dass immer dort, wo Synapsen aktiv sind, der Sauerstoff- und Glucose-Verbrauch sowie der Blutfluss ansteigen.

Diese Blutflussänderungen können inzwischen auch mithilfe der MRT gemessen werden. Bei dieser Methode[22] werden keine Röntgenstrahlen (wie bei der CT) oder radioaktiv markierte Substanzen (wie bei der PET) benutzt, sondern biologisch unbedenkliche Magnetfelder. Die MRT kann deshalb auch sehr viel länger und häufiger bei einzelnen Menschen eingesetzt werden. Sie ermöglicht nicht nur, die Gehirnstrukturen mit höherer Auflösung darzustellen als die CT, zum Beispiel auch Faserverbindungen zwischen einzelnen Gehirngebieten, auch funktionelle Messungen, also zum Beispiel die Darstellung aktivierter Gebiete bei bestimmten Aufgaben, ist möglich. Das kann die Betrachtung visueller Stimuli sein, aber auch ein Lächeln.[23]

Mithilfe funktioneller Messungen sind in den letzten Jahrzehnten viele Gehirnfunktionen untersucht worden, von Studien zur visuellen und akustischen Wahrnehmung über Schmerzverarbeitung, Sprachproduktion und -verarbeitung bis hin zu den Gehirnaktivitäten während der Masturbation. Eine Darstellung aller Ergebnisse würde den durch die Tagung vorgegebenen Rahmen sprengen. Eine wichtige Erkenntnis ist aber, dass es zwar einerseits durchaus Regionen gibt, die auf einzelne Funktionen spezialisiert sind - dies gilt nicht nur für die primären sensomotorischen Gebiete, sondern zum Beispiel auch für Funktionen wie die Gesichtswahrnehmung -, andererseits zeigte sich mit zunehmender Qualität der Untersuchungsmethoden auch, dass viele höhere kognitive Funktionen eine Vielzahl von Gehirngebieten im Sinne von Netzwerken aktivieren und es zum Beispiel nicht "das Humorzentrum" gibt.[24]

Die Beschreibung der neurophysiologischen und neuroanatomischen Korrelate von emotionalen Prozessen ist ein gutes Beispiel hierfür. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Definition des limbischen Systems durch James Papez (1883-1958) und Paul MacLean (1913-2007) zu nennen.[25] Es entstand die Vorstellung, dass hier neuronale Erregung kreist, die durch Sinneseindrücke und interne Veränderungen hervorgerufen wird. Diese löst erstens emotionale Reaktionen durch ihre Verbindungen zum Hirnstamm und die Beteiligung des hormonellen Systems über den im Zwischenhirn liegenden Hypothalamus aus, zweitens kann sie Abläufe in anderen Gehirngebieten, wie dem Stirnhirn, beeinflussen und wird drittens selbst wiederum reguliert, zum Beispiel durch Signale aus dem Stirnhirn.[26]

Mit funktioneller Bildgebung werden jedoch inzwischen nicht nur Reaktionen auf emotionale Stimuli unterschiedlicher Art untersucht, sondern auch die Beeinflussung dieser Reaktionen durch weitere Bedingungen, wie zum Beispiel Stress oder Müdigkeit, Medikamente, Charaktereigenschaften oder genetische Unterschiede. Neben dem limbischen System sind inzwischen auch andere an emotionalen Reaktionen beteiligte Systeme charakterisiert worden, wie zum Beispiel das mesolimbische dopaminerge Belohnungssystem.[27] Auch das Konzept der Spiegelneurone ist auf das emotionale System ausgedehnt worden. Hierbei handelt es sich um Nervenzellen, die nicht nur aktiv sind, wenn eine bestimmte Aktion durchgeführt wird, sondern auch, wenn wir diese bei anderen beobachten. Ursprünglich entdeckt im motorischen System, mehren sich die Hinweise, dass solche Spiegelneuronen auch an der emotionalen Verarbeitung - und hier insbesondere an der Empathiefähigkeit - beteiligt sind.[28]


Beeinflussung der Hirnfunktionen

Zu allen Zeiten haben die Menschen versucht, Gehirnfunktion zu beeinflussen, also zum Beispiel das Schmerzempfinden zu dämpfen oder sich zu berauschen. Und natürlich gab es immer auch Versuche, seelische Erkrankungen zu behandeln. Dies möchte ich am Beispiel der Schizophrenie weiter erläutern. Die Schizophrenie ist eine häufige Erkrankung, die mit schweren Symptomen wie Halluzinationen und Wahn einhergeht. Auch die logischen Denkabläufe und die emotionale Verarbeitung sind gestört. Frühe Behandlungsversuche bestanden hauptsächlich aus Zwangsmaßnahmen, wie der Fixierung oder dem stundenlangen Einsperren in einer Badewanne. Als man feststellte, dass epileptische Anfälle die Symptome reduzieren können, begann man im frühen 20. Jahrhundert, mithilfe von Insulin eine Unterzuckerung und hierdurch einen epileptischen Anfall als Therapie auszulösen. Etwas später löste die Elektrokrampftherapie Insulin als Auslöser epileptischer Aktivität ab. Dies ist eine wirksame Methode[29], heutzutage allerdings verdrängt von den inzwischen vielfältigen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten.

Vorübergehend wurde allerdings leider auch die sogenannte Lobotomie[30] eingesetzt.[31] Hierbei werden Fasern, die das Stirnhirn mit dem Rest des Gehirns verbinden, durchtrennt. Es handelt sich um einen einfachen, sogar am wachen Patienten durchführbaren Eingriff, was sicher zu seiner Beliebtheit und raschen Verbreitung beigetragen hat. Die so "behandelten" Patienten waren in der Folge "pflegeleichter", nämlich ruhiger und desinteressiert. Sie waren aber in ihrer Persönlichkeit dauerhaft schwer gestört, weshalb man inzwischen längst davon abgekommen ist. In dieser Beziehung haben sich die in den 50er-Jahren entwickelten Neuroleptika als sehr positiv erwiesen. Diese Medikamente verdrängten nicht nur die unheilvolle Lobotomie, sondern ermöglichten es auch, mit den an Schizophrenie erkrankten Menschen ganz anders in Kontakt zu treten und so zum Beispiel die Zahl der Zwangsmaßnahmen während der Akutphase drastisch zu reduzieren.


Aktuelle Themen der Hirnforschung

Das erste Neuroleptikum - Chlorpromazin - war noch zufällig auf der Suche nach einem Narkosemittel gefunden worden. Heutzutage benutzt man selbstverständlich bei der Entwicklung neuer Medikamente das mithilfe der oben genannten Verfahren gewonnene Wissen, zum Beispiel über Rezeptoren und Transmitter, und versucht, Medikamente zu entwickeln, die möglichst genau bestimmte Rezeptor-Untertypen stimulieren.

So ist die Behandlung seelischer Erkrankungen weiterhin ein wichtiger Fokus der Hirnforschung. Akutsymptome wie Halluzinationen und Wahn lassen sich zwar gut behandeln, schizophrene Denkstörungen oder andere behindernde Symptome hingegen bisher noch nicht ausreichend. Es dauert oft lange, bis Antidepressiva eine Wirkung entfalten, und diese Medikamente sind auch nicht bei allen Betroffenen wirksam. Die Behandlung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ist ebenso schwierig.

Es wird lebhaft diskutiert, wie genetische Faktoren psychische Erkrankungen hervorrufen können. Nachdem sich die Suche nach "dem Schizophrenie-Gen" oder "dem Aggressions-Gen" als bisher vergeblich erwiesen haben und wahrscheinlich hoffnungslos sind, werden nun auch epigenetische Phänomene, also zum Beispiel die Beeinflussung von Genaktivität durch die Produkte anderer Gene, untersucht.

Spannend ist auch die Frage, inwiefern die Neubildung von Nervenzellen, wie sie zum Beispiel im Hippocampus auch beim Erwachsenen nachgewiesen wurde, beeinflusst werden kann. Lassen sich hierdurch Gedächtnisfunktionen verbessern? Spielt die Störung dieses Prozesses, zum Beispiel durch erhöhte Kortisol-Spiegel unter Stress, eine Rolle für die Entwicklung einer Demenz? Selbstverständlich sind die degenerativen Hirnerkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder die Parkinsonsche Erkrankung, deren Bedeutung ja mit dem zunehmenden Anstieg des Bevölkerungsanteils der älteren Menschen wächst, auch im Fokus der aktuellen Hirnforschung. Die Suche nach Möglichkeiten zur Früherkennung und Prävention und natürlich auch zur Behandlung des Krankheitsprozesses ist intensiv.

Neben diesen therapeutischen Aspekten stellt sich die aktuelle Hirnforschung nach wie vor die Frage, wie unser Denken, Fühlen und Handeln im Gehirn repräsentiert sind und insbesondere, inwieweit wir "Herr im eigenen Haus" sind.[32] Wie sehr sind wir determiniert durch unsere genetische Ausstattung, durch Kindheitserlebnisse oder auf psychologischen Erkenntnissen basierenden Manipulationsmethoden? Können wir unserer Entscheidungen und Handlungen selbst lenken oder werden wir beeinflusst von Prozessen, die unserem Bewusstsein gar nicht zugänglich sind? Steuern wir unsere Hirnfunktionen oder steuern sie uns?


Barbara Wild, geb. 1961, Prof. Dr. med., Medizinerin, seit 2003 mit eigener Praxis als Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, seit 2003 Lehrtätigkeit und Leitung der Arbeitsgruppe "Kognitive Neuropsychiatrie" an der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen, seit 2008 apl. Professur an der Universität Tübingen.


Anmerkungen

[1] Finger 1994, S. 14 f.
[2] Ebd., S. 16.
[3] Vesalius 1543.
[4] Bennett/Hacker 2008, S. 240 f.
[5] Willis 1667.
[6] Finger 1994, S. 18 ff.
[7] Van Leeuwenhoek 1674.
[8] Finger 1994, S. 43 f.
[9] Nobel Foundation 1967.
[10] Finger 1994, S. 44 ff.
[11] Brodmann 1909.
[12] Finger 2000, S. 119 ff.
[13] Ebd., S. 137 ff.
[14] Fritsch/Hitzig 1870.
[15] Finger 2000, S. 155 ff.
[16] Penfield/Rasmussen 1950.
[17] Berger 1929.
[18] Nobel Foundation 1967.
[19] Dieser Begriff wurde von dem britischen Physiologen Charles Scott Sherrington 1897 geprägt.
[20] Loewi 1921.
[21] Diese soll auch den Erfolgen der Beatles zu verdanken sein: Deren Musikfirma EMI, die auch medizinische Geräte herstellte, verdiente durch die Beatles so viel, dass sie ihren forschenden Mitarbeitern viel Freiheit lassen konnte, sich mit interessanten Ideen zu beschäftigen - so entwickelte Godfrey Hounsfield mit seinen Mitarbeitern letztendlich den Computertomografen.
[22] Auch Kernspintomografie genannt.
[23] Wild et al. 2003.
[24] Wild et al. 2006.
[25] Ursprünglich hatte Broca einen limbischen Lappen benannt - die am Rand (lat. limbus) der subkortikalen Gebiete gelegenen Hirnanteile, denen er Funktionen des Geruchssinns zuordnete. Papez definierte einen durch Nervenfasern verbundenen Kreis mit Hippocampus, Fornix, Corpora mamillaria, Nuclei anteriores thalami, Gyrus cinguli, Hippocampus und Tractus mammillothalamicus. MacLean prägte den Begriff "limbisches System" und fügte noch die Mandelkerne (Amygdala) hinzu.
[26] Für MacLean war dieses limbische System der Ort des Freudschen Unbewussten, während er Funktionen des Über-Ichs im Stirnhirn lokalisierte. Dass es solche Regelkreisläufe und gegenseitigen Beeinflussungen gibt, kann man inzwischen auch mit funktioneller MRT zeigen. Die Freudschen Instanzen lassen sich natürlich nicht so einfach im Gehirn abbilden. Es sei aber dieser Stelle erlaubt, auf die Bedeutung von Männern wie Freud, Pawlow und Konrad Lorenz hinzuweisen. Auch wenn sie selbst keine Hirnforschung betrieben haben, haben ihre Ideen die Neurowissenschaften stark beeinflusst (MacLean 1949).
[27] Alcaro/Huber/Panksepp 2007.
[28] Gallese 2003.
[29] Eschweiler/Wild/Bartels 2003.
[30] Auch Leukotomie genannt.
[31] Antonio Moniz erhielt hierfür sogar 1949 den Nobelpreis (s. Janson 1998).
[32] Dieser Begriff wurde von Freud benutzt, der die Frage verneinte (s. Freud 2006).


Literatur

Alcaro, Antonio; Huber, Robert; Panksepp, Jaak (2007): Behavioral Functions of the Mesolimbic Dopaminergic System: An Affective Neuroethological Perspective. In: Brain Research Reviews, 56 (2), S. 283-321.

Bennett, Max R.; Hacker, Peter M. S. (2008): History of Cognitive Neuroscience. Chichester.

Berger, Hans (1929): Ueber das Elektrenkephalogramm des Menschen. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 87, S. 527-570.

Brodmann, Korbinian (1909): Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde: in ihren Principien dargestellt auf Grund des Zellenbaues. Leipzig.

Eschweiler, Gerhard; Wild, Barbara; Bartels, Mathias (2003): Elektromagnetische Therapien in der Psychiatrie. Darmstadt.

Finger, Stanley (2000): Minds Behind the Brain: A History of the Pioneers and Their Discoveries. New York.

Finger, Stanley (1994): Origins of Neuroscience: A History of Explorations into Brain Function. New York.

Freud, Sigmund (2006): Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten. Frankfurt/Main.

Fritsch, Gustav; Hitzig, Eduard (1870): Ueber die elektrische Erregbarkeit des Grosshirns. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, 37, S. 300-332.

Gallese, Vittorio (2003): The Roots of Empathy: The Shared Manifold Hypothesis and the Neural Basis of Intersubjectivity. In: Psychopathology, 36 (4), S. 171-180.

Jansson, Bengt (1998): Controversial Psychosurgery Resulted in a Nobel Prize. Online im Internet:
http://nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/articles/moniz/index.html [5.11.2009].

Leeuwenhoek, Antoni van (1674): Microscopical Observations Concerning Blood, Milk, Bones, the Brain, Spittle, and Cuticula. In: Philosophical Transactions, 9, S. 121-128.

Loewi, Otto (1921): Über humorale Übertragbarkeit der Herznervenwirkung. In: Pflügers Archiv für die Gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, 189, S. 239-242.

MacLean, Paul (1949): Psychosomatic Disease and the "Visceral Brain". Recent Developments Bearing on the Papez Theory of Emotion. In: Psychosomatic Medicine, 11 (6), S. 338-353.

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Penfield, Wilder; Rasmussen, Theodore (1950): The Cerebral Cortex of Man. A Clinical Study of Localization of Function. New York.

Vesalius, Andreas (1543): De humani corporis fabrica libri septem. Basel.

Wild, Barbara et al. (2006): Humor and Smiling: Cortical Areas Selective for Cognitive, Affective and Volitional Components. In: Neurology, 66 (6), S. 887-893.

Wild, Barbara et al. (2003): Why are smiles contagious? An fMRI Study of the Interaction between Perception of Facial Affect and Facial Movements. In: Psychiatry Research: Neuroimaging, 123 (1), S. 17-36.

Willis, Thomas (1667): Pathologiae Cerebri et Nervosi Generis Specimen. Oxford.


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INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 11 - 20
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
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Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011