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ETHIK/1219: Stellungnahme - Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 19 - Juli 2016 - 02/16

Stellungnahme
Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus


Mit seiner am 5. April 2016 veröffentlichten Stellungnahme legt der Deutsche Ethikrat Empfehlungen für eine am Patientenwohl orientierte Ausgestaltung der Krankenhausversorgung vor.


Die Krankenhausversorgung ist seit Jahrzehnten Gegenstand kontroverser politischer Debatten. Diese entzünden sich etwa an der allgemeinen Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, an Innovationen in der Medizin, an veränderten Erwartungshaltungen der Patienten und an der demografischen Entwicklung. Der Deutsche Ethikrat hatte sich bereits 2014 mit einer öffentlichen Veranstaltung in Dresden zum Thema "Vom Krankenhaus zum kranken Haus? Klinikalltag zwischen ethischem Anspruch und Kostendruck" mit den Fragestellungen befasst, die er nun in einer Stellungnahme aufgegriffen hat. Darin analysiert er die ethischen Probleme, die sich auf der Ebene des Krankenhauses insbesondere aus den von der Politik vorgegebenen finanziellen Rahmenbedingungen ergeben. Auch wenn mit der Fokussierung auf den stationären Sektor nur ein Ausschnitt eines viel breiteren Themas näher betrachtet wird, sieht der Ethikrat doch gute Gründe, sich auf den Krankenhaussektor zu beschränken. Zum einen kann das Krankenhaus als paradigmatisch für qualitative Entwicklungen im Gesundheitssystem insgesamt angesehen werden. Zum anderen hält es der Ethikrat für angemessen, einen Bereich gesondert in den Blick zu nehmen, der angesichts steigender Behandlungen in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung erlangt hat und mit rund 68 Milliarden Euro den größten Ausgabenblock innerhalb der Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt.

Besondere Situation im Krankenhaus

Zwei wesentliche und für den Ethikrat relevante Charakteristika der Krankenhaussituation lassen sich identifizieren: Zum einen sind Patienten im Krankenhaus, anders als Patienten in der ambulanten Versorgung, durch den Wechsel der Lebenssituation und den vorübergehenden Verlust der vertrauten häuslichen Lebenswelt zusätzlichen psychischen Belastungen und Einschränkungen in ihrer persönlichen Entfaltungsfreiheit ausgesetzt. Zum anderen treffen im Krankenhaus verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen an einem Ort aufeinander. Daraus ergibt sich ein hoher Bedarf an Kommunikations-, Organisations- und Koordinationskompetenz. Diese Faktoren zusammengenommen ergeben den Hintergrund der Entscheidung, aus dem breiten Themengebiet des Gesundheitswesens die stationäre Versorgung für eine Stellungnahme des Ethikrates herauszugreifen.

Der zunehmende ökonomische Druck im Gesundheitssystem führt zu problematischen Entwicklungen in der Krankenhausmedizin. Dazu gehören zum Beispiel Mengenausweitungen oder Reduzierungen von Behandlungsleistungen, die Konzentration auf besonders gewinnbringende Behandlungsverfahren zulasten anderer notwendiger Behandlungsangebote sowie schwierige Arbeitsbedingungen für das im Krankenhaus tätige Personal. Das wirft zunehmend Fragen nach dem leitenden normativen Maßstab der Krankenhausversorgung auf.

Ethisches Leitprinzip

Als maßgebliches ethisches Leitprinzip stellt der Deutsche Ethikrat das Patientenwohl in den Mittelpunkt seiner Stellungnahme. Nun könnte man meinen, die Ausrichtung der Krankenhausversorgung primär am Patientenwohl sei selbstverständlich, ist doch der Patient mit seiner Gesundheit der Zielpunkt ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Handelns. Allerdings zeigen die Analysen der gegenwärtigen Situation, dass das Patientenwohl keineswegs konkurrenzlos im Zentrum der stationären Versorgung steht. Darüber hinaus ist der Begriff des Patientenwohls nicht eindeutig bestimmt. Es gehört mehr dazu als nur die nach medizinischen Maßstäben beurteilte körperliche und seelische Situation des Patienten. Das Patientenwohl umfasst nicht nur medizinische Parameter und den Zugang zu einer Leistung (objektivierbare Dimension), sondern auch Faktoren wie die Behandlungszufriedenheit oder die Berücksichtigung persönlicher Präferenzen (subjektive Dimension) sowie Fragen der wechselseitigen Anerkennung, des Respekts und der Achtsamkeit (intersubjektive Dimension). All diese Faktoren stehen oft in einem Spannungsverhältnis zueinander.

Kriterien des Patientenwohls

Das Patientenwohl lässt sich, so führt der Ethikrat in seiner Stellungnahme aus, durch drei Kriterien operationalisieren: die selbstbestimmungsermöglichende Sorge für den Patienten, die gute Behandlungsqualität sowie die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit.

Ausgangspunkt der selbstbestimmungsermöglichenden Sorge ist es, den Patienten als Person zu achten und zu respektieren. Als Person hat der Patient, eingebettet in seine Geschichte, eigene Vorstellungen, Werte, Wünsche und Interessen und ist Träger von Rechten. Selbstbestimmungsermöglichende Sorge schließt an das Adhärenz-Konzept und das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung in der Arzt-Patient- bzw. Pflegende-Patient- und Therapeut-Patient-Beziehung an. Damit hat die selbstbestimmungsermöglichende Sorge eine gelingende Kommunikation zur Voraussetzung, die in Inhalt, Art und bezüglich der Rahmenbedingungen auf den Patienten zugeschnitten sein muss und insbesondere in einem Konzept der informierten und selbstbestimmten Einwilligung des Patienten ihr Ziel findet.

Die Behandlungsqualität umfasst objektive wie subjektive Elemente. Die objektiven Faktoren beziehen sich auf Möglichkeiten und Maßgaben der medizinischen Wissenschaften, die subjektiven Faktoren auf die Zufriedenheit der Patienten mit der Behandlung. Qualitätsmessung und Qualitätssicherung orientieren sich an dem Modell der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. In einer qualitativ hochwertigen und patientengerechten Behandlung findet die Behandlungsqualität ihren Ausdruck insbesondere auch in der verantwortungsvoll gestellten, auf den individuellen Patienten bezogenen medizinischen Indikation.

Gerechtigkeit im Sinne eines gleichen Zugangs zu Krankenhausleistungen und ihrer gerechten Verteilung umfasst sowohl das Gebot der statusindifferenten Gleichbehandlung als auch das Gebot des fairen und jeweils individuell angemessenen Einsatzes von Ressourcen. Aufgrund der gegebenen Knappheit der Ressourcen meint Gerechtigkeit aber auch den effektiven (d.h. wirksamen) und effizienten (d.h. sparsamen) Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel. Ineffiziente und uneffektive Ressourcenallokation erzeugt Ungerechtigkeit und ist daher nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus ethischen Gründen zu vermeiden. Die Forderung nach einem ressourcenreflexiven Handeln im Krankenhaus darf allerdings nicht zu einer ökonomischen Überformung ärztlichen wie pflegerischen und therapeutischen Handelns führen.

Mit Blick auf diese drei Kriterien ergeben sich unter den Bedingungen eines pauschalierenden Entgeltsystems (diagnosis related groups, DRGs) für das Krankenhaus unterschiedliche Konfliktfelder. Diese betreffen vor allem die infrage gestellten Möglichkeiten einer angemessenen Kommunikation in der Arzt-Patient-, Pflegende-Patient- und Therapeut-Patient-Beziehung sowie die zunehmende Schwierigkeit für die im Krankenhaus Tätigen, ihre berufsethischen Pflichten umzusetzen. Zudem erweist es sich als zunehmend problematisch, für Patientengruppen mit besonderen Bedarfen einen gleichen Zugang zu Krankenhausleistungen und eine gerechte Verteilung der Ressourcen sicherzustellen. Dies betrifft vor allem Kinder und Jugendliche, Patienten in hohem Lebensalter, Patienten mit geriatrietypischen Erkrankungen, mit Demenz, mit Behinderung und Patienten mit Migrationshintergrund.

Empfehlungen

Der Deutsche Ethikrat legt vor diesem Hintergrund 29 Empfehlungen zur Verankerung und Gewährleistung der Patientenwohlorientierung in der Krankenhausversorgung vor.

Zunächst empfiehlt der Ethikrat, eine bessere Kommunikation im Krankenhaus sicherzustellen. Dazu gehört die Förderung der kommunikativen und interkulturellen Kompetenz aller im Krankenhaus Tätigen. Diesbezüglich sollten Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote entwickelt werden. Zudem sollte der zeitliche und organisatorische Aufwand bei den Vorgaben für die Vergütung innerhalb des DRG-Systems berücksichtigt werden. Dies betrifft sowohl die Kommunikation mit Patienten als auch die interprofessionelle Kommunikation.

Um die Leitungsqualifikation zu sichern und zu verbessern, sollten bei der Besetzung von ärztlichen und pflegerischen Leitungspositionen im Krankenhaus zukünftig nicht nur die jeweilige berufliche Kernkompetenz, sondern auch qualifizierte Kenntnisse in Ökonomie, Ethik, Management und Recht maßgeblich sein. In ähnlicher Weise sollten leitende Krankenhausmanager neben ihrer ökonomischen Fachkompetenz auch über grundständige Kenntnisse in Medizin und Pflege verfügen. Hierfür müssen entsprechende Fortbildungsangebote, die auch den Erwerb von Praxiserfahrung beinhalten, entwickelt bzw. weiterentwickelt werden.

Des Weiteren sollte die Situation der Pflege im Krankenhaus nachhaltig verbessert werden. Unter anderem sollten Pflegepersonalschlüssel in Abhängigkeit von Stations- und Bereichsgrößen für Krankenhäuser entwickelt und die Voraussetzungen für eine personale Kontinuität in der Pflege der Patienten geschaffen werden. Darüber hinaus empfiehlt der Ethikrat, Mindestquoten für vollexaminierte Pflegekräfte festzulegen und regelmäßig zu überprüfen. Um dem derzeitigen Mangel an examinierten Pflegekräften entgegenzuwirken, sollten neue Qualifizierungsmodelle entwickelt und gefördert werden, mit denen zum Beispiel Arzthelferinnen und Arzthelfer berufsbegleitend zu Pflegekräften weitergebildet werden können. Zur Weiterentwicklung des DRG-Systems empfiehlt der Ethikrat, Fehlanreizen entgegenzuwirken, die dem Patientenwohl entgegenstehen, z. B. indem sie eine vorzeitige oder verzögerte Entlassung oder Verlegung eines Patienten nahelegen. So sollte bei multimorbiden Patienten die Abrechnung von zwei und mehr DRGs für einen Krankenhausaufenthalt ermöglicht werden. Für Patienten im hohen Lebensalter, Patienten mit seltenen Erkrankungen oder Patienten mit besonderen Verhaltensauffälligkeiten sollten neue Vereinbarungsmöglichkeiten für Zusatzentgelte geschaffen werden. Zur Vermeidung unnötiger Eingriffe und Prozeduren sollten Vergütungsmodelle entwickelt und geprüft werden, in denen auch die begründete Unterlassung etwaiger Maßnahmen ihren Niederschlag findet. Beispielsweise könnte für bestimmte Diagnosebereiche eine Prozedur "Beobachtung" neu eingeführt werden, die eine eigene Entgeltbewertung erhält, um die ärztliche Entscheidung zum beobachtenden Zuwarten von einer ökonomischen Sanktionierung zu entheben. Zu binden wäre die Einlösung einer solchen DRG jeweils an eine besondere medizinische Begründung, eine Beobachtung des Patienten durch wiederholte Untersuchung sowie das ausführliche Gespräch mit dem Patienten.

Zum Ausbau qualitätssichernder Strukturen sollte ein Programm des Bundes die Einrichtung multidisziplinärer Zentren fördern, die sich an bestimmten Krankheitsbildern orientieren.

Die Dokumentationspflichten sollten vereinfacht werden, um mehr Zeit für die Patientenversorgung zu gewinnen. Hierzu sollten unter anderem Modelle mit digitaler Unterstützung entwickelt und erprobt werden. In diesem Zusammenhang sollten Maßnahmen verstärkt werden, die darauf abzielen, eine vereinheitlichte Dokumentation und Qualitätssicherung im stationären und ambulanten Bereich einzuführen, um die Abläufe im Krankenhaus effektiver und effizienter zu gestalten, die Kooperation zwischen beiden Sektoren zu vereinfachen und Doppeluntersuchungen auf solche Fälle zu reduzieren, bei denen eine strenge medizinische Indikation für eine erneute Diagnose besteht.

Zur besseren Krankenhausversorgung für Patientengruppen mit besonderen Bedarfen empfiehlt der Ethikrat unter anderem, kinderspezifische DRGs einzuführen bzw. die Kindermedizin vom DRG-Abrechnungssystem zu entkoppeln. Für Menschen mit Behinderung sollten im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention Krankenhäuser barrierefrei gestaltet und Bedingungen geschaffen werden, die ihren besonderen Belangen gerecht werden. Außerdem sollte allen Menschen mit Behinderung der Zugang zur Leistung zusätzlicher Assistenzpflege im INFO Krankenhaus ermöglicht werden. Für Patienten mit Demenz sollten demenzsensible Versorgungsstrukturen gefördert werden.

Darüber hinaus schlägt der Deutsche Ethikrat vor, transparente Kriterien für eine primär am Patientenwohl ausgerichtete Krankenhausplanung zu entwickeln. Auch wird empfohlen, bundeseinheitliche Standards für die Krankenhausplanung einzuführen und die Schnittstellenproblematik zwischen stationärem und ambulantem Sektor erneut unter dem besonderen Aspekt des Patientenwohls systematisch zu analysieren und zu evaluieren. (Be)


INFO - QUELLE
Die Stellungnahme ist online abrufbar unter
http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/patientenwohl-als-ethischer-massstab-fuer-das-krankenhaus

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Quelle:
Infobrief Nr. 19 - Juli 2016 - 02/16, Seite 5 - 7
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
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Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
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E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2016

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