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ETHIK/1237: In eigener Sache - Selbstverständnis und Auftrag des Deutschen Ethikrates (Infobrief - Dt. Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 20 - Januar 2017 - 01/17

In eigener Sache
Selbstverständnis und Auftrag des Deutschen Ethikrates

von Dr. Katrin Bentele


Am 22. September 2016 lud der Deutsche Ethikrat zu einer öffentlichen Sitzung zum Thema "Ethikberatung und öffentliche Verantwortung" nach Berlin ein. Damit führte er einen Reflexionsprozess zu seinem Selbstverständnis als Beratungsgremium für Politik und Gesellschaft fort, den er zunächst intern nach seiner Neukonstituierung im April begonnen hatte.


Der Deutsche Ethikrat ist ein wichtiger Akteur im öffentlichen Diskurs über ethische Fragen; seine Stellungnahmen werden weithin öffentlich beachtet. Was aber sind die Eigenschaften guter ethisch reflexiver Beratung von Politik und Öffentlichkeit? Deckt sich das Selbstverständnis des Ethikrates mit den Erwartungen, die von außen an ihn herangetragen werden? Wie ist der Deutsche Ethikrat innerhalb der parlamentarischen Demokratie zu verorten? Diese und ähnliche Fragen diskutierten die Ratsmitglieder mit Experten aus der Philosophie, der Ethik, der Soziologie und der Rechtswissenschaft, um der Selbstvergewisserung über die eigene Arbeit und Aufgabe neben der Binnensicht notwendig auch die Außenperspektive zur Seite zu stellen und so in der zweifachen Spiegelung wichtige Erkenntnisse für die weitere Arbeit des Deutschen Ethikrates zu erlangen.

Der Jurist Christoph Möllers erklärte zum Auftakt, der demokratische Verfassungsstaat ermögliche zwar moralische Argumente, fordere sie aber nicht ein. Er empfahl dem Gremium eine stärkere Fokussierung auf den engeren Bereich der Forschung, insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften. Denn: "Je spezifischer die Beratungsleistung ist und je spezifischer das Mandat wahrgenommen wird, desto überzeugender und passgenauer können die Beiträge des Deutschen Ethikrates für die politische Beratung sein." Eine wichtige Funktion des Ethikrates sei es, "durch den Nebel von Wertpräferenzen erst mal zu gucken, wo sich das Problem im Realbereich, in der technischen Frage, um die es geht, festmachen lässt". Darüber hinaus solle der Ethikrat mehr Mut zur Entfaltung kontroverser Positionen haben, seine Beratungstätigkeit also weniger als das Schaffen von Eindeutigkeit, sondern vor allem als das Transparentmachen von Argumenten verstehen.

Armin Nassehi näherte sich rekonstruktiv der Frage, was der Ethikrat tut und welche Funktion er aus der deskriptiven Sicht des (Organisations-)Soziologen hat. Er bezeichnete den Deutschen Ethikrat als einen "Baustein auf dem Weg einer Gesellschaft, die neue Formen der Selbstrepräsentation finden muss". Er müsse sich mit der Frage beschäftigen, "wie unterschiedliche Gründe so gewichtet werden können, dass man am Ende womöglich gute Gründe für bestimmte Gründe hat". Gremien wie der Ethikrat eröffneten einen Ort, an dem Teilnehmer institutionell versuchten, unterschiedliche Perspektiven als Ausdruck einer komplexen Beziehung zu verstehen und nicht schlicht die eigenen Interessen gegen die Interessen anderer durchzusetzen. Es habe bereits eine ethische Qualität, dass "in einem Raum Leute unterschiedlicher moralischer Intuitionen sitzen und diese gleichzeitig zum Besten geben können".

Alexander Bogner, Experte für Technikfolgenabschätzung, sah die Aufgabe des Ethikrates in der Ethisierung biopolitischer Fragestellungen. Er lobte eine Konfliktkultur, die statt einer moralisierenden Suche nach den einzig wahren Werten davon ausgeht, dass es in Wertfragen naturgemäß Dissens gibt. Während es im Bereich der Moral um ein Unbedingtes, Unverfügbares gehe und moralische Konflikte daher unvermeidlich in Zuspitzungen resultierten, die den "religiösen Wahrheitskriegen nahe" seien, ergebe sich "im Zuge der Ethisierung kein Auftrag zur Bekehrung, sondern zur Verständigung". Der Ethikrat als Gremium repräsentiere bereits in seiner Existenz einen "neuen, spezifischen gesellschaftlichen Erwartungshorizont". Die Anerkennung des moralischen Pluralismus sei schon die ideelle Voraussetzung seiner Einrichtung. Darüber hinaus repräsentiere der Ethikrat aber auch mit Blick auf seine konkrete Beratungsleistung eine Entwicklung des Dissensbewusstseins, da in seinen Stellungnahmen oft divergierende Voten zu finden seien. Insofern das Ergebnis ein rationaler, also gut begründeter Dissens sei, werde deutlich, dass nun eine politische Entscheidung notwendig sei.

Der Ethikrat eröffne dem Entscheider den Raum verfügbarer Entscheidungsoptionen, indem er über Voraussetzungen und Folgen der Optionen aufkläre, ohne die politische Entscheidung vorwegzunehmen. Auch wenn die Bereitstellung ethischer Expertise (im Gegensatz zu Forschung) sich nicht in den "Verästelungen moralphilosophischer Prinzipien verlieren" dürfe, warnte er davor, ethische Grundsatzfragen einer stark pragmatisch orientierten Entscheidungsfindung an den Rand zu drängen. Eine weitere Herausforderung sei die sinnvolle Einbindung betroffener gesellschaftlicher Gruppen oder der Öffentlichkeit. Es gelte, den Vorwurf der Expertokratie zu vermeiden, ohne die Bürger mit Partizipationsangeboten bei recht abstrakten und komplexen Themen zu überfordern.

An diesen Punkt knüpfte die Bioethikerin Silke Schicktanz mit ihrem Beitrag an. Betroffenenrepräsentanz könne in der öffentlichen Ethikberatung eine Kompetenzerweiterung für das Gremium bedeuten und eine bessere Übereinstimmung zwischen Entscheidern und Betroffenen erzielen. Auf diese Weise könne die soziale Akzeptanz von Lösungsvorschlägen verbessert werden. Insbesondere könne man die akademische Expertise des Gremiums durch qualitative und diskursive Verfahren sinnvoll ergänzen und sicherstellen, dass auch andere wichtige Perspektiven berücksichtigt werden. Dabei gelte es, auf Pluralität, Transparenz und eine Sensibilisierung für marginalisierte Gruppen zu achten. Im letzten Vortrag machte sich der Philosoph Matthias Kettner für die Ethik als "Rahmen der Relevanzsetzung für alle Sachkompetenzen" stark, die im Deutschen Ethikrat als "deliberierendem Gremium organisiert sind und miteinander kommunizieren". Dass die genuin ethische Wissenskompetenz von Ethikexperten an den Rand gedrängt würde, wie Alexander Bogner in seinem Beitrag diagnostizierte, könne man "unter normativen Gesichtspunkten dessen, welche Autorität ein Ethikrat haben sollte, nicht gut finden". Im Hinblick auf seine Aufgabe empfahl er dem Deutschen Ethikrat, "die Autorität zu beanspruchen, moralisch relevantes Wissen zu prüfen, zu verbessern oder gegebenenfalls zu schaffen - Wissen, das wir in unseren moralischen Urteilen verwenden". Dafür müsse der Ethikrat verschiedene Wissensarten (Tatsachen-, Wertungs- und Normierungswissen) in einen Zusammenhang bringen, der in Moralurteilen kulminiere, von deren Richtigkeit die sie vertretenden Mitglieder überzeugt seien - "nicht obwohl, sondern weil sie auf kritisierbaren Gründen beruhten.» Die Kritisierbarkeit durch Gründe sei nicht der Feind rationaler Richtigkeit, sondern deren Grundlage.

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Quelle:
Infobrief Nr. 20 - Januar 2017 - 01/17, Seite 6 - 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2017

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