Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2020
Ethik
Mit Aussicht auf Erfolg
von Dirk Schnack
Konsistent, fair, medizinisch und ethisch gut begründet - so sollen Entscheidungen über knappe Ressourcen getroffen werden.
Wer kann gerettet werden, wer muss nachrangig behandelt werden?
Zu einer solchen Entscheidung sind Ärzte in Deutschland in der
Corona-Krise bislang nicht gezwungen worden. Das Infektionsgeschehen
konnte zunächst so weit eingedämmt werden, dass die Ressourcen
ausreichten und kein Patient wegen ausgelasteter Kapazitäten auf eine
intensivmedizinische Behandlung warten musste. Berichte aus anderen
westeuropäischen Ländern und den USA zeigten im April, wie wenig
selbstverständlich das selbst für vergleichsweise hoch entwickelte
Gesundheitssysteme war.
"In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen. Wir müssen aber ehrlich sein: Auch mit diesen Ressourcen gilt es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln", sagte der damalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Peter Dabrock. Für ihn war es im April der "wesentliche Orientierungspunkt für die nahe Zukunft", Triage-Situationen zu vermeiden, in denen Ärzte entscheiden müssten, wer eine intensivmedizinische Behandlung erhält und wer nachrangig behandelt werden muss - und wessen Leben damit unter Umständen nicht mehr gerettet werden kann.
Die ausreichenden Kapazitäten ersparten solche Entscheidungen, die aus Sicht des Ethikrates weder einzelne Ärzte, noch der Staat treffen dürften. "Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist. Die Verantwortung, in solchen dilemmatischen Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden, sollte aber auch keinesfalls allein den einzelnen Ärzten aufgebürdet werden", hieß es. Also braucht es einheitliche Handlungsmaximen für den klinischen Ernstfall, die der Ethikrat "nach wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien" fordert. In diesem Zusammenhang verwies er auf erste Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften und von der Akademie für Ethik in der Medizin.
Wie sehen diese Kriterien aus? Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe dieser Gesellschaften stellte klar, dass etwa das Alter für sie kein singuläres Kriterium sein kann. Für die Zuteilung von Ressourcen dürfe allein die Erfolgsaussicht für das Überleben eine Rolle spielen, machte die Gesellschaft deutlich. Damit diese Entscheidungen konsistent, fair sowie medizinisch und ethisch gut begründet getroffen werden können, muss aus DIVI-Sicht vorab ein Verfahren der Entscheidungsfindung mit klar geregelten Verantwortlichkeiten definiert sein. Die Entscheidungen sollten nach dem Mehraugen-Prinzip und unter Beteiligung von möglichst zwei intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einem Vertreter der Pflege und ggf. weiteren Fachvertretern getroffen werden. Nach Möglichkeit sollten die Entscheidungen im Konsens getroffen werden und gegenüber Patienten und Angehörigen transparent kommuniziert werden.
Was führt in der Regel zu einer schlechten Erfolgsaussicht? Hierzu nennt DIVI folgende Kriterien:
- Aktuelle Erkrankung: Schweregrad der führenden Erkrankung, begleitend akutes Organversagen (z. B. anhand des SOFA-Score ermittelt), prognostische Marker für COVID-19-Patienten
- Komorbiditäten: Vorhandensein einzelner schwerer Komorbiditäten, wenn diese in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern, z. B. mit deutlicher Einschränkung der Prognose (siehe Ontario-Protokoll): Chronische Organversagen (z. B. dialysepflichtige Niereninsuffizienz), schwere Organ-Dysfunktion mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung, weit fortgeschrittene generalisierte neurologische Erkrankungen, weit fortgeschrittene Krebserkrankung, schwere und irreversible Immunschwäche, Multimorbidität
- Allgemeiner Gesundheitsstatus: Gebrechlichkeit (z. B. mit der Clinical Frailty Scale)
Wie sind nun die Krankenhäuser in Schleswig-Holstein für solche ethischen Fragen aufgestellt? Laut Dr. Annette Rogge, Oberärztin Klinische Ethik am UKSH in Kiel und Mit-Autorin des DIVI-Papiers, halten viele Einrichtungen im schleswig-holsteinischen Gesundheitswesen Strukturen der klinischen Ethikberatung bereit und nutzen sie erfolgreich. Zwischen ihnen findet regional und bundesweit ein verstärkter und regelmäßiger Austausch statt, um solche Probleme zu diskutieren und Lösungsstrategien gemeinsam zu entwickeln. "Noch sind wir in Deutschland in der relativ glücklichen Situation, für Diskussion und Reaktion mehr Zeit zu haben als andere Länder. Ich erlebe gerade, dass wir dies sehr konstruktiv nutzen, um uns gut aufzustellen", sagt Rogge.
Nach ihrer Beobachtung bekommen medizinethische Prinzipien, die Ärzte seit Jahrzenten nutzen, jetzt eine deutlich zugespitzte praktische Relevanz und müssen auf die veränderte Situation angewandt werden. "Insbesondere Gerechtigkeitsfragen beschäftigen uns jetzt ganz verstärkt: Welche Untersuchungen und Eingriffe sind verschiebbar? Die Triage von Intensivkapazitäten wird intensiv diskutiert, auch wenn ich sehr hoffe, dass Situationen, wie sie z. B. aus Italien berichtet werden, für Deutschland nie real werden. Wie viel Unterstützung können und sollten wir innerhalb von Europa anbieten? Wie können wir in Versorgung und Forschung auch anderen Patienten noch gerecht werden?"
Die Verankerung ethischer Fragen in pandemischen Situationen war in der ärztlichen Ausbildung bislang nicht nur nach Erfahrungen Rogges alles andere als ein Schwerpunkt. "Wahrscheinlich wäre ich noch im vergangenen Semester dafür auch für fehlende Praxisrelevanz kritisiert worden", vermutet Rogge. Nun hat sich das gewandelt: Die jetzt auftretenden moralischen Fragestellungen werden ins Curriculum aufgenommen und nach Rogges Hoffnung dort auch verbleiben, denn: "Leider wird das niemand mehr für Deutschland als realitätsferne Diskussion abtun."
Rogge berichtet, dass das moralische Konfliktpotenzial - hervorgerufen vom vielerorts notwendigen Perspektivwechsel von einer vorrangig auf das individuelle Patientenwohl gerichteten hin zu einer stark populationszentrierten Versorgung - alle im Gesundheitswesen Tätigen belastet. Eine wichtige Rolle dabei spielt Moral distress. "Dieser tritt jetzt verstärkt auf, weil wir Ärzte eigentlich wissen, wie wir moralisch richtig handeln sollten, aber durch äußere Umstände daran gehindert werden es auch zu tun." Als Beispiel nennt sie die aus infektiologischer Sicht notwendige Einschränkung von Angehörigenbesuchen. Allen Patienten und insbesondere Sterbenden wünscht man, dass alle ihnen wichtigen Personen bei ihnen sein können - was vor der Pandemie niemand in Frage gestellt hätte. "Jetzt müssen wir plötzlich abwägen zwischen dem berechtigten Wunsch des individuellen Patienten und dem Infektionsschutz für viele. Das müssen wir dann auch noch kommunizieren, durchsetzen und die daraus folgende Situation auf Station gemeinsam aushalten. Insbesondere Berufsanfänger, Studierende im PJ und Medizinstudierende sollten hierfür Unterstützung erfahren", appelliert Rogge.
Die Unterstützung für die Entscheidung in ethischen Fragen sollte nach Ansicht von Dr. Henrik Herrmann vertieft werden. Der Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein spricht sich u. a. für mehr Angebote in der Akademie der Ärztekammer aus. Herrmann hat an einer Orientierungshilfe der Bundesärztekammer zur Allokation medizinischer Ressourcen während der SARS-CoV-2-Pandemie im Falle eines Kapazitätsmangels mitgewirkt. Als oberstes Gebot gilt der BÄK, dass in Deutschland alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um die benötigten Ressourcen bedarfsgerecht auszubauen. "Dies ist bisher gelungen", stellte die BÄK Ende April fest, aber auch: "Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass zukünftig bei zusätzlicher Beanspruchung des Gesundheitswesens durch COVID-19-Kranke eine Situation knapper (intensiv)medizinischer Ressourcen entsteht, zumal auch zunächst aufgeschobene medizinische Maßnahmen in absehbarer Zeit durchgeführt werden müssen oder dringlich werden."
Für diese Situation hat die Bundesärztekammer Handlungsgrundlagen als Orientierungshilfe formuliert, die zunächst klarstellen, dass auch in Pandemiezeiten das Selbstverständnis des ärztlichen Berufs gilt. Als handlungsleitend sind beispielhaft die folgenden Grundsätze aus den ärztlichen Berufsordnungen genannt:
- "Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten" (aus § 1 Muster-Berufsordnung).
- "Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen. Das Recht der Patientinnen und Patienten, empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen abzulehnen, ist zu respektieren" (aus § 7 der Muster-Berufsordnung).
- "Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Eine gewissenhafte Ausübung des Berufs erfordert insbesondere die notwendige fachliche Qualifikation und die Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse. Ärztinnen und Ärzte dürfen hinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen" (aus § 2 der Muster-Berufsordnung).
Wenn Ärzte in Konfliktsituationen z. B. bei nicht ausreichenden intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten geraten, in der eine Entscheidung zwischen zwei oder mehreren Menschen unausweichlich ist, müsse diese nachvollziehbar und auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Erkenntnisse begründet und auch dokumentiert werden, fordert die BÄK. In einem solchen Fall komme hinsichtlich der strafrechtlichen Beurteilung als Rechtfertigungsgrund vor allem die so genannte rechtfertigende Pflichtenkollision in Betracht. Auch handeln Ärzte nach Überzeugung der Bundesärztekammer rechtmäßig, wenn sie in einer Situation existentieller Knappheit unter sorgfältiger Berücksichtigung der Berufsordnung und des aktuellen Standes der medizinischen Erkenntnisse einzelfallbezogene Entscheidungen über die Allokation (intensiv) medizinischer Ressourcen treffen. Dabei sollen die nachfolgenden Grundsätze besonders beachtet werden.
Es dürfen nur Behandlungen empfohlen werden, für die eine medizinische Indikation besteht. Empfehlungen und Entscheidungen müssen so weit wie möglich transparent gemacht und begründet werden. Der Respekt vor der Autonomie und der Würde der Patienten ist eine der ersten Selbstverpflichtungen im ärztlichen Gelöbnis. Die Empfehlung zur Formulierung entsprechender Willenserklärungen (z. B. Patientenverfügungen, ärztliche Notfallanordnung) im Vorfeld einer Erkrankung oder in einer frühen Erkrankungsphase ist gerade auch im Zusammenhang der SARS-CoV-2-Pandemie von großer Bedeutung. Die gemeinsame Entscheidungsfindung über medizinische Maßnahmen darf nicht auf die Intensivmedizin oder den stationären Sektor begrenzt werden. Der ambulanten Versorgung kommt mit Blick auf die Abwendung einer kritischen Versorgungslage und mit Blick auf die Wahrung der Patientenautonomie eine Schlüsselrolle zu. Eine frühzeitige Ermittlung und Dokumentation der Patientenpräferenzen (idealerweise Vorsorgevollmacht mit Patientenverfügung) sollte bereits im präklinischen Bereich erfolgen, nicht zuletzt damit auch im Falle einer (dann) fehlenden Einwilligungsfähigkeit nur diejenigen Patienten stationär aufgenommen werden, die eine Krankenhausbehandlung mit möglicher Intensivmedizinischer Therapie wünschen.
Kein Menschenleben ist mehr wert als ein anderes. Es gilt der
Grundsatz der Gleichbehandlung.
Daher verbieten sich Benachteiligungen aufgrund von Alter, Geschlecht, Nationalität, Behinderung oder sozialem Status. Auch medizinisch geprägte Kategorisierungen (z. B. Demenz, andere chronische Erkrankungen) dürfen nicht zu einem pauschalen Ausschluss von erforderlichen Behandlungen führen. Es sind stets einzelfallbezogene Entscheidungen nach dem Prinzip der Gerechtigkeit auf der Basis von fairen, transparenten sowie ethisch und medizinisch-fachlich begründeten Kriterien geboten. Entscheidungen dürfen nicht schematisiert oder anhand von starren Algorithmen getroffen werden. Die Indikation zu medizinischen Maßnahmen richtet sich nach dem üblichen klinischen Vorgehen. Nach den Prinzipien des Wohltuns (Benefizienz) und Nichtschadens ist zu prüfen, ob eine medizinische Behandlung eine realistische Erfolgsaussicht hat und sich ein vom Patienten gewolltes Behandlungsziel erreichen lässt.
Anfang Texteinschub
VORAUSSETZUNG FÜR EINE SORGFÄLTIGE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG
Um einen existenziellen Mangel bei der Versorgung lebensbedrohlich
erkrankter Menschen zu vermeiden, müssen Ressourcen durch verbesserte
Kooperation optimal ausgenutzt werden, fordert die Bundesärztekammer.
Eine intensive Netzwerkbildung mit guter Zusammenarbeit zwischen
ambulantem und stationärem Bereich sowie mit dem ÖGD können eine
Überschreitung der Behandlungskapazitäten verhindern helfen. Neben der
Information über freie Behandlungsplätze in anderen Kliniken müssten
die Kapazitäten für die Verlegung von intensivpflichtigen Patienten
bedarfsgerecht ausgebaut werden. Um im Falle eines existenziellen
Mangels verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen zu können,
müssten von der Klinikleitung und vom letztverantwortlichen
Entscheidungsträger folgende grundlegende Leitfragen beantwortet
werden.
Entscheidungswege und Verantwortlichkeiten innerhalb der stationären
Einrichtung (Aufgabe der Klinikleitung)
1. Sind Organisation und Ablaufprozesse der stationären
Patientenaufnahme inkl. der klinikinternen Zuteilung festgelegt?
2. Haben sich Klinik und niedergelassene Ärzte über die
Einweisungsmodalitäten und die Möglichkeiten einer kurzfristigen
Abstimmung im Einzelfall verständigt und sind die entscheidenden
Ansprechpartner bekannt?
3. Liegen in der Aufnahmestation der Klinik alle erforderlichen
Informationen zur Entscheidungsfindung vor (Festlegungen zum
Patientenwillen, Anamnese, Vorbefunde, medizinische Befunde)?
4. Sind Verantwortlichkeiten für organisatorische und medizinische
Fragen sowie Entscheidungen festgelegt? Das betrifft die stationäre
Aufnahme und Entscheidungen im Behandlungsverlauf. Ist hierzu die
Beratung im interprofessionellen Team definiert?
5. Besteht die Möglichkeit der zeitnahen Einbeziehung eines Ethik-Komitees?
6. Sind Kriterien für die Entscheidungsfindung beschrieben (Indikation, Patientenwille, Erfolgsaussichten)?
7. Ist festgelegt, wer getroffene Entscheidungen gegenüber Patienten
und Angehörigen transparent macht?
8. Sind diese Festlegungen und Prozeduren in einer klinikinternen SOP
schriftlich niedergelegt und allen Mitarbeitern zugänglich und bekannt
gemacht? Sind die Empfehlungen der medizinisch-wissenschaftlichen
Fachgesellschaften verfügbar und bekannt?
Bei der Entscheidung im Einzelfall vom Letztverantwortlichen zu
klärende Fragen
1. Liegen alle entscheidenden Informationen zum Patientenwillen sowie
zu den medizinischen Befunden vor?
2. Sind die Empfehlungen der medizinisch-wissenschaftlichen
Fachgesellschaften berücksichtigt?
3. Ist die Möglichkeit einer Verlegung geprüft?
4. Sind die Beratungsergebnisse des interprofessionellen Teams sowie
ggf. eines Ethikkomitees in die Entscheidungsfindung mit eingeflossen?
5. Ist sichergestellt, dass die Entscheidung nicht allein aufgrund der
Zugehörigkeit des Patienten zu einer bestimmten Gruppe (z. B. Alter,
soziale Kriterien, Behinderung) getroffen wird?
6. Ist sichergestellt, dass Entscheidung nicht schematisiert, sondern
einzelfallbezogen erfolgt?
Ende Texteinschub
Algorithmen oder Checklisten z. B. können grundlegende ethische
oder medizinische Prinzipien verdeutlichen. Sie können aber die
Entscheidung im jeweiligen Einzelfall nicht vorwegnehmen oder
ersetzen. Kein Arzt darf mit Priorisierungsentscheidungen bei
fehlenden ausreichenden Ressourcen allein gelassen werden. Für die
individuelle Einschätzung von Indikation und Erfolgsaussicht ist eine
Beratung im interdisziplinären und interprofessionellen Team wichtig
und nach Möglichkeit durchzuführen. Sofern möglich, sollen auch
telemedizinische Konsultationen bei Bedarf erwogen werden. So kann
zudem die Transparenz der Entscheidung für Patienten und Angehörige
verdeutlicht werden. Dieser Entscheidungsprozess muss unter der
Leitung und Verantwortung erfahrener Ärzte stehen. Die ärztliche
Letztverantwortung und Dokumentation der Entscheidung muss festgelegt
sein. Wann immer möglich, sollten klinische Ethik-Komitees oder ein
anderes, z. B. bei der Landesärztekammer eingerichtetes Ethik-Komitee
zeitnah in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. In einer
Priorisierungssituation wegen überlastender Inanspruchnahme begrenzter
Ressourcen wird dies meist nicht möglich sein. Deshalb ist es wichtig,
Ärzte anhand der bestehenden Empfehlungen auf eine solche Situation im
Vorfeld vorzubereiten. Hierzu können Leitfragen helfen.
Das bedeutet: Für die BÄK sind die medizinische Indikation, der Patientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten zentrale Kritierien für Entscheidungen unter Ressourcenknappheit. Wenn Priorisierungsentscheidungen erforderlich sind, müssen grundsätzlich alle Patienten, die Behandlungsbedarf haben, einbezogen werden - unabhängig davon, ob ihr Bedarf auf eine infektiöse Erkrankung oder eine andere (intensiv)medizinisch behandlungsbedürftige Krankheit zurückgeht. Reichen die Ressourcen nicht aus, sollen diese so eingesetzt werden, dass die Erfolgsaussicht mit Blick auf ein Überleben und auf die Gesamtprognose möglichst groß ist und die meisten Menschenleben gerettet werden können. Die BÄK stellt klar: "Solche Entscheidungen sind nur unter existenzieller Knappheit gerechtfertigt. Wesentlich ist, dass die Perspektive von Erfolgsaussichten zeitlich und inhaltlich nicht so weit über den unmittelbaren Behandlungskontext hinaus ausgeweitet wird, dass sich daraus ein pauschaler Ausschluss bestimmter Patientengruppen ergibt. Dieses Risiko wächst, wenn Wertungen zur mittel- und langfristigen Lebensqualität vorgenommen werden, es sei denn, eine erwartete Einschränkung der Lebensqualität entspricht nicht dem Patientenwillen."
In konkreten Priorisierungssituationen fordert die BÄK eine medizinisch-fachliche Abwägung, die sowohl die Bedürfnisse und Erfolgsaussicht für den einen Patienten im Blick hat, als auch die Perspektive der um dieselbe Ressource konkurrierenden Patienten. Hierfür bieten aus BÄK-Sicht die aktuellen Stellungnahmen der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften eine wichtige Hilfe - u. a. die DIVI-Empfehlungen, aber auch die der DEGAM und die Leitlinienwebsite der AWMF.
Die Indikation zur Fortführung einer Intensiv- und/oder Beatmungstherapie im Behandlungsverlauf ist immer wieder kritisch zu überprüfen.
Es ist zu allen Zeiten unärztlich, stellt die BÄK klar, eine intensivmedizinische Therapie unter Einsatz aller lebenserhaltenden Maßnahmen fortzuführen, wenn damit nach ärztlichem Ermessen kein Behandlungserfolg mehr verbunden sein kann oder diese nicht (mehr) dem Patientenwillen entspricht. Aus Sicht der Bundesärztekammer muss auch die Entscheidung über die Fortführung einer Intensiv- oder Beatmungstherapie immer eine Einzelfallentscheidung nach den o.g. Grundsätzen sein. Auch hier seien die Leitlinien und Empfehlungen der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften für die Ermittlung des jeweils aktuellen Standes der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnis hilfreich und zu beachten. Auch eine Therapiezieländerung sollte im Behandlungsteam interdisziplinär und interprofessionell besprochen werden und muss ärztlich verantwortet und dokumentiert werden. Im Falle einer Priorisierungsentscheidung bei nicht ausreichenden Ressourcen unterliegt diese den oben dafür dargestellten Grundsätzen.
Palliativmedizin und psycho-soziale Betreuung dürfen nicht vernachlässigt werden.
Vielmehr ist darauf zu achten, dass für die bedarfsgerechte, ganzheitliche und leitlinienkonforme Behandlung aller Patienten, insbesondere der chronisch Kranken und auch der palliativmedizinisch behandelten Patienten sowohl stationär als auch ambulant ebenso ausreichende Ressourcen vorhanden sein müssen. Priorisierungsentscheidungen dürfen diese Patientengruppe nicht einseitig benachteiligen. Patienten und Angehörigen muss im Falle des nahen Todes soweit irgend möglich der Kontakt zueinander ermöglicht werden. Die ambulante medizinische Versorgung muss - ggf. mit Priorisierungentscheidungen - wohnortnah erfolgen. Bei der spezialisierten stationären Behandlung und hier insbesondere der intensivmedizinischen Behandlung müssen bei knappen Ressourcen auch überregional und deutschlandweit freie Kapazitäten für die Allokations- und Priorisierungsentscheidung ermittelt und beachtet werden.
Klar ist für die BÄK auch, dass Ärzte Gewissheit brauchen, dass sie sich keinen rechtlichen Risiken aussetzen, wenn sie in extrem schwierigen Situationen unter Berücksichtigung der beschriebenen Kriterien Entscheidungen zur priorisierten Allokation medizinischer Ressourcen treffen.
Die Corona-Pandemie hat aber noch weitere ethische Konflikte offenbart: So sollen etwa die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems gesichert und zugleich die damit einhergehenden Einschränkungen für die Bevölkerung gering gehalten werden. Um solche Balanceakte zu bewältigen, sind ständige Abwägungen erforderlich. Wie schwer diese im Einzelfall fallen können, machte der Deutsche Ethikrat deutlich. Bei der Suche nach Antworten spielen neben der Inanspruchnahme von Ressourcen Grundprinzipien wie Solidarität und Verantwortung tragende Rollen. Klar ist für den Ethikrat, dass die mit der Krise entstehenden ethischen Fragen gesamtgesellschaftlich gelöst und die dafür erforderlichen Entscheidungen von der Politik gefällt werden müssen. "Es widerspräche dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, politische Entscheidungen an die Wissenschaft zu delegieren und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System zu verlangen. Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen. Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik", so der Ethikrat.
Anfang Texteinschub
Experten
Dem von Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU)
einberufenen Expertenkreis gehören Prof. Klaus Rabe (Ärztlicher
Direktor der Lungenklinik Großhansdorf), Prof. Jan Rupp (Direktor der
Klinik für Infektiologie und Mikrobiologie des UKSH, Lübeck), Prof.
Philipp Rosenstiel (Direktor des Instituts für Klinische
Molekularbiologie des UKSH, Kiel), Prof. Kamila Jauch-Chara
(Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKSH,
Kiel), Prof. Helmut Fickenscher (Direktor des Instituts für
Infektionsmedizin des UKSH) an, aber auch Prof. Gabriel Felbermayr
(Präsident des Instituts für Weltwirtschaft), Frank Roselieb (Institut
für Krisenforschung) und Uta Fölster, Präsidentin des
Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts.
Ende Texteinschub
Auf Bundes- und Landesebene haben Politiker für diese
Entscheidungen unterschiedlich zusammengesetzte Expertengremien
einberufen. "Wir möchten und wollen Sie hören, um im Kreis der
Landesregierung offen darüber diskutieren zu können, was wir der
Bevölkerung Schleswig-Holsteins nach dem 19. April weiter zumuten
müssen und an welcher Stelle getroffene Maßnahmen überdacht oder
gegebenenfalls verändert werden können", sagte Schleswig-Holsteins
Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) zum Auftakt der Beratungen der
von ihm einberufenen Expertenrunde. Dies habe vor dem Hintergrund
einer dynamischen und sich stets veränderten Situation zu erfolgen.
"Die ausstehenden schwierigen Entscheidungen müssen plausibel und
nachvollziehbar sein und den Gesundheitsschutz der Bevölkerung stets
in den Mittelpunkt stellen", sagte Landesgesundheitsminister Dr. rer.
pol. Heiner Garg (FDP) vor den Beratungen.
In Zusammenhang mit freiheitsbeschränkenden Infektionsschutzmaßnahmen riet der Deutsche Ethikrat, diese "fortlaufend kritisch zu evaluieren". Die Frage, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise eine geordnete Rückkehr zu einem einigermaßen "normalen" gesellschaftlichen und privaten Leben sowie zu regulären wirtschaftlichen Aktivitäten erfolgen kann, trieb auch den Ethikrat um. Die von dem Gremium empfohlenen Einzelmaßnahmen reichen vom Aufstocken der Kapazitäten über die Einführung eines flächendeckenden Systems zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten bis zur Förderung von Forschung an Impfstoffen und Therapeutika sowie zu Strategien zur politischen Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19.
- Die Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates zur Corona-Krise
finden Sie auf der Website des Gremiums unter:
www.ethikrat.org/pressekonferenzen/der-deutsche-ethikrat-zur-corona-krise/
- Die klinisch-ethischen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin finden Sie unter:
www.divi.de/empfehlungen/publikationen/covid-19/1549-entscheidungen-ueber-die-zuteilung-intensivmedizinischer-ressourcen-im-kontext-der-covid-19-pandemie-klinisch-ethische-empfehlungen/file
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildungen der Originalpublikation:
- Dr. Annette Rogge, Oberärztin Klinische Ethik am UKSH in Kiel und Mit-Autorin des DIVI-Papiers, beobachtet in Deutschland derzeit eine rege Diskussion über ethische Fragen: "Noch sind wir in Deutschland in der relativ glücklichen Situation, für Diskussion und Reaktion mehr Zeit zu haben als andere Länder. Ich erlebe gerade, dass wir dies sehr konstruktiv nutzen, um uns gut aufzustellen."
- Ein Patient unter Beatmung auf einer Intensivstation. Bislang reichten die in Deutschland bestehenden und kurzfristig aufgestockten Kapazitäten aus, um alle Patienten zu versorgen. Auch Menschen aus benachbarten Ländern konnte in Deutschland geholfen werden.
- Wie finden Ärzte zu einer Entscheidung, wenn die zur Verfügung stehenden Ressorucen in der Intensivmedizin nicht ausreichen? Ärzte dürfen mit dieser Entscheidung nicht alleingelassen werden, mahnt die Bundesärztekammer. Sie erinnert Politik, Gesellschaft, Selbstverwaltung und Angehörige aller Gesundheitsberufe an die Pflicht alles zu tun, um in Pandemiezeiten existenzielle Knappheit nicht aufkommen zu lassen. Ärzten bietet die BÄK eine Orientierungshilfe zur Allokation medizinischer Ressourcen in Pandemiezeiten.
- Mediziner beraten
Ethische Fragestellungen standen in ärztlichen Diskussionen in der
Vergangenheit nicht immer im Vordergrund. Durch Corona hat sich das
geändert: Die Triage von Intensivkapazitäten wurden in den vergangenen
Wochen intensiv diskutiert. Die Bundesärztekammer und medizinische
Fachgesellschaften haben sich dem Thema genauso gewidmet wie der
Deutsche Ethikrat. Ärzte sind auch in Expertenbeiräten zur
Entscheidungsfindung von Politikern eingebunden.
Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2020
im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202005/h20054a.htm
Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de
*
Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Nr. 5, Mai 2020, Seite 6 - 11
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2020
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang