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FORSCHUNG/2614: Hirnforschung - Das Missing Link in der Neuromedizin (impulse - Uni Bremen)


impulse aus der Forschung -
das Autorenmagazin der Universität Bremen Nr. 2/2011

Neurobiologie und Mikroelektronik verbessern die Behandlung von Hirnerkrankungen
Das Missing Link in der Neuromedizin

Von David Rotermund, Elena Tolstosheeva, Walter Lang und Andreas Kreiter


Neue Einblicke in die Struktur und Funktionsweise des Gehirns lassen Mediziner auf verbesserte Diagnose und Behandlung von Hirnerkrankungen hoffen. Bisher fehlen jedoch präzise Methoden, Aktivitäten im Gehirn exakt, schnell und längerfristig zu messen. Zusammen mit Hirnforschern der Universität Bremen entwickeln Ingenieure des Instituts für Mikrosensoren, -aktoren und -systeme (IMSAS) Elektroden für den kabellosen Einblick in Hirnaktivitäten.


Naturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrhunderten hat es ermöglicht, die grundlegende Funktionsweise der meisten Organe des Körpers zu verstehen. Darauf aufbauend konnten die Ursachen zahlreicher wichtiger Krankheiten verstanden und medizinische Behandlungen entwickelt werden, die unsere Lebenserwartung seit Jahrzehnten immer größer werden lassen. Während jedoch die Funktionsweise von Herz, Lunge, Leber oder Niere Schritt für Schritt aufgedeckt wurde, blieben die Leistungen des Gehirns, unser Wahrnehmen, Denken und Fühlen weitgehend unverstanden. Dementsprechend gering sind die Möglichkeiten geblieben, Therapien für entsprechende Erkrankungen zu entwickeln.

In den letzten zwei Jahrzehnten zeigt sich jedoch eine deutliche Trendwende: Zunehmend gelingt es, Strukturen im Gehirn zu identifizieren, die für definierte kognitive Leistungen verantwortlich sind. Vor allem gelingt es zunehmend, die grundlegenden Mechanismen der kognitiven Leistungen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit oder Gedächtnis zu verstehen: Wie zahlreiche Nervenzellen durch den wechselseitigen Austausch elektrischer Signale bestimmte Schritte der Informationsverarbeitung erbringen.

Obgleich derzeit noch keine geschlossene Theorie der Hirnfunktion vorliegt, befördern einige der jüngeren Forschungsergebnisse neue Ideen für neue diagnostische und therapeutische Ansätze. Zu diesen Ergebnissen gehört die Möglichkeit immer genauer und schneller Informationen über besonders interessante kognitive Zustände aus den elektrischen Aktivitätsmustern des Gehirns zu gewinnen. So konnte gezeigt werden, dass Makaken alleine mit den bei ihnen gemessenen Aktivitätsmustern des Gehirns eine Armprothese erfolgreich steuern können.

Diese und ähnliche Ergebnisse sind durch neue Methoden in der tierexperimentellen Grundlagenforschung möglich geworden und bilden die Basis der sich derzeit rasch entwickelnden Neuroprothetik. An dieses noch sehr junge Forschungsgebiet knüpft sich eine Vielfalt von Erwartungen, durch differenzierte Interaktionen mit dem Gehirn eine Reihe ganz unterschiedlicher Krankheitsbilder besser behandeln zu können.

So wird bereits Parkinsonpatienten mit Hilfe von Tiefenhirnstimulationen sehr erfolgreich geholfen. Hörprothesen erlauben es Gehörlosen, wieder akustische Eindrücke zu erlangen. Mediziner hoffen auf Sinnesprothesen, die differenzierte Sinneseindrücke ermöglichen, auf die Steuerung komplexer Arm- oder Beinprothesen direkt durch das Gehirn, auf effiziente Kommunikationsmöglichkeiten mit Patienten mit Locked-In-Syndrom, auf die gezielte Blockade sich aufbauender epileptischer Anfälle bei geringem Medikamenteneinsatz, auf erweiterte Therapiemöglichkeiten verschiedener psychiatrischer Krankheiten durch gezielte Stimulation relevanter Hirnregionen und auf Fortschritte in der Rehabilitation von Schlaganfallspatienten.


Interaktion mit dem Gehirn

Zentrales Problem für die Entwicklung dieser aussichtsreichen Ansätze und vor allem für ihre praktische Anwendung in der Medizin ist das Fehlen geeigneter Methoden. Gesucht werden Techniken für die schnelle, hochdifferenzierte, langfristig zuverlässige und medizinisch komplikationslose Interaktion mit dem Gehirn. Die relevanten Aktivitätsmuster sind sehr komplex und auf viele Strukturen des Gehirns verteilt. Derzeit ist nicht zufriedenstellend gelöst, wie sie erfasst werden können.

Elektroenzephalographische Messungen (EEG), bei denen die Elektroden auf der Kopfhaut angebracht sind, können viele der wichtigen, aber lokal im Inneren des Gehirns auftretenden Signale nicht erfassen. Zudem gewinnt das EEG zu wenig Informationen aus dem Hirn pro Zeiteinheit. Schneller und differenzierter wäre eine Messung der Aktivitätsmuster direkt an der Gehirnoberfläche. Dies erfordert aber dutzende, durch Schädel und Kopfhaut nach außen führende Kabel. Solche Verfahren werden daher nur in wenigen medizinischen Anwendungsgebieten und nur für wenige Tage eingesetzt. Ein Beispiel ist die präoperative Epilepsiediagnostik, bei der erkranktes Gewebe lokalisiert wird, um es dann operativ zu entfernen.

Die präziseste und schnellste Methode - theoretisch - wäre die Messung der Aktivitätsmuster direkt an der einzelnen Nervenzelle. Dies gelingt bislang nur im Tierexperiment, für eine sehr beschränkte Anzahl von Zellen und über beschränkte Zeiträume mit ebenfalls kabelgebundenen Methoden. Beim Menschen verhindert die relativ große Beweglichkeit des Gehirns längerfristig stabile Messungen einzelner Nervenzellen.


Methoden aus der Grundlagenforschung

Untersuchungen an der Universität Bremen mit Makaken weisen auf einen neuen Lösungsansatz für das Problem hin. Die Studien dienen eigentlich der grundlegenden Erforschung von Hirnfunktionen wie Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Mit einer hierfür eigens entwickelten Anordnung aus kleinen, nahe beieinander und über dem visuellen Kortex platzierten Elektroden (Elektrodenarray) gelang es, über mehrere Jahre hinweg räumlich hochauflösende Aktivitätsmuster stabil und zuverlässig zu messen. Obgleich diese Signale nicht von einzelnen Nervenzellen stammen, sondern die synchrone Aktivität lokaler Nervenzellgruppen widerspiegeln, zeigten sie einen unerwartet hohen Informationsgehalt. So konnten bei Makaken, die auf die Wahrnehmung abstrakter Figuren trainiert waren, allein aufgrund der gemessenen neuronalen Aktivitätsmuster innerhalb von Sekundenbruchteilen die Figuren identifiziert werden, die gerade im Gesichtsfeld des Tieres gezeigt wurden. Die Signale verraten aber nicht nur, welche Figuren das Tier gerade wahrnimmt, sie erlauben auch mit großer Präzision vorherzusagen, auf welche der Figuren sich gerade die Aufmerksamkeit des Tieres richtet. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Messmethode und beobachtete Signale sich ausgezeichnet für die Neuroprothetik eignen würden, wenn es gelänge, ein vergleichbares und geeignetes Elektrodenarray für den Menschen zu entwickeln. Ein solches Array sollte für die optimale Erfassung der Signale eine möglichst hohe Zahl dicht angeordneter Elektroden bereitstellen. Um Kabelverbindungen zwischen Gehirn und Außenwelt zu vermeiden sollten Energieversorgung und Kommunikation mit dem Array drahtlos erfolgen. Dabei sollte die gesamte Elektrodenmatte inklusive der übertragenden Elektronik für einen optimalen Kontakt zum Gehirn dennoch sehr dünn und flexibel bleiben.

Dieses Ziel verfolgen Ingenieure und Neurowissenschaftler der Universität Bremen zusammen mit der Firma Brain Products und der Universitätsklinik Bonn im Rahmen des vom BMBF geförderten Projektes KALOMED (Kabellose Erfassung lokaler Feldpotentiale und elektrische Stimulation der Großhirnrinde für medizinische Diagnostik und Neuroprothetik).


Drahtloser Kotakt zum Gehirn

Im Reinraum des IMSAS wurde jetzt ein neues Elektrodenarray hergestellt. Es besteht aus einer nur hundertstel Millimeter dünnen Folie aus Polyimid, in der Metallelektroden eingebettet sind. Die Folie ist flexibler und schmiegt sich den Wölbungen des Gehirns sehr viel besser an als die bisher verfügbaren konventionellen Elektrodenmatten. Die Messpunkte sind wesentlich enger gesetzt als bisher: Statt der üblicherweise verfügbaren Auflösung von einem Zentimeter werden jetzt 0,8 bis 1,6 Millimeter erreicht. Beide Konstruktionsmerkmale tragen dazu bei, dass das räumliche Muster der Hirnaktivitäten im Bereich des Arrays sehr viel genauer und detailreicher erfasst werden kann.

Warum ist diese Ortsinformation so wichtig? Zurück zum Beispiel der schweren Epilepsie. Wenn diese Krankheit nicht ausreichend mit Medikamenten behandelt werden kann, setzt sich die Zerstörung im Gehirn weiter fort und kann lebensbedrohlich werden. Angesichts dieser Gefahren muss man sich dazu entschließen, erkrankte Teile des Gehirns chirurgisch zu entfernen - ein schwieriger Eingriff, da wichtige Funktionen im Gehirn beeinträchtigt werden könnten. Bereits heute wird in einer Voroperation eine konventionelle Elektrodenmatte wie oben beschrieben über dem Gehirn des Patienten implantiert. Mit dieser lokalisiert man das erkrankte Gewebe. Gleichzeitig zeigen die Untersuchungen, wo sich besonders wichtige Funktionen des Gehirns befinden, die wenn irgend möglich nicht beeinträchtigt werden sollten.

Mit einem neuen Elektrodenarray, das genauere, höher aufgelöste Diagnosen ermöglicht, kann der Arzt sicherer entscheiden, an welcher Stelle genau operiert werden muss. So besteht die Chance, erkranktes Hirngewebe präziser zu entfernen und umliegendes Gewebe zu erhalten.

Die Vision der Bremer Forscher geht noch weiter. In Zusammenarbeit mit den Elektronikern des Institut für Theoretische Elektrotechnik und Mikroelektronik (ITEM) und des Instituts für Telekommunikation und Hochfrequenztechnik (ITH) in Bremen sollen Elektroden entstehen, die drahtlos arbeiten und die lange Zeit im Körper verbleiben können. Damit wird die Belastung der Patienten geringer und es eröffnen sich neue medizinische Perspektiven. Patienten könnten ein Implantat erhalten, das die Gehirnfunktion stabilisiert, so wie Herzkranke heute einen Herzschrittmacher tragen.

Entsprechende therapeutische Ansätze bestehen schon bei chronischem Schmerz oder Depressionen. Bei Patienten, die unter Epilepsie leiden, könnte eine Art Frühwarnsystem charakteristische Anzeichen eines bevorstehenden Anfalls automatisch erkennen und mit Hilfe zeitlich und räumlich strukturierter Stimulationen die Entgleisung der Hirnaktivität im Ansatz verhindern. Schwer behinderte Personen, Patienten, die an den Folgen eines Schlaganfalls oder an einer fortschreitenden Lähmung durch Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) leiden, könnten Prothesen oder Serviceroboter direkt durch Gedanken steuern. Dies wird ihnen ein größeres Maß an Selbstständigkeit und Selbstbestimmung ermöglichen, als das heute möglich ist.


AUTOREN

David Rotermund studierte nach seinem Abschluss als chemisch-technischer Assistent an der Universität Bremen Physik und schloss 2007 seine Promotion ab. Seine Forschungstätigkeit liegt in den Bereichen Informationskodierung und -verarbeitung des Gehirns. Seit Mitte November koordiniert er das Kalomed Projekt (www.kalomed. info). Im Vordergrund steht die Erforschung eines kabellosen, voll-implantierbaren elektrophysiologischen Messsystems.

Elena Tolstosheeva erlangte ihr Diplom in Elektrotechnik an der Technischen Universität Hamburg. Für Ihre Arbeit forschte sie auch bei Philips Research in Eindhoven, Niederlande, an dehnbaren Elektroden für einen Kardiomyoziten-Medikamententest. Seit 2009 arbeitet sie am IMSAS. Zu Ihren Forschungsinteressen gehören flexible und dehnbare MEMS (Mikroelektromechanische Systeme) für den medizinischen Anwendungsbereich.

Walter Lang studierte Physik in München und promovierte an der dortigen Technischen Universität bevor er an der Fraunhofer-Einrichtung für Modulare Festkörper-Technologien EMFT in München arbeitete. 1995 wurde er Abteilungsleiter am Institut für Mikrotechnik und Informationstechnik der Hahn-Schickard-Gesellschaft in Villingen-Schwenningen. Seit 2003 ist er Professor an der Universität Bremen und Direktor des Instituts für Mikrosensoren, -aktoren und -systeme IMSAS.

Andreas Kreiter ist seit 1997 Professor für Neurobiologie am Zentrum für Kognitionsforschung. Das Studium der Biologie an der Universität Tübingen schloss er 1989 mit einer Arbeit am Max-Planck Institut für biologische Kybernetik ab. 1992 promovierte er mit einer am MPI für Hirnforschung in Frankfurt durchgeführten Arbeit zur Bedeutung neuronaler Synchronisation für visuelle Bindungsprozesse. Schwerpunkt seiner Forschung sind die neuronalen Mechanismen kognitiver Prozesse.

Weitere Informationen:
www.imsas.uni-bremen.de
www.zkw.uni-bremen.de



ABBILDUNGEN

[Bildunterschriften und Seitenangabe der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen, siehe Originalpublikation im Internet unter:
http://www.uni-bremen.de/universitaet/presseinfos/publikationen/impulse/aeltere-ausgaben-impulse.html#c2529]

Seite 14:
Elektroenzephalographische Messungen (EEG), bei denen die Elektroden auf der Kopfhaut angebracht sind, können viele auftretende Signale nicht erfassen.

Seite 15:
Auf tausendstel Millimeter zugeschliffen, erlauben Mikroelektroden im Tierexperiment optimale Messungen an direkt an einzelnen Nervenzellen.

Seite 16:
Die Folie verlässt den Schädel durch einen hundertstel Millimeter breiten Spalt und führt die Signale zu einer Steckverbindung. Ziel ist ein System mit drahtloser Übertragung.

128 Elektroden bilden das Messfeld von der Größe einer 1-Cent-Münze. Der Aufbau misst Hirnströmungen mit einer Auflösung von 0,8 bis 1,6 Millimetern.

Die Goldelektroden sind in einer 10 Mikrometer dünnen flexiblen Folie eingebettet.

Fertiges Elektroden-Array mit Steckerverbindung. Der flexible Teil wird auf die Hirnhaut gelegt, der feste Teil sitzt auf dem Schädel und erlaubt Stecker für die Aktivitäts-Messungen anzubringen.


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Quelle:
impulse aus der Forschung -
das Autorenmagazin der Universität Bremen Nr. 2/2011, Seite 14-17
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Pressestelle der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2012