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FORSCHUNG/2021: Ulmer Hirnforscher fordern herrschende Lehrmeinung heraus (uni ulm intern)


uni ulm intern, Nr. 297, April 2009 - Das Ulmer Universitätsmagazin

Klang von Begriffen sichtbar gemacht
Ulmer Hirnforscher fordern herrschende Lehrmeinung heraus

Von Willi Baur


Begriffe wie Telefon, Rasenmäher oder Staubsauger, allesamt mit charakteristischen Geräuschen verbunden, aktivieren schon beim Lesen Bereiche im Gehirn, die auch beim tatsächlichen Hören aktiv sind. Begriffe ohne Geräuschbezug dagegen, »Tisch« zum Beispiel lassen die Hörareale kalt. Eine Gruppe von Hirnforschern um den Ulmer Psychologen Dr. Markus Kiefer schließt daraus: »Unser Gehirn erzeugt die Bedeutung von Begriffen durch die Wiederherstellung der dazugehörenden Sinneswahrnehmungen.« Fehle diese Verknüpfung, »bleiben die Begriffe blutleer, ein richtiges Verständnis fehlt«, sagt der Privatdozent und Leiter der Sektion für Kognitive Elektrophysiologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III der Uni Ulm. Er weiß indes auch: »Unsere Ergebnisse fordern die herrschende Lehrmeinung heraus.«


Dementsprechend sei die Resonanz auf die Veröffentlichung der Arbeit im renommierten »Journal of Neuroscience« Ende vergangenen Jahres gewesen, in der Wissenschaft wie in den Medien gleichermaßen. »Aber wir konnten erstmals klar belegen, dass Begriffe wesentlich in den Sinnessystemen des Gehirns verankert und keinesfalls abstrakt sind, wie lange Zeit angenommen wurde und häufig immer noch wird.« Freilich: »Was im Alltag selbstverständlich erscheint, ist im Gehirn ein hoch komplizierter Prozess, dessen Entschlüsselung erst am Anfang steht«, macht Kiefer deutlich. Abstrakt und unabhängig von der Sinneswahrnehmung jedenfalls scheine dieser Prozess demnach nicht zu sein.

War also Konfuzius schon vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren seiner Zeit voraus? Nur zu gerne zitiert Markus Kiefer heute den chinesischen Philosophen: »Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.« Der große Weise in Fernost verfügte allerdings weder über EEG noch über funktionelle Kernspintomographie. Damit nämlich haben die Ulmer Forscher die Gehirnströme von 40 Probanden beim Lesen von immerhin 55 Wörtern gemessen und die Aktivitäten des Gehirns beobachtet. Mit bemerkenswerten Erkenntnissen.

»Wir konnten zweifelsfrei belegen, dass die Verarbeitung von Begriffen auf einer teilweisen Wiederherstellung der Hirnaktivität während der Sinneswahrnehmung beruht«, berichtet der Psychologe, der in Mannheim studiert, in Heidelberg über die Organisation des semantischen Gedächtnisses »summa cum laude« promoviert und sich an der Uni Konstanz mit einem artverwandten Thema habilitiert hat: »Zusammenwirken kognitiver Systeme: Die Rolle des semantischen Gedächtnisses bei der Informationsverarbeitung«.

Dabei beginne die Hirnaktivität schon 150 Millisekunden nach dem Anblick des Wortes, »also bevor das Bewusstsein den Begriff verarbeiten kann«, so Kiefer weiter. Und, in diesem Zusammenhang nicht unwichtig: »Die Aktivität in den Arealen der Sinneswahrnehmung ist umso stärker, je mehr die Probanden Geräusche für das jeweilige Objekt als bedeutsam einschätzen.« Wie das »Klingeln im Kopf« beim Lesen des Wortes »Telefon« zum Beispiel.

Für Markus Kiefer durchaus nachvollziehbar: »Über die Natur der Begriffe spekulierten Philosophen seit Jahrtausenden, ohne zu einer Einigung zu kommen.« Einige hätten allerdings bereits vor einigen hundert Jahren vermutet, »dass nichts im Verstand sei, was nicht vorher in den Sinnen war«.

Mit den Ergebnissen der Ulmer Forschungsarbeit sei die Wissenschaft nun einen Schritt weiter: »Was wir sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, hinterlässt dauerhafte Gedächtnisspuren im Gehirn, die die Bedeutung eines Begriffs ausmachen.« Natürlich werde diese Verbindung einem Menschen nicht ständig bewusst.

Nur so sei sicher gestellt, »dass die Planung und Durchführung von Handlungen auf der tatsächlichen Wahrnehmung der Umwelt und nicht auf Vorstellungsbildern beruht«. Zugleich aber seien die Sinneserfahrungen ganz zentral für den Erwerb von Begriffen. Kinder etwa sollten beim Begriffserwerb ihre Umwelt mit möglichst vielen Sinnen erfahren, so Kiefer. Andernfalls nämlich bleibe das Wissen blutleer. »Problematisch ist beispielsweise, wenn Kinder heutzutage Alltagsbegriffe wie Tiere oder Pflanzen häufig nur durch das Fernsehen oder im Bilderbuch kennen lernen.« Dann könnten sie keine reichhaltigen Begriffe über wichtige Zusammenhänge in ihrer Welt entwickeln.

Wobei inzwischen übrigens auch Erwachsene von den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren: Die Ulmer Psychologen nutzen sie mit großem Erfolg für die berufliche Weiterbildung bei renommierten Unter nehmen im süddeutschen Raum.

»Künftig wollen wir verstärkt auch die Vorgänge bei abstrakten Begriffen erforschen«, kündigt Dr. Kiefer an. Begriffe also wie »Freiheit «, »Liebe« oder »Gerechtigkeit« etwa oder physikalische wie »Gravitation«, mit einem Vergleich vielleicht zwischen Erstsemestern und etablieren Physikern.

»Unsere bisherigen Untersuchungen bezogen sich ja auf konkrete Begriffe, die sich auf reale Gegenstände beziehen.« Er vermute jedoch, dass selbst abstrakte Begriffe wie »Optionsschein« oder »Termingeschäft« letztendlich in Sinneswahrnehmungen gegründet sein müssten, »um ein echtes Verständnis von dem Sachverhalt gewinnen zu können«.

Wie auch immer die Ergebnisse ausfallen werden: Die gravierenden Folgen von mangelndem Verständnis abstrakter Begriffe zeigt Kiefer zufolge die aktuelle Finanzkrise: Sie sei nicht zuletzt dadurch bedingt, »dass die Banker über keine adäquaten Begriffe ihrer hochkomplexen Finanzprodukte verfügten«. Dann sei, so der Ulmer Hirnforscher, »ein Optionsschein an der Börse nur ein Blatt Papier, dessen Bedeutung nur unvollständig nachvollzogen werden kann«. Die messbare Konsequenz: »Da klingelt nichts im Kopf.«


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Quelle:
uni ulm intern, Nr. 297 (39. Jg.), April 2009, S. 28-29
Herausgeber: Universität Ulm, Pressestelle
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uni ulm intern erscheint sechsmal pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2009