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UMWELT/646: Endokrinologischer Klimawandel - Wenn Chemikalien wie Hormone wirken (Thieme)


Thieme Verlag / FZMedNews - Donnerstag, 26. Mai 2011

"Endokrinologischer Klimawandel": Wenn Chemikalien wie Hormone wirken


fzm - Einige häufig verwendete Chemikalien können bereits in geringer Konzentration den Hormonhaushalt des Menschen empfindlich stören. Betroffen ist insbesondere die Entwicklung der Geschlechtsorgane. Experten sprechen in der Fachzeitschrift 'DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift' (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2011) von einem "endokrinologischen Klimawandel".

In den letzten Jahren haben zahlreiche Erkrankungen zugenommen, die mit dem Hormonsystem im weitesten Sinne in Verbindung stehen, schreiben Professor Dietrich Klingmüller vom Institut für Klinische Chemie und Pharmakologie und sein Kollege Dr. Axel Alléra, von der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, beide am Universitätsklinikum Bonn. Dazu gehören Krebserkrankungen an Brust, Prostata und Hoden. Aber auch Fehlbildungen der männlichen Geschlechtsorgane wie Hypospadie, einer abweichenden Mündung der Harnröhre, und Hodenhochstand kämen beispielsweise in Dänemark häufiger vor als in Finnland. Dort haben neugeborene Jungen größere Hoden als in Dänemark. In einigen Ländern beobachten Fortpflanzungsmediziner seit Längerem, dass Anzahl und Qualität der männlichen Samenzellen sinken.

Hormonforscher wie Klingmüller und Alléra bringen dies mit Chemikalien in Verbindung, die im menschlichen Körper den Hormonhaushalt stören. Sie werden als endokrine Disruptoren bezeichnet. Einige verstärken die Wirkung der Hormone, andere blockieren sie. Wieder andere wirken auf die Enzyme ein, die die Hormone im Körper produzieren. Im Projekt COMPRENDO sucht die Arbeitsgruppe um Professor Klingmüller gezielt nach derartigen endokrinen Disruptoren. In Zellkulturen untersuchen sie beispielsweise, wie Chemikalien die Enzymaktivität beeinflussen. Der in Bonn entwickelte "SteroCheck" prüft die Wirkung von Chemikalien auf männliche Geschlechtshormone. Besorgnis erregend ist für die beiden Autoren, dass endokrine Disruptoren bereits in sehr geringer Menge wirksam sein können. Die Experten sprechen von einem "Low dose impact".

Die bekanntesten endokrinen Disruptoren sind Phthalate und Bisphenol A. Beide sind im täglichen Leben allgegenwärtig. Als Weichmacher für PVC sind Phthalate Bestandteil von Plastikverpackungen, Gelatinekapseln, Babyfläschchen, Kosmetika, Deos und Umweltpapier. Sogar in Trinkwasser und Hausstaub wurden sie nachgewiesen, berichten Klingmüller und Alléra. Im Körper stören sie die Aktivität der weiblichen und möglicherweise auch der männlichen Sexualhormone. Dies könne vielfältige Folgen haben. Prof. Klingmüller: In einer Studie kam heraus, dass Phthalate zu einer Verkürzung der anogenitalen Distanz, dem Abstand zwischen Peniswurzel und Anus, führen. Für Hormonforscher ist dies ein Hinweis auf einen Androgenmangel: Ein Hodenhochstand und eine Verkleinerung des Geschlechts sind mögliche Folgen. Die europäischen Behörden haben inzwischen reagiert: Phthalate dürfen in Kosmetika nicht und in Spielzeug und Babyartikeln nur in geringsten Mengen enthalten sein.

Bisphenol A wird bei der Herstellung von Kunststoffen und Kunstharzen verwendet. Es ist in Innenbeschichtungen von Konservendosen, Plastikgeschirr und in Folienverpackungen enthalten. Bisphenol A kann östrogenartig wirken. Eine mögliche Folge sind laut Klingmüller und Alléra nicht nur Fehlgeburten. Bei Männern könne es zu Störungen der Sexualfunktion kommen. Arbeiter mit hoher Bisphenol-A-Belastung erkrankten viermal häufiger an Erektionsstörungen. Bisphenol A wird auch mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko an Altersdiabetes und Herzkrankheiten in Verbindung gebracht. Die amerikanische Food and Drug Administration empfiehlt, die Produktion Bisphenol-A-haltiger Plastikflaschen und Babyfläschchen zu stoppen und Bisphenol A in der Innenbeschichtung von Dosen zu ersetzen. Das deutsche Verbraucherministerium hat die Verwendung von Bisphenol A zur Produktion von Babyfläschchen ab dem 1. März 2011 in Deutschland vorsorglich verboten.

Auch Medikamente können den Hormonhaushalt stören. Dazu gehört beispielsweise Ethinylestradiol, das in einigen "Pillen" zur Empfängnisverhütung enthalten ist oder Mittel gegen Epilepsien, Psychosen sowie viele Krebsmedikamente. Schwere Auswirkungen auf das Hormonsystem haben aber auch die Alltagsdrogen Alkohol und Zigaretten. Beide können die Entwicklung der männlichen Fortpflanzungsorgane behindern. Klingmüller und Alléra: Schwangere, die rauchen oder Alkohol trinken, müssen wissen, dass sie unter Umständen auch die Zeugungsfähigkeit ihrer Söhne schädigen.


D. Klingmüller, A. Alléra:
Endokrin aktive Substanzen in der Umwelt (Endocrine Disruptors) Gefahr für den Menschen?
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2011; 136 (18): S. 967-972


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Quelle:
FZMedNews - Donnerstag, 26. Mai 2011
Georg Thieme Verlag KG
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2011