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AUSLAND/1658: Der Global Health Watch - ein alternativer Gesundheitsbericht (IPPNWforum)


IPPNWforum | 124 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Hingeschaut

Der Global Health Watch - ein alternativer Gesundheitsbericht


Bei Menschenrechten geht es nicht nur um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Menschliche Würde beruht auch auf Nahrungssicherheit, Basis-Gesundheitsversorgung und anderen Bedürfnissen.


Der Global Health Watch hat seinen Ursprung in der internationalen, zivilgesellschaftlichen Gesundheitsbewegung. Die Wurzeln dieser Bewegung gehen auf Kampagnen der 1970er und 1980er Jahre zurück, als Gesundheitsaktivisten die Kluft zwischen dem globalen Norden und Süden zum Thema machten. Meilensteine dieser Aktivitäten sind z.B. die Alma Ata Erklärung der WHO aus dem Jahr 1978 "Gesundheit für alle im Jahr 2000" oder die Liste essentieller Arzneimittel der WHO. Aber auch die Preisreduzierung von AIDS-Medikamenten für Entwicklungsländer und die stärkere Kontrolle der Werbung für Kinderarzneimittel sind ein Erfolg zivilgesellschaftlichen Drucks auf Regierungen und Industrie. In den 90er Jahren rückten Armut und Ungleichheit, ihre Ursachen und ihre Auswirkungen auf Gesundheit mehr ins Zentrum. Im Jahr 2000 wurde als erster Schritt zu einer globalen Gesundheitsbewegung die "People's Health Assembly" in Bangladesh gegründet. Ihr erklärtes Ziel war, den in der WHO Verfassung postulierten größten erreichbaren Standard von Gesundheit als elementares Recht aller Menschen durchzusetzen. Die dort verabschiedete "People's Health Charta" fordert, die Grundursachen schlechter Gesundheit und des fehlenden Zugangs zu gesundheitlicher Versorgung anzugehen. Sie ist zugleich die Agenda für das "People's Health Movement".

Der Global Health Watch nimmt den "Call for Action" dieser Charta auf und unterbreitet Vorschläge, wie deren Prinzipien verwirklicht werden können. In den Bericht gehen die Expertise und die Erfahrungen von Gesundheitsaktivisten, Menschen in Gesundheitsberufen und Wissenschaftlern aus aller Welt ein, die durch ihre Stellung in der Gesellschaft Einfluss auf die Gestaltung von Globaler Gesundheit nehmen können. Der erste GHW aus dem Jahr 2005 wurde von etwa 75 NGOs getragen und vom People's Health Movement (Cairo), Medact (der britischen IPPNW) und der Global Equity Gauge Alliance (Durban) herausgegeben. Der dritte GHW ist derzeit in Vorbereitung und wird außer vom People's Health Movement und Medact nun auch von medico international, TWN (Third World Network) und "Heath Poverty Action" koordiniert. Für diejenigen, die sich intensiver mit Fragen globaler Gesundheit generell oder zu einzelnen Themen befassen wollen, sind diese Berichte ein Muss. Sie verstehen sich als kritische Ergänzung zur WHO und bieten eine kritischen Analyse der Lage sowie alternativer Lösungsansätze aus zivilgesellschaftlicher Sicht. Aus ihnen ist auch für die Gesundheitssysteme des Nordens viel zu lernen. Im Folgenden ist - in aller Kürze - der grundsätzliche Ansatz des GHW darlegt, entnommen aus der Einleitung zum ersten alternativen Weltgesundheitsbericht.


Eine Politik für Gesundheit

Das Nebeneinander von Wohlstand und schwerer Armut weist uns darauf hin, dass letztere durchaus vermieden werden kann. Schätzungen zufolge würde ein universeller Zugang zu Grundbildung, Basis-Gesundheitsversorgung, ausreichender Nahrung, sauberem Wasser und sanitären Anlagen für alle nicht einmal 4 % des Vermögens der 225 reichsten Menschen der Welt kosten. Gleichzeitig ist in vielen Ländern, die mit Hunger zu kämpfen haben, eigentlich genug Ackerland vorhanden, um ihre Bevölkerung mehrmals versorgen zu können. Alternative soziale, politische und ökonomische Vereinbarungen könnten diese knallharten Realitäten ändern. Der Global Health Watch stellt den derzeitigen Stand der Gesundheit auf der Welt in einem explizit politischen Licht dar. Das ist keineswegs neu: Öffentliche Gesundheit ist seit vielen Jahren als politisches Anliegen anerkannt. UNICEF hat zur Erklärung von Kindererkrankung und -sterblichkeit ein Begriffsmodell entworfen. Es zeigt, dass - neben anderen Faktoren - auch das politische, soziale und ökonomische System berücksichtigt werden muss, denn es bestimmt die Verwendung und Kontrolle von Ressourcen und damit auch wo und wie viele Kinder ohne ausreichende Nahrung, Betreuung, sauberes Wasser, sanitären Anlagen und Gesundheitsversorgung auskommen müssen (siehe Grafik). Dieses Model ist auch auf andere Gesundheitsaspekte, wie z.B. AIDS, anwendbar.


Armut und Entwicklung

Die schlimmste Epidemie, der sich die globale Gesundheitsgemeinschaft gegenüber sieht, heißt Armut. Sie ist in den meisten Fällen der Grund für Unterernährung, schürt die Ausbreitung von Krankheiten und verstärkt Folgen von Krankheit und Traumatisierung. Arme Länder sind nicht in der Lage, Gesundheits- und Sozialdiensten ausreichend Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies führt dazu, dass neben der individuellen Armut auch das Gesundheitssystem von Armut bestimmt ist. Wenn man die globale Gesundheit also voranbringen möchte, dann muss man auch der zunehmenden Armut Einhalt gebieten. Gesundheitshelfer setzen sich mit Analphabetismus und den Folgen für die Gesundheit auseinander; außerdem mit fehlendem sauberen Wasser und Sanitäranlagen, Hunger und Nahrungssicherheit, Umweltzerstörung sowie Militarisierung und Konflikt. Das alles sind Kernthemen von öffentlicher Gesundheit und sie zeigen die Herausforderungen, vor denen Gesundheitshelfer, Lehrer, Ingenieure, Geografen, Bauern und Biologen stehen - um nur ein paar Berufe zu nennen, die das universale Recht auf Gesundheit und Würde verwirklichen helfen.


Ungerechtigkeit

Die zunehmende Armut ist auch mit wachsender Ungerechtigkeit verbunden. Das zeigt das Einkommensgefälle zwischen dem Fünftel der Menschen in den reichsten Ländern der Welt und dem Fünftel in den ärmsten. Es lag 1913 noch bei 11 zu 1, während es 1960 schon bei 30 zu 1 und schließlich 1997 bei 74 zu 1 lag. Obschon Ungleichheit meist in Hinblick auf reiche und arme Länder dargestellt wird - ein Fünftel der Reichsten der Welt kommt aus Entwicklungsländern. Gleichermaßen sind Armut und sich weitende Missverhältnisse keineswegs auf arme Länder beschränkt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Ungleichheit auch in wohlhabenden Ländern gewachsen. Ein Bewusstsein für Gerechtigkeit ist wichtig, weil politische und ökonomische Institutionen unfaire Vorteile verstärken und sozioökonomische Unterschiede vergrößern können. Internationale Handelsbestimmungen begünstigen reiche Länder und multinationale Unternehmen. Die Rahmenbedingungen der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds für arme Regierungen sehen beispielsweise die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen und Besitztümern vor. Damit untergraben sie Bildungseinrichtungen und Gesundheitsfürsorge und zersetzen so das soziale Netz.


Menschenrechte und Verantwortlichkeiten

Artikel 25.1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen... ." In Artikel 12.1 des UN-Sozialpakts ist das Recht auf höchstmögliche körperliche und geistige Gesundheit festgeschrieben. Solche Erklärungen erinnern uns daran, dass Menschenrechte nicht nur politische und Bürgerrechte umfassen; sie schließen auch soziale, ökonomische und kulturelle Rechte mit ein. Es geht nicht nur um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Menschliche Würde beruht auch auf Nahrungssicherheit, Basis-Gesundheitsversorgung und anderen Bedürfnissen.

Zumeist stehen beim Menschenrechts-Diskurs die Pflichten von Staaten und Regierungen im Mittelpunkt. Sie verletzen ihre Pflichten, wenn sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht zur Umsetzung der Menschenrechte beitragen. Regierungen, die z.B. die Korruption und Betrug erlauben oder unangemessen hohe Rüstungsausgaben haben, während es großen Teilen der Bevölkerung an den Grundvoraussetzungen zum Überleben und Erhaltung ihrer Würde fehlt, begehen Menschenrechtsverletzungen. Jedoch sieht ein moralisches Verständnis der Menschrechte auch soziale, politische und ökonomische Institutionen in der Verantwortung. Wenn es um das Recht auf Nahrung geht, spielt auch eine Rolle, wie Lebensmittel produziert, kontrolliert und verkauft werden. Man denke hierbei nur die stark subventionierten landwirtschaftlichen Exporte reicher Länder, die zu einer Schwächung der Subsistenzwirtschaft in armen Ländern führt.

Die Verantwortlichkeit, politische und ökonomische Rahmenbedingung so zu verändern, dass sie den Menschenrechten gerecht werden, liegt nicht nur bei Regierungen, sondern auch bei den Bürgern und Akteuren aus der Zivilgesellschaft.


Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft

In Anbetracht der Tatsache, dass soziale, politische und ökonomische Regelungen der gegenwärtigen Un-Gesundheit, Armut und Ungleichheit nicht adäquat entgegentreten können, ist eine stärkere Mobilisierung der Zivilgesellschaft von Not. Der Global Health Watch ist mit vielen Organisationen der Zivilgesellschaft verbunden, zieht ihre Erfahrungen heran und hilft ihnen dabei, ihre Arbeit auszubauen.

Ein Ziel des alternativen Weltgesundheitsberichtes ist es daher, die Leistung und den Einfluss derjenigen Schlüsselinstitutionen zu analysieren, die bei der Förderung von Global Health verantwortlich zeichnen. Gesundheits- und Entwicklungsberichte von Organisationen wie z.B. WHO, UNAIDS und der Weltbank berücksichtigen sich selbst in der Regel nicht, wenn es um eine Analyse von Faktoren geht, die einen positiven oder einen negativen Einfluss auf Gesundheit haben. Diese Lücke möchte der GHW schließen.


David Mc Coy und Michael Rawson von medact, der britischen IPPNW-Sektion, waren maßgeblich am Global Health Watch beteiligt. Das Buch kann im Internet auf Englisch heruntergeladen oder bestellt werden: www.ghwatch.org


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Gadchiroli, Indien, die mobilen Kliniken auf Gemeindeebene sind die einzige Gesundheitseinrichtung. Sie erreichen 400 Patienten täglich.


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Quelle:
IPPNWforum | 124 | 10, Dezember 2010, S. 21 - 23
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2011