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AUSLAND/1664: Palästina - Für einen Arzt aus Deutschland unvorstellbar (IPPNWforum)


IPPNWforum | 124 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Für einen Arzt aus Deutschland unvorstellbar
Ein Erfahrungsbericht über die Lage im Gazastreifen

Von Dr. med. Ashraf Dada


Erstmals nach 11 Jahren reiste ich in den Gazastreifen. Ich war neugierig - während dieser Zeit ist so viel geschehen: die Räumung im Jahr 2005, die Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007, die strenge Blockade des Gazastreifens seit 2006 und schließlich die massive Bombardierung und Zerstörung des Gazastreifens durch die israelischen Streitkräfte Ende 2008/Anfang 2009. Nach der von der internationalen Gemeinschaft geächteten brutalen Stürmung der Hilfsflotte "Mavi Marmara" und der Ermordung von neun ausländischen Friedensaktivisten durch israelische Soldaten haben Israel und Ägypten die Grenze nach massiven internationalen Protesten für humanitäre Zwecke und für durchreisende Palästinenser mit palästinensischem Personalausweis geöffnet. Das heißt jedoch immer noch, dass Palästinenser mit einem ausländischem Pass genauso wie Ausländer kaum eine Möglichkeit haben einzureisen.

Nach meiner Ankunft in Gaza fiel mir als erstes der Rückzug der israelischen Streitkräfte auf. Erstmals konnte ich die Grenze in Rafah ohne physische Beteiligung der Israelis passieren. Auch auf den Straßen von Gaza konnte ich weder hochbewaffnete israelische Soldaten noch Panzer oder sonstige Militärfahrzeuge sehen, die in der Regel permanent auf den Straßen patrouillierten und das Bild des Gazastreifens prägten. Im Angesicht der dauernden Intifada der palästinensischen Bevölkerung im Gaza hatte das israelische Militär im Jahr 2005 beschlossen, den Gazastreifen zu verlassen. Durch den Einsatz moderner Technologie, verschärften Sicherheitsmaßnahmen sowie durch die Überwachung aus Luft und See wird jedoch quasi jede Bewegung der Menschen in dem dicht bevölkerten Gebiet aufgezeichnet. Das Gefühl täuscht also - es sind zwar keine Panzer oder militärisches Gerät mehr auf den Straßen zu sehen, aber das Gebiet steht weiterhin unter vollständiger Kontrolle der Besatzungsmacht.

Die Bevölkerung hat durch die seit Juni 2007 verhängte Blockade einen massiven Verfall ihrer Existenzgrundlagen sowie eine Zerstörung der Infrastruktur und des öffentlichen Lebens erfahren. Eine humanitäre Katastrophe großen Ausmaßes wird praktisch nur durch Aktivitäten internationaler humanitärer Organisationen vermieden. Knapp zwei Jahre nach den letzten massiven Kriegshandlungen ist die gewaltige Zerstörung immer noch überall sichtbar, denn Räum- und Bauarbeiten fanden aufgrund der Blockade nur in einem sehr begrenzten Umfang statt. Dadurch ist Gaza in ein Chaosland mit massiver Umweltverschmutzung verwandelt worden. Die Menschen kaufen billiges, gefährliches Öl und nutzen es zur Inbetriebnahme von Stromgeneratoren, um den von Israel bewirkten Stromausfall zu kompensieren. Überall herrscht ein übler Ölgeruch, der sich mit dem Geruch des nicht entsorgten Mülls zu einer unerträglichen Mischung vermengt. Auch die Wasserqualität entspricht bei weitem nicht den WHO-Standards, da Kläranlagen nicht modernisiert werden können. Zudem steht den Menschen das Wasser nur eine halbe bis maximal zwei Stunden täglich zur Verfügung. Verkehrsmittel sind in Gaza überaltert und oftmals verkehrsuntauglich, der Import neuer Verkehrsmittel ist jedoch verboten. Die vielen Eselskarren auf den Straßen, oftmals von Kindern gefahren, lassen erkennen, wie weit die Menschen in ihrem Lebensstandard durch die inhumane Belagerung, die jahrelange Besatzung und Bombardierung durch die Israelis zurückgeworfen sind.

Über die medizinische Versorgung war ich schockiert. In fast allen besichtigten Krankenhäusern mangelte es an einfacher Basismedizin. Ein palästinensischer Chefarzt berichtete mir, dass es an allen Ecken und Enden an Medikamenten fehle. So gibt es in Gaza keine Chemotherapie zur Behandlung von Tumorpatienten. Röntgengeräte, MRT und CT sind entweder nicht vorhanden oder außer Funktion. Die medizinische Ausstattung der Krankenhäuser ist mehr als katastrophal und für einen Arzt aus Deutschland unvorstellbar. Eine Behandlung von Bluterkrankungen und Vergiftungen mit Hilfe der einfachen Plasmaaustauschbehandlung, selbst die banale Bestrahlung einer Blutkonserve ist aufgrund der Blockade nicht möglich. Es bleibt nur eins zu sagen: Die Menschen in Gaza sind auf Hilfe vom Ausland dringend angewiesen.


Dr. med. Ashraf Dada ist Facharzt für Transfusionsmedizin und stammt aus dem Gaza-Streifen.


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Quelle:
IPPNWforum | 124 | 10. Dezember 2010, S. 10
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2011