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AUSLAND/2427: Straßenkinder in Kenia - Ohne Familie, Unterkunft und gesundheitliche Versorgung... (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Auf der Strasse ... Wohnungslosigkeit und Sucht
Ohne Familie, Unterkunft und gesundheitliche Versorgung ...
Zur Situation von »Straßenkindern« in Kenia

Von Gerhard Trabert


Vor zwei Jahren nahm der Arzt und Sozialpädagoge Gerhard Trabert an einem zweiwöchigen medizinischen Hilfseinsatz in Kenia, in der Region Kisumu am Victoriasee, teil. Mit einer Gruppe von Ärzten, Krankenschwestern, einer Physiotherapeutin, einer Altenpflegerin und einem Apotheker, die sich für die deutsche Hilfsorganisation Ubuntu e.V. engagieren, untersuchte und behandelte das Team häufig von extremer Armut betroffene Kenianer. Im Rahmen dieses Hilfseinsatzes fuhr ein Teil dieser Gruppe zu der drittgrößten kenianischen Stadt, Kisumu, und nahm dort Kontakt mit Kindern auf, die auf der Straße leben. Aufgrund der Erlebnisse und Erfahrungen bei diesem Einsatz entstand 2016 ein aufsuchendes medizinisches Hilfsprojekt, das so genannte Arztmobil, das sich für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Straßenkindern in Kisumu engagiert.


Wohnungslosigkeit stellt eine Extremform von Armut dar. Wohnungslose Kinder und Jugendliche sind die Spitze dieses Armutseisberges. Sie sind das sichtbare Zeichen eines gesellschaftlichen Versagens im Hinblick auf Fürsorge und soziale Verantwortung. Ein Versagen der Erwachsenenwelt. In dem »vergessenen« Kontinent Afrika gibt es zahlreiche, so genannte Straßenkinder, die aus unterschiedlichsten Gründen auf der Straße leben, ohne Unterkunft, ohne Familie. Der Begriff »Straßenkinder« gibt die Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen nur sehr eingeschränkt und fokussiert wieder. Eine einheitliche Definition des Phänomens »Straßenkinder« gibt es nicht. Die vom Institut für Soziale Arbeit (IfSA) empfohlene Umschreibung »Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen« ist zutreffender und zielführender. Hierbei werden drei Gruppen unterschieden (Romahn 2000):

  • die Ausgegrenzten: Hier handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die von zu Hause geflohen sind oder »rausgeschmissen« wurden. Die Straße ist in dieser Gruppe »der vorläufige Endpunkt einer langen Kette von misslungenen Integrationsversuchen« (ebd., S. 13);
  • die Auffälligen: In dieser Gruppe dient die Straße als Ort der Selbstinszenierung bzw. Identifikationsfindung. Diese Kinder und Jugendlichen leben unter ähnlichen Umständen wie die »Ausgegrenzten«;
  • die Gefährdeten: Zu dieser Gruppe zählen die Straßenkinder, die kurzfristig aus der Familie »ausreißen«, wobei hierbei die Gefahr besteht, dass sie sich langfristig von Familie und Schule distanzieren. Die Kinder und Jugendlichen, die zu dieser Gruppe gezählt werden, kommen oft aus sozial benachteiligten Familien (ebd., S. 12-14).

Diese Differenzierung spiegelt allerdings eher die Lebens- und Leidenssituation betroffener Kinder und Jugendlicher in Deutschland/Europa wider.

Die Ursachen, Gründe und Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in besonderen Problemlagen, die ein Leben auf der Straße führen, sind in Mitteleuropa anders als in Südeuropa und wiederum zu unterscheiden von der Situation in Afrika oder Südamerika. Afrika ist der ärmste Kontinent, in die Armut gedrängt hauptsächlich durch Europa: in der Vergangenheit durch eine menschenverachtende Kolonialisierung und in der Gegenwart durch wirtschaftliche Ausbeutung. Eine Armut, die die physische Existenz gefährdet. Mahatma Gandhi sagte einmal: »Armut ist die schlimmste Form von Gewalt.« Diese europäische Politik ist eine wichtige Ursache für die derzeitigen afrikanischen Flüchtlingsbewegungen.

Kenia: eine halbe Million Kinder leben auf der Straße

In dem ostafrikanischen Staat Kenia haben ökonomische Armut sowie die Auswirkung der hohen HIV-Infektionsrate zu einer katastrophalen Entwicklung im Hinblick auf die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen geführt. Auch in Kenia (wie in Deutschland) werden die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsteilen immer größer. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Es herrscht dort eine hohe Arbeitslosigkeit, die Lohnunterschiede sind immens groß, die finanziellen Ressourcen sind ungerecht verteilt, zum Teil herrscht Korruption und Vetternwirtschaft. Das Sozialversicherungssystem ist unzureichend. Die soziale Absicherung geschieht größtenteils durch die Familie und Dorf- sowie Religionsgemeinschaften. Die Gesundheitsversorgung konzentriert sich auf größere Städte, im ländlichen Bereich sind große Versorgungslücken vorherrschend. Zudem ist die rudimentäre Versorgung häufig von schlechter Qualität bzw. abhängig davon, ob die Patienten Geldleistungen aufbringen können.

Die epidemiologischen Zahlen zur Auftrittsquote von Straßenkindern in Kenia sind nur schwer zu verifizieren (etwa 300.000 laut www.strassenkinderreport.de und www.kenyachildrenofhope.org). Es muss aber mit zirka einer halben Million betroffener Kinder und Jugendlicher gerechnet werden.

Es wird, bezüglich der Ursachenanalyse, zwischen so genannten Pull- und Push-Faktoren differenziert:

- Pull-Faktoren: sind Kausalitäten, die die Kinder auf die Straße »ziehen«, wie z.B. Geld verdienen, Nahrung suchen, Freizeitbeschäftigung, Peergroup-Zugehörigkeit und -Beeinflussung;

- Push-Faktoren: sind Faktoren und Gründe, die dazu führen, dass die betroffenen Kinder die Familie verlassen, wie z.B. Armut, Familienkonflikte, Gewalt, Tod eines oder beider Elternteile. Weltweite Untersuchungen ergaben länder- und kulturübergreifend, dass Kinder und Jugendliche vor der Welt der Erwachsenen flüchten, weil sie

  • Kommunikationsschwierigkeiten mit ihren Eltern haben,
  • in zu engen Wohnverhältnissen leben,
  • sexuell missbraucht werden,
  • Schwierigkeiten mit ihren Lehrern haben,
  • von ihren Eltern keine Zuwendung bekommen,
  • gewalttätig behandelt werden,
  • Drogen konsumieren.

Einer der Hauptrisikofaktoren stellt in Gesamtafrika die Familiensituation dar, »allein erziehend« zu sein. Dies ist, gerade auch aufgrund der hohen Letalität durch HIV-Infektionen, Malariainfektionen und einer unzureichenden Gesundheitsversorgung, immer häufiger der Fall. In Kenia finden wir auch das »Children-of-streets-children«-Phänomen. Kinder, die von ihren Angehörigen, aufgrund der extremen Armut, Hilflosigkeit und Überforderung auf der Straße »abgegeben« werden. Um »überleben« zu können, schließen sich viele der Kinder in so genannten Choum zusammen. So bezeichnet man eine Gruppe von Straßenkindern, zu denen man nach Mutproben gehört und die einen gewissen Schutz bieten. Ein Choum ist hierarchisch strukturiert mit einem Anführer, nach dem häufig die Gruppe auch benannt wird. Zusätzlich gibt es »senior leaders« und »junior leaders«. Die Rangposition der einzelnen Mitglieder der Gruppe wird durch Rituale und Mutproben bestimmt. Die Mädchen in einem Choum haben ihre eigenen Hierarchien untereinander, unterliegen aber immer den Anweisungen der männlichen Mitglieder. Der Choum lebt zusammen. Aufgaben werden durch den Anführer verteilt, Geld und Nahrung geteilt. Es kann auch vorkommen, dass Geld gespart wird, um zum Beispiel ein krankes Gruppenmitglied zum Arzt zu schicken oder aus den Händen der Polizei freizukaufen (vgl. Grobbel 2002, S. 42-44; vgl. uu.diva-portal.org, S. 26).

Die Lebensrealität der Straßenkinder von Kisumu

Vorbemerkung: Vor etwa zwei Jahren besuchte ich eine Hilfsorganisation, die sich um Straßenkinder in Kisumu, der drittgrößten kenianischen Stadt, kümmert. Ich könnte jetzt abstrakt, wissenschaftlich distanziert und reflektiert das Phänomen »Straßenkinder« aufarbeiten und beschreiben. Genau dies werde ich aber nicht tun. Ich wähle einen anderen Weg, einen unwissenschaftlichen, einen emotionalen Zugang. Meine Erlebnisse zeigen die Lebenswelt der wohnungslosen Kinder und Jugendlichen eindrücklich auf und bestätigen die oben beschriebenen Gründe.

Wir alle sind bei unserer ersten Kontaktaufnahme etwas nervös bzw. in einem konzentrierten Spannungszustand. Wird es gelingen, werden wir das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen gewinnen, werden wir die Orte finden, an denen sie leben? Wenn man das Leben auf der Straße, besonders hier in Afrika, Leben nennen kann. Charles, ein ungefähr 13-jähriger Junge, ist unser »Führer«. Er lebt schon seit Jahren auf der Straße. Sein Blick, liebevoll, aber auch etwas glasig, verrät den Konsum, das Schnüffeln von Klebstoffen und/oder Lösungsmitteln (Aceton). Charles weiß genau, wohin wir gehen sollen, denn er kennt die Orte, an denen sich die Straßenkinder befinden, denen es besonders schlecht geht. Auf dem Weg zu unserem ersten Patienten nimmt er meine Hand, und wir gehen durch Kisumu. Es berührt mich sehr, wie seine Hand meine Hand sucht und fast ein wenig umklammert. Es ist wahrscheinlich einer der wenigen Momente in seinem jungen Leben, in denen eine körperliche Berührung Zärtlichkeit und nicht Aggressivität beinhaltet. Ich muss mit meiner Emotionalität, mit meinem Betroffensein kämpfen. Charles und mittlerweile noch einige andere Straßenkinder führen uns zu unserem ersten Patienten, einem ungefähr zehn Jahre alten Jungen. Er liegt am Straßenrand im Dreck unter einem Holzverschlag und ist scheinbar auch betäubt vom Schnüffeln dieser hochgefährlichen Substanzen, die das Hungergefühl verschwinden lassen und das Bewusstsein reduzieren. Erschütternde Information: Der Junge wurde vor zwei Tagen vergewaltigt. Unser kenianischer Sozialarbeiter lässt ihn mit einem Dreiradvehikel zu unserem Untersuchungslager, das mittlerweile in einem Park aufgebaut wurde, bringen. Er fährt sicherheitshalber mit. Wir ziehen weiter, von Patient zu Patient. Es ist beeindruckend, mit welch sozialer Kompetenz und scharfem Verstand unsere Begleiter die Dringlichkeit und Notwendigkeit einer medizinischen Fürsorge erkennen und für die Betroffenen quasi einfordern.

Oscar, Duffy, Brian ...

Oscar, ein 18-jähriger, kräftig gebauter junger Mann, der seit mehr als zehn Jahren auf der Straße lebt, hat einen offenen Unterschenkel. Man kann über den gesamten Unterschenkel eine zehn mal fünf Zentimeter große, schmierig-eitrig infizierte Wunde sehen. Ich kann Sehnen und den blank liegenden Schienbeinknochen erkennen. Wir verbinden ihn, geben ihm Antibiotika und Schmerzmittel. Sofort sind 15 bis 20 Straßenkinder um uns herum versammelt. Plötzlich macht mich der Junge darauf aufmerksam, dass meine Fototasche offen sei, ich solle sie doch lieber schließen. Ich fühle mich mit meinen Vorurteilen konfrontiert, mit meiner irrationalen Angst, die Kids könnten eine solche Situation ausnutzen. Nein, sie sind besorgt, und zwar auch um uns.

So geht es weiter, fast drei Stunden. Die Kinder führen uns in ein sehr armes Wohngebiet und wissen genau, wo sich Menschen befinden, denen es gesundheitlich schlecht geht. Ich kenne dieses Verhalten, diese Kompetenz von meiner Arbeit mit wohnungslosen Menschen in Deutschland. Ich weiß um diese gegenseitige subtile Fürsorge, dieses zutiefst empathische Füreinander-da-Sein. Es ist bemerkenswert und wahrscheinlich für viele Menschen irritierend, dass gerade Menschen, die von dieser extremen Armut betroffen sind, dieses Sozialverhalten zeigen - ganz im Gegensatz zu vielen wohlhabenden Mitbürgern.

In der Nähe der »Sozialhalle«, in unserer dortigen medizinischen Sprechstunde im Freien, behandeln wir weitere Kinder. Heidi kümmert sich liebevoll um einen jungen Patienten mit Namen Duffy, der vor zwei Tagen vergewaltigt wurde. Er hat sichtbar Schmerzen und schaut dem Geschehen traurig zu, während er Heidis Hand fest umklammert. Vielleicht ist sie der erste Mensch, der ihn so liebevoll umsorgt und zärtlich berührt. Duffy darf jetzt nicht zurück auf die Straße. Wir werden ihn mitnehmen, zusammen mit Brian, einem 12-jährigen Straßenjungen, dem nach einem Autounfall sein rechtes Bein amputiert worden ist. Sein Prothesenstumpf ist unbrauchbar, er benötigt dringend eine intakte Gehhilfe. Beinamputiert auf der Straße leben müssen - oft denke ich, ich möchte mir gar nicht vorstellen, was dieser Junge schon alles hat erleiden müssen. Und immer wieder kommen Kinder mit abgeschnittenen Plastikflaschen oder kleinen Schnapsflaschen zu uns, in denen sich Klebstoff oder Lösungsmittel befindet. Sie haben einen etwa zehn Zentimeter langen dünnen Holzstab dabei, den sie in das Lösungsmittel stecken und über ihr Zahnfleisch gleiten lassen. Oder sie halten das halbierte Plastikfläschchen im Mund mit den Zähnen so fest, dass sie den Inhalt mit der Nase einatmen, schnüffeln können.

Wir fahren im Dunkeln nach Hause in unser Camp, und für Duffy und Brian wird ein Schlafplatz eingerichtet. Ich glaube, beide können noch nicht wirklich begreifen, was da gerade geschehen ist. Wir können aber auch nicht wirklich verstehen, was wir heute gesehen haben und erleben mussten. Die Zusammenkunft, besser der Zusammenprall zweier total unterschiedlicher Welten - obwohl wir alle auf einem Planeten leben, nur wenige Flugstunden voneinander getrennt. Wahnsinn, Ungerechtigkeit, Ignoranz, Auswirkungen der Kolonialzeit, das Ergebnis eines rücksichtslosen Finanzkapitalismus ... möge sich jeder das herausnehmen, was er oder sie für angebracht empfindet.

Brian, der seit Jahren auf den Straßen Kisumus lebt, beinamputiert und mit kaputter Prothese, beginnt plötzlich zu singen. Sein Gesang ist voller Leidenschaft, Kraft und Melancholie. Wir hören - und sind einfach nur fasziniert und berührt von diesem Jungen. Er ist ein absolut talentierter Sänger. Brian ist ein Scheidungskind. Die Eltern nahmen ihre Kinder getrennt mit in die neue Partnerschaft. Brian wurde von der Stiefmutter sowie Stiefgroßmutter nie akzeptiert, immer wieder geschlagen und gedemütigt. Er erzählt Heidi, dass die Großmutter sogar versucht habe, ihn zu vergiften. Er wurde notfallmäßig im Krankenhaus versorgt, bekam den Magen ausgespült. Er hielt die Misshandlungen nicht mehr aus und musste um sein Leben fürchten. Er floh auf die Straße. Dort wurde er, am Straßenrand liegend, vielleicht schlafend, erschöpft, von Klebstoff betäubt, von einem Auto überfahren. Nach der Amputation des Beines und kurz nachdem ihm die Prothese angepasst worden war, entließ man ihn wieder auf die Straße. Sein Straßenschlafplatz war wiederum so ungünstig gelegen, dass er ein zweites Mal überfahren und dabei seine Prothese zerstört wurde. In diesem Zustand kam er zu uns.

Da Duffy vergewaltigt wurde, müssen wir ihn auch im Intimbereich untersuchen. Wir entdecken einen Abszess, der sofort eröffnet werden muss. Heidi hält seine Hand, während wir diese schmerzhafte Therapie durchführen. Zudem machen wir bei ihm einen HIV-Test. Die traurige Diagnose: Duffy ist HIV-positiv. Die Vergewaltigung als Ursache ist so kurz nach dieser schrecklichen Tat unwahrscheinlich. Ist Duffy vielleicht schon seit seiner Geburt positiv? Wurde er vielleicht schon mehrfach vergewaltigt und ist deshalb positiv? Viele erschütternde Fragen stellen sich nach diesem Befund. Wie wir später erfahren, wurde Duffy von einem größeren Straßenjungen zur Prostitution gezwungen.

Am Abend berichtet Heidi von ihrem Ausflug mit Duffy zu seiner Familie. Mutter und Sohn hielten zu Beginn kaum direkten Blickkontakt. Distanz, Scham, Unsicherheit ...? Duffys Vater ist zwei Tage zuvor verstorben. Was war der Grund, warum Duffy vor vier Monaten, wie sich jetzt herausstellte, geflohen ist? Jetzt wird es etwas kompliziert und für uns kaum nachvollziehbar. Als Erstgeborener hat er eine besondere Stellung. Er habe als Kind immer wieder Stimmen gehört und verschiedene imaginäre Personen gesehen. Diese Stimmen und Personen höre und sehe er aber nur zu Hause. Wenn er nicht mehr in seinem Dorf ist, verschwinden die Stimmen und die Bilder dieser wahnhaft erscheinenden Visionen. Hat dies etwas mit Voodoo, der dort praktiziert wird, zu tun? Wurde Duffy als kleiner Junge missbraucht? Fragen über Fragen! Duffy möchte wieder in unser Camp zurück, die Mutter möchte dies auch. Alles bleibt mysteriös, ungewiss und traurig.

Traumatisierung und Gesundheitsgefahren

Es ist natürlich keine nachhaltige Hilfe, die Kinder einfach aus ihrem Umfeld, auch wenn es noch so katastrophal und schrecklich ist, herauszureißen. Jetzt muss die Sozialarbeit aktiv werden. Kinder und Jugendliche erfahren häufig, wie die Lebensgeschichten eindrucksvoll belegen, eine primäre, sekundäre und tertiäre Traumatisierung. Im Kontext der Betreuung und Begleitung von Straßenkindern spielt die tertiäre oder auch sequenzielle Traumatisierung eine besondere Rolle. Die tertiäre Traumatisierung entsteht dann, wenn Betroffene mit ihrem primären oder sekundären Trauma nicht ernst genommen und aufgefangen werden. Dieses Unterlassen an Hilfe und Wertschätzung setzt quasi erneut ein Trauma in Gang. Und dieses sequenzielle Trauma ist nachhaltiger und führt häufig zu einer Chronifizierung der Traumaerfahrung.

Aufgrund unhygienischer und ungesunder Lebensbedingungen, von Gewalterfahrung, sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung, Mangelernährung und Drogenkonsum ist die Gesundheitssituation vieler Straßenkinder katastrophal. Wie die Geschichte von Duffy zeigt, stellt eine besondere gesundheitliche Gefahr die Prostitution bzw. der sexuelle Missbrauch dar. Geschlechtskrankheiten bzw. durch Geschlechtsverkehr übertragbare Krankheiten spielen in diesem Kontext eine bedeutende Rolle: Lues, Gonorrhö, Aids, Hepatitis B und/oder C.

Wie unsere Erfahrungen auch zeigten, konsumieren sehr viele Straßenkids Schnüffelstoffe als Billigdroge - mit gravierenden gesundheitlichen Gefahren:

  • akute Gefahr: Bewusstlosigkeit und Atemlähmung mit Todesfolge bei Überdosis;
  • Langzeitfolgen: Verätzung der Atemwege, spastische Lähmungen, Demenz (neurotoxische Wirkung), multiple Organschäden (u.a. aufgrund der leber- und nierentoxischen Wirkung).

Des Weiteren spielen psychosomatische Beschwerdekomplexe und Erkrankungen eine wichtige Rolle. Hier können die seit langem bekannten Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zur Korrelation zwischen Armut und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen herangezogen werden. So kommt es häufig zu Erkrankungen der Atmungsorgane, der Haut, zu verschiedenen Zahnerkrankungen und Infektionskrankheiten sowie psychischen bzw. psychosomatischen Beschwerdekomplexen wie Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen, depressiven Verhaltensauffälligkeiten und Angstsyndromen. Aufgrund von Straßenkämpfen und gewalttätigen Übergriffen gibt es häufig Verletzungen und infizierte Wunden, die eine erhebliche Gesundheitsgefahr darstellen (Sepsis). Für eine medizinische Behandlung fehlt das Geld, strukturell sind keine Versorgungsmöglichkeiten vorgesehen.

Deshalb ist eine niedrigschwellige aufsuchende medizinische Versorgung von »Straßenkindern« besonders wichtig. Zudem berichten die kenianischen Kinder von massiver Gewalt, die von der Polizei praktiziert wird. Bei kleineren Diebstahlsdelikten kommt es immer wieder vor, dass die Polizei oder erwachsene Bürger die Täter, die schutzlosen Kinder und Jugendlichen, zu Tode prügeln. Des Weiteren dürfte ein Hemmnis für die Kontaktaufnahme mit Versorgungsinitiativen die negativen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen mit der Erwachsenenwelt sein.

Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeit (Streetwork), Medizin und Behörden ist deshalb von besonderer Wichtigkeit und Notwendigkeit.

Initiative zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung

Aufgrund der oben beschriebenen Erfahrungen vor Ort und der Analysen zur Situation von Straßenkindern und deren Gründe, ein Leben auf der Straße zu führen, hat der Verein Armut und Gesundheit in Deutschland e.V. in Kooperation mit Uhuru e.V. 2016 eine Initiative zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der Straßenkinder in Kisumu durch ein aufsuchendes Angebot, das grundlegende Behandlung und Gesundheitsbildung umfasst, gestartet. Die Ausführung vor Ort übernimmt der lokale kenianische Kooperationspartner »Uhuru Community Development Project«, der bereits seit langem in diesem Bereich mit Sozialarbeitern (Streetwork) tätig ist. Die erste Phase des Projekts wurde im Frühjahr 2016 mit dem Erwerb eines Fahrzeugs und dem Umbau zu einem Arztmobil (»mobile clinic«) sowie der Ausstattung mit Untersuchungsequipment, Verbandsmaterialien und Medikamenten abgeschlossen. Im April 2016 hat eine medizinische Fachkraft (»medical health worker«) die Arbeit aufgenommen. Nach der erfolgreichen Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen konnte mittlerweile auch mit der Behandlung begonnen werden: Aktuell (Stand: September 2016) sind 300 Straßenkinder untersucht worden, davon 50 Mädchen. Die Erkrankungen umfassen vor allem Malaria (150), sexuell übertragbare Erkrankungen, darunter insbesondere HIV-Infektionen (50), Magen-Darm-Infektionen (40) und Infektionen der Atemwege (30). Zusätzlich zur praktischen medizinischen Arbeit werden außerdem Beratung und Gesundheitsbildung angeboten.

Eine Herausforderung, wie sehr schnell deutlich wurde, stellt die Gewährleistung der Kontinuität medikamentöser Behandlungen, z.B. mit Antibiotika, dar. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutsamkeit der Kombination von praktischer Gesundheitshilfe und Bildungsarbeit im Gesundheitsbereich sehr deutlich.

Diese aufsuchende Sozial- und Gesundheitsarbeit vermittelt zudem das Maß an Wertschätzung und Bedeutung, die den betroffenen Kindern und Jugendlichen durch dieses Versorgungskonzept zugesprochen wird. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat in der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen den Begriff »Gleichwürdigkeit« in die deutsche Sprache quasi eingeführt. Er betont, wie wichtig es gerade für die Entwicklung von heranwachsenden Menschen ist, ihnen mit Respekt, Würde und Wertschätzung zu begegnen, damit es zur Ausbildung von Resilienz kommen kann. Neben einer adäquaten Gesundheitsversorgung ist die Stärkung des Selbstwertgefühls, der Selbsteinschätzung und der Selbstkompetenz im Sinne einer Stärkung der Widerstandskraft, einer individuellen Resilienz, für eine stabile Gesundheit entscheidend.


Prof. Dr. med. Dipl.-Soz.-Päd. Gerhard Trabert lehrt an der Hochschule RheinMain, Wiesbaden, im Fachbereich Sozialwesen Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie.
E-Mail: gerhard.trabert@hs-rm.de


Literatur:

Grobbel, L. (2002): Soziale Arbeit in Nairobi, Kenia - am Beispiel von Straßenkinderprojekten. Frankfurt am Main/London: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation.

Romahn, A. (2000): Straßenkinder in der Bundesrepublik Deutschland. Beweggründe - Straßenkarrieren - Jugendhilfe. Frankfurt am Main: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation.


Internetquellen:

Der Straßenkinderreport. Zur Lage der Kinder in der Welt: Straßenkinder in Kenia (23.9.2011):
www.strassenkinderreport.de

Kenya Children of Hope: The street children of Nairobi:
www.kenyachildrenofhope.org

Uppsala Universitet (Kaime-Atterhög, Wanjiku): Digital Comprehensive Summaries of Uppsala Dissertations from the Faculty of Medicine: From Children of the Garbage Bins to Citizens: A reflexive ethnography study on the care of »street children« (2012):
http://uu.diva-portal.org

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017, Seite 42 - 45
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2017

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