afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 2, März/April 2017
Weggesperrt - Psychiatrie und Apartheid
von Rita Schäfer
Misshandlungen psychisch Kranker waren im Apartheidregime
verbreitet. Sie prägten die Psychiatrie Südafrikas - eine
institutionelle Schaltstelle des totalitären Systems.
Die aktuellen Todesfälle psychisch Kranker in Gauteng reihen sich ein
in eine lange Geschichte der systematischen Entwürdigung kranker
Menschen in Südafrikas Psychiatrien. Wie Gefängnisse und militärische
Einrichtungen zählten sie zu totalen Institutionen des
Apartheidapparats, wo Überwachung und Strafe, Machtmissbrauch und
Erniedrigung an der Tagesordnung waren. Punktuell thematisierte die
Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC 1996-1998) diese Strukturen.
Wegsperren lautete bereits das Motto der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC), die 1652 in der Tafelbucht vor Anker ging. Schon außerhalb des ersten Forts und am Kompaniegarten in Kapstadt wurden "verhaltensauffällige" Menschen getrennt untergebracht. Auch die britische Kolonialverwaltung nahm sie in Gewahrsam. Faktisch verfrachtete sie Aufmüpfige, Leprakranke und Kriminelle nach Robben Island, der kalten und von schweren Stürmen umbrausten Insel draußen im Meer. 1912 wurden dort 500 psychisch Kranke festgehalten. Zudem wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Psychiatrien in mehreren Landesteilen gegründet. Das war unter anderem eine Reaktion auf die steigende Zahl armer und arbeitsloser Weißer, deren "Degenerierung" durch "Mischehen" in Slums Kulturnationalisten nach dem Burenkrieg (1899-1902) Einhalt gebieten wollten. Hinzu kam die Pathologisierung sogenannter Kriegsneurosen. Als Rechtsgrundlagen dienten Verordnungen aus den Jahren 1894 und 1902. Spezielle Militärpsychiatrien wurden nach dem 2. Weltkrieg eröffnet, wie das Tara-Krankenhaus am Rande Johannesburgs, das ein Militärarzt leitete.
Gesetze zur Kontrolle von "Wahnsinnigen" wie der Mental Disorder Act no. 38 von 1916 regelten die Zuständigkeiten dieser Einrichtungen. Er wurde 1973 vom Mental Health Act abgelöst, der trotz des Namens keineswegs die Rechtslage der Kranken verbesserte. Wie viele kafkaeske Apartheidgesetze widersprachen der Gesetzestext und dessen Umsetzung dem, was im Titel stand. So war dieses Gesetz integraler Bestandteil der diskriminierenden Rassentrennungspolitik: Psychiatrische Hilfsangebote fokussierten auf weiße Patienten, während die schwarze Bevölkerungsmehrheit kaum staatliche Unterstützung bei schweren psychischen Krankheiten erhielt.
Die wenigen Einrichtungen waren miserabel ausgestattet, komplett überbelegt und die Sanitäranlagen in einem katastrophalen Zustand. Die Weltgesundheitsorganisation WHO und US-amerikanische Psychiater dokumentierten die menschenunwürdigen Zustände, die zu hohen Todesraten führten. So starben zahlreiche Patienten an Grippe oder anderen behandelbaren Infektionskrankheiten, laut WHO in den 1970er Jahren jährlich etwa 80.
Allerdings entsprachen Krankheits- und Todesursachen nicht bei allen Verstorbenen der Realität. Und nicht alle wurden bestattet, sondern etliche Leichen für anatomische Studien zerlegt. Zahllose Regimegegnerinnen und Untergrundkämpfer verschwanden hinter den hohen Mauern der Psychiatrien. In diesen geschlossenen Anstalten wurden sie zum Schweigen gebracht; ihre Familien hörten nie mehr von ihnen. Viele wurden allein auf Verdacht hin eingeliefert, manche waren verraten worden und hatten keine Möglichkeiten zu Einspruch oder Gegenwehr.
Sie waren der Willkür der Ärzte ausgeliefert, konkret betraf das die Dosierung von Psychopharmaka - teilweise für Medikamententests - und die Anordnung von Elektroschocks. Die öffentliche Anhörung der Wahrheits- und Versöhnungskommission TRC zum Gesundheitssektor dokumentierte, wie weiße rassistische Psychiater an Heilmitteln sparten und die Gehirne schwarzer Patienten mit extrem hohen Voltzahlen (bis zu 460 V) traktierten. Hirnblutungen waren eine häufige Todesursache. Die Psychiater der Apartheid verstießen auch gegen berufsethische Standards, wenn sie an Folterungen durch die Polizei und das Militär mitwirkten, indem sie Folteropfer psychisch brachen und das staatliche Sicherheitspersonal in Psychoterror ausbildeten oder unterstützten. Sadismus und sexuelle Gewalt weißer Pfleger waren ebenfalls an der Tagesordnung.
Auch ausbeuterische Zwangsarbeit, sogenannte "Industrie-Therapie", die das damals zuständige Gesundheitsministerium etwa in privaten Produktionsstätten auf alten Minengeländen erlaubte, wurde von der TRC dokumentiert. Beispielsweise betraf das Smith & Mitchells, die 1988 in Life Care Specialized Health Services umbenannt wurden. Auch diese Einrichtungen hatten hohe Todesraten, häufige Todesursache waren behandelbare Atemwegsinfekte.
Während der Apartheid ignorierten regimetreue Psychiater aber schwere psychische Erkrankungen, die aus willkürlichen Zwangsumsiedlungen, Verhaftungen ohne Anklage, Polizeigewalt, Folter, Armut, Hunger, Mangelernährung, ausbeuterischer Wanderarbeit und extrem schlechter medizinischer Versorgung resultierten. Patienten mussten von ihren Familien versorgt werden, die dafür überhaupt nicht ausgebildet waren und mehrheitlich selbst existenzielle Sorgen hatten.
Verletzungen körperlicher Intimität und Formen sexualisierter Gewalt betrafen auch zwangsrekrutierte weiße Homosexuelle, die nicht den systemerhaltenden Vorstellungen von martialischer Männlichkeit der südafrikanischen Armee entsprachen. In Psychiatrien oder Militärkrankenhäusern wurden sie der sogenannten "Aversion-Therapie" unterzogen, aus der Sicht der Armeechefs galt Homosexualität als psychische Krankheit. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission dokumentierte am Beispiel einzelner Fälle "Behandlungsmethoden" wie Elektroschocks, Hormone zur chemischen Kastration und unfreiwillige chirurgische Geschlechtsumwandlungen. Etwa 900 junge Männer wurden Opfer derartiger Misshandlungen mit schweren Folgeschäden.
Aubrey Levin ist als einer der Hauptverantwortlichen namentlich bekannt. Er war ab 1969 lange Jahre in führender Position für die Armee tätig. Obwohl er dort unter anderen für sexuelle Folterungen weißer homosexueller Soldaten im berüchtigten Militärhospital Greefswald in Voortrekkerhoogte nahe Pretoria verantwortlich war, wurde er nie strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. 1995 verließ er Südafrika und traktierte in Kanada weiter psychisch Kranke. 2013 wurde er wegen sexueller Übergriffe auf dortige männliche Patienten verurteilt; über zwanzig Opfer hatten ihn schon Jahre zuvor angezeigt. Juristische Ermittlungen und das Gerichtsverfahren verliefen schleppend, erst 2014 erfolgte ein Haftbefehl.
Insgesamt haben sich die südafrikanischen Psychiater und ihre Berufsverbände nie zu ihrer Mittäterschaft bekannt; trotz Kritik internationaler Fachvereinigungen und der Weltgesundheitsorganisation WHO beriefen sie sich immer auf ihre Neutralität. Faktisch waren sie aber systemerhaltende Agitatoren des Apartheidregimes. Ähnlich wie Wouter Basson, ab 1981 Leiter der B- und C-Waffenforschung im Project Coast, das in den Roodeplaat-Forschungslabors nördlich von Pretoria mit Giften experimentierte. Tausende schwarze "Testpersonen" starben, weil sie beispielsweise mit Antrax verseuchte Nahrungsmittel unwissentlich aßen. Auch zehn Jugendliche aus dem Township Mamelodi bei Pretoria, die der Apartheid-Spion Joe Mamasela mit falschen Versprechungen für den Untergrundkampf angelockt hatte, wurden mit Project Coast-Chemikalien bewusstlos gemacht und umgebracht. Weder die TRC noch Strafverfahren konnten Mamasela oder Basson etwas anhaben. Letztgenannter berief sich auf die militärische Ethik und praktizierte jahrelang weiterhin als Kardiologe.
In Folge der demokratischen Wende 1994 wurden die Psychiatrie und die Gesetzgebung im Gesundheitsbereich reformiert. Nach umfassenden Konsultationen mit Gesundheitspersonal, Behörden, Forschern, Interessenvertretungen von Patienten und Familienangehörigen der Kranken wurde der Mental Health Care Act no. 17 formuliert, den das Parlament und der National Council of Provinces 2002 verabschiedeten. Dieses Gesetz bezieht sich auf internationale Abkommen und benennt die Pflichten des Gesundheitspersonals. Großen Stellenwert haben die Rechte der Patienten.
Angesichts von Traumata durch Apartheidgewalt, neue kriminelle Gewaltübergriffe, Belastungen durch vielfältige gesundheitliche und ökonomische Probleme, wie HIV/Aids, existenzielle Armut und Wohnungsnot, sind schwere psychische Erkrankungen weiterhin verbreitete Risiken - auch in Folge von Drogenmissbrauch. Es gibt jedoch zu wenig staatliche Hilfsangebote und Einrichtungen, oft sind sie unzureichend ausgestattet und das Personal ist überfordert. Auch die angestrebte Gemeindeversorgung kann vielerorts wegen mangelnder Ausstattung und Kenntnisse nicht gewährleistet werden.
Zusätzliche schwere Depressionen und Angst vor Obdachlosigkeit erschweren die Rehabilitation psychisch Kranker. Um so wichtiger sind umfassende professionelle Unterstützungen der Patienten und ihrer Familien sowie strukturelle Verbesserungen der staatlichen medizinischen Versorgung und systematische Koordination zwischen zuständigen Behörden. Unabhängige Nichtregierungsorganisationen spielen eine zentrale Rolle, um Missstände in staatlichen Einrichtungen und die verbreitete Veruntreuung von Geldern - gar Geldwäsche - aufzudecken, die Stigmatisierung der Patienten zu überwinden und ihre Würde und Menschenrechte zu wahren.
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REZENSIONEN
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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
46. Jahrgang, Nr. 2, März/April 2017, S. 13-14
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
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Tel.: 0228 / 46 43 69, Fax: 0228 / 46 81 77
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"afrika süd" erscheint mit 6 Heften im Jahr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2017
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