Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN


AUSLAND/2548: Belgien - Gesundheitssystem mit Sparvorgabe (KBV klartext)


KBV Klartext
Das Magazin der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, 2. Ausgabe 2019, Nr. 25, Juli 2019

Gesundheit anderswo
Belgien: Gesundheitssystem mit Sparvorgabe

von Tom Funke


Niedrige Krankenkassenbeiträge müssen die Versicherten in Belgien mit finanzieller Selbstbeteiligung kompensieren. Wegen zu hoher Kosten setzt die Regierung dennoch den Rotstift an - auch im Gesundheitswesen.

Das Königreich Belgien ist ein föderal organisierter Bundesstaat. Er umfasst eine Fläche von 30.688 Quadratkilometern und zählte Ende 2018 rund elf Millionen Einwohner. Amtssprachen sind Französisch, Niederländisch und Deutsch. Das Land gliedert sich in drei Regionen: Wallonien im Süden, Flandern im Norden und die Hauptstadtregion um Brüssel. Hinzu kommen die drei sogenannten Gemeinschaften, die Französische, die Flämische und die Deutschsprachige Gemeinschaft. Regionen und Gemeinschaften sind, mit Ausnahme von Flandern und der Flämischen Gemeinschaft, nicht deckungsgleich. Sie haben verschiedene Regierungen und Parlamente mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Zwar gibt es auch eine Zentralregierung, in Belgien hat sich jedoch nach sechs Föderalismusreformen der Machtschwerpunkt von der Bundes- auf die Landesebene verschoben. Grundsätzlich gilt: Entweder der Bund oder das "Land", also Regionen oder Gemeinschaften, sind für einen Politikbereich zuständig. Es gibt keine konkurrierende Gesetzgebung wie in Deutschland.


Belgien in Zahlen

(im Vergleich zu Deutschland)

Bevölkerung:
Belgien: 11,5 Mio.
Deutschland: 83,0 Mio.

Einwohner ab 65 Jahre:
Belgien: 17,8 %
Deutschland: 21,4 %

Lebenserwartung Frauen:
Belgien: 83,7 Jahre
Deutschland: 83,2 Jahre

Lebenserwartung Männer:
Belgien: 79,2 Jahre
Deutschland: 78,4 Jahre

Praktizierende Ärzte je 1.000 Einwohner:
Belgien: 3,1
Deutschland: 4,3

Anteil Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt:
Belgien: 10,4 %
Deutschland: 11,5 %

Quellen: OECD, Statistisches Bundesamt, Statbel,
Gesundheitsberichterstattung des Bundes


Auf der Bundesebene sind in Belgien der Föderale Öffentliche Dienst (FÖD) Soziale Sicherheit und der FÖD "Volksgesundheit, Sicherheit der Nahrungsmittelkette und Umwelt" für die Gesundheits- und Sozialpolitik zuständig. Die FÖD sind mit deutschen Bundesministerien vergleichbar. Sie sind verantwortlich für den Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Überwachung der Lebensmittelsicherheit sowie der Arzneimittelsicherheit und haben die Aufgabe, die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme mit Kranken- und Invalidenversicherung sicherzustellen. Die Regionen und Gemeinschaften besitzen für bestimmte Bereiche der Sozial- und Gesundheitspolitik eigene gesetzgeberische Kompetenzen. Sie sind unter anderem verantwortlich für Gesundheitsförderung und Vorsorge, für Sozialdienste und Gemeinschaftspflege, für die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen Grundversorgung und Pflege und für die Finanzierung der örtlichen Krankenhäuser.

Behandlung gegen Kostenerstattung

In Belgien hat jeder ein in der Verfassung verankertes Grundrecht auf Gesundheitsversorgung. Das belgische Gesundheitssystem wird im Sinne eines verpflichtenden Sozialversicherungssystems mit Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie aus Steuermitteln des Staates finanziert. Das obligatorische Sozialversicherungssystem schließt Arbeitnehmer und gleichgestellte Gruppen wie Rentenbezieher, Arbeitslose, Behinderte und Studenten ein. Für alle Sozialversicherungsbereiche wird ein gemeinsamer Globalbeitrag erhoben. Aus diesem Budget werden Sach- und Geldleistungen im Krankheitsfall sowie die Altersversorgung und Transferleistungen bei Arbeitslosigkeit geleistet. Der Beitrag für Arbeitnehmer beträgt 13,07 Prozent des Bruttolohns. Der Arbeitgeberanteil liegt nach einer Reform der Beitragssätze seit 2018 bei 25 Prozent. Aus dem Globalbeitrag entfällt anteilig auf die Krankenversicherung ein Beitrag von 3,55 Prozent für Arbeitnehmer und 3,8 Prozent für Arbeitgeber.

Durch das obligatorische Sozialversicherungssystem, was eine Pflicht zur Mitgliedschaft in einer Krankenkasse beinhaltet, sind fast alle Belgier (99,6 Prozent) in einer der fünf gesetzlichen Krankenkassen versichert. Alle Krankenkassen erheben zusätzlich zu den Sozialversicherungsbeiträgen einen Grundbeitrag von rund 100 Euro pro Jahr. Durch die Bezahlung dieses Beitrags haben die Versicherten Anspruch auf den gesetzlichen Leistungskatalog. Es besteht Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Krankenkassen. Wettbewerb zwischen den einzelnen Kassen findet nur im Bereich der Zusatzversicherungen statt. Unter anderem bieten verschiedene Kassen Zusatztarife an, um die Kosten bei einem Krankenhausaufenthalt zu reduzieren. Aus historischen Gründen ist die Mitgliedschaft in einigen Krankenkassen nur bestimmten Personengruppen, etwa Berufsvereinigungen, vorbehalten. Die meisten sind allerdings für alle offen. Zusätzlich gibt es die Hilfskasse für Kranken- und Invalidenversicherung (HKIV). Diese erhebt keinen Mitgliedsbeitrag und muss jede Person aufnehmen, die Interesse bekundet. Die HKIV bietet keine Zusatzversicherungen an.

Über den Leistungskatalog der Krankenkassen entscheidet das Landesinstitut für Kranken- und Invalidenversicherung (LIKIV), eine nachgeordnete Behörde des FÖD Soziale Sicherheit, dem die Krankenkassen unterstellt sind. Zudem formuliert das LIKIV unter anderem auch Regeln für die Kostenübernahme von Medikamenten und für die Gewährung von Krankengeld. Der Leistungskatalog der Krankenkassen ist ähnlich umfangreich wie in Deutschland. Versicherte können sich etwa 8.000 verschiedene Leistungen erstatten lassen.

Anders als bei der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland bezahlt man in Belgien Gesundheitsleistungen direkt beim Arzt und beantragt danach bei seiner Krankenkasse die Erstattung. Dazu ist in der Regel eine sogenannte Behandlungsbescheinigung nötig, die der Arzt ausstellt und die der Versicherte bei seiner Krankenkasse einreicht. Seit 2018 können Hausärzte auf freiwilliger Basis diese Bescheinigung auch selbst per Online-Übermittlung bei der Krankenkasse einreichen. Der Versicherte erhält mit dem sogenannten e-Attest-Verfahren automatisch und schneller die ihm zustehende Erstattung.

Zuzahlungen sind die Regel

Bei der Inanspruchnahme einer medizinischen Leistung müssen belgische Versicherte damit rechnen, einen gewissen Anteil selbst zu bezahlen. Krankenkassen erstatten in der Regel bis zu 75 Prozent der für Gesundheitsdienstleistungen gezahlten Honorare. Für die Selbstbeteiligungen gibt es eine nach dem Einkommen gestaffelte Obergrenze, in Belgien Maximalrechnung (MAF) genannt. Diese liegt zwischen 450 und 2.500 Euro jährlich.

In Belgien besteht freie Arztwahl. Allerdings können je nach Wahl zusätzliche Kosten entstehen. Denn anders als in Deutschland mit seinem KV-System, verhandeln die Krankenkassen alle zwei Jahre direkt ein Tarifabkommen mit den Ärzten. Den Medizinern ist es jedoch freigestellt, ob sie dieses Abkommen unterzeichnen (und in diesem Sinne "Vertragsärzte" werden). Tun sie dies nicht, dürfen sie auch übertarifliche Honorare in Rechnung stellen. Diese Zuschläge müssen von den Versicherten zusätzlich zu ihrem Eigenanteil bezahlt werden. Der Arzt ist verpflichtet, den Patienten vor der Behandlung über seine Teilnahme am Tarifsystem zu unterrichten. Zudem gibt es Unterschiede bei der Selbstbeteiligung zwischen Haus- und Fachärzten. Sucht eine zu behandelnde Person einen Hausarzt auf, muss sie in der Regel vier Euro pro Konsultation zuzahlen, bei Fachärzten sind es sechs Euro. Ärztinnen und Ärzte arbeiten oft alleine, ohne medizinisches Fachpersonal wie Schwestern und Empfangspersonal. Dies gilt insbesondere für den ländlichen Raum.

Die Wartezeiten auf einen Termin bei einem Allgemeinmediziner sind sehr kurz, für weiterführende diagnostische Untersuchungen gibt es aber längere Wartezeiten. Versicherte können neben ihrem Hausarzt auch Fachärzte direkt konsultieren oder einen ambulanten Facharzt im Krankenhaus aufsuchen. Durch die Einführung einer sogenannten Allgemeinen Medizinischen Akte (AMA) wird jedoch versucht, eine hausarztzentrierte Versorgung zu etablieren. Die AMA enthält die gesamten medizinischen Daten eines Patienten und wird vom Hausarzt verwaltet. Falls Versicherte die kostenlose Akte bei ihrem Hausarzt beantragen, zahlen sie bei diesem Arzt 30 Prozent weniger Selbstbeteiligung für eine Beratung in seiner Praxis oder für einen Hausbesuch. Bei Überweisungen zum Facharzt oder wenn Versicherte selbst weitere Ärzte aufsuchen, die keinen Zugriff auf die AMA des Patienten haben, entfällt die Ermäßigung auf die Selbstbeteiligung.

Auch für Krankenhausaufenthalte gilt generell, dass ein Eigenanteil bezahlt werden muss. Abhängig davon ob der Patient eine Zusatzversicherung abgeschlossen hat, kann der gesetzliche Eigenanteil unterschiedlich sein. Bei einem Krankenhausaufenthalt muss zunächst eine Pauschale von den Versicherten bezahlt werden, diese wird später mit dem tatsächlich zu entrichtenden Eigenanteil verrechnet. Die Mehrzahl der belgischen Krankenhäuser, rund 70 Prozent, befindet sich in privater, nicht gewinnorientierter Trägerschaft. Die übrigen Krankenhäuser befinden sich in öffentlicher Trägerschaft, meist in kommunaler Verwaltung.

Regierung setzt den Rotstift an

Die Gesundheitsausgaben in Belgien sind in den vergangen zehn Jahren von neun Prozent im Jahr 2005 auf 10,4 im Jahr 2018 stetig gestiegen und liegen nun leicht über dem Durchschnitt aller EU-Länder von 9,9 Prozent. Dieser Anstieg liegt auch an der sogenannten gesetzlichen realen Wachstumsnorm. Sie bestimmt, dass der für den Bereich Gesundheit vorgesehene Teil des Staatshaushalts jedes Jahr um 1,5 Prozent des Staatshaushaltes wächst. Gleichzeitig kämpf Belgien mit einer hohen Staatsverschuldung von zuletzt etwa 102 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP), was deutlich über dem Maastricht-Kriterium liegt welches eine Staatsverschuldung von maximal 60 Prozent erlaubt. Im März 2017 verabschiedete das belgische Parlament eine Reform zur Finanzierung von Programmen der sozialen Sicherheit, einschließlich des Gesundheitswesens. Diese Reform zielt unter anderem darauf ab, das Wachstum der öffentlichen Gesundheitsausgaben durch eine stärkere Rechenschaftspflicht der Sozialpartner besser zu kontrollieren. Die Arbeitgeber sollen zudem weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Um die entstehende Finanzierungslücke aufzufangen und mehr finanziellen Spielraum im Staatshaushalt zu erhalten, wurden Steuern erhöht (etwa die Mehrwertsteuersätze) oder Steuervorteile reduziert. Die Regierung hat außerdem eine deutliche Reduzierung der Gesundheitsausgaben festgesetzt. Zwischen 2015 und 2018 musste der Bereich Gesundheit 2,1 Milliarden Euro sparen. So bekamen die Krankenkassen durch das LIKIV in diesem Zeitraum insgesamt 200 Millionen Euro weniger zugeteilt.

*

Quelle:
KBV Klartext, 3. Ausgabe 2019, S. 24-26
Kassenärztliche Bundesvereinigung
Redaktion Klartext
Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin
Telefon: 030 / 40 05-22 05, Fax: 030 / 40 05-22 90
E-Mail: redaktion@kbv.de
Internet: www.kbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang