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POLITIK/1871: Flüchtlings-Gipfel - Humanitäre Hilfe droht dem Fokus auf Grenzsicherung zum Opfer zu fallen (ÄoG)


Ärzte ohne Grenzen - 26. Oktober 2015

Ärzte ohne Grenzen zum Flüchtlings-Gipfel: Humanitäre Hilfe droht dem Fokus auf Grenzsicherung zum Opfer zu fallen


Zum Ergebnis des Flüchtlings-Gipfeltreffens in Brüssel erklärt Stefano Argenziano, Leiter der Nothilfeprojekte von Ärzte ohne Grenzen auf dem Balkan und in Griechenland:

"Der 17-Punkte-Plan des Gipfeltreffens in Brüssel reiht sich ein in die bisherige europäische Flüchtlingspolitik: geprägt von guten Absichten, aber auch andauerndem Missmanagment. Wir begrüßen die Vorschläge zu einer besseren länderübergreifenden Koordination sowie zur Verbesserung der inakzeptablen Bedingungen, mit denen die Menschen derzeit im Regen in Griechenland sowie auf der Balkanroute konfrontiert sind. Seit Monaten fordern wir menschenwürdige Aufnahmebedingungen. Jetzt erwarten wir, dass sie dringend in den kommenden Tagen umgesetzt werden. Menschen, die fliehen, um ihr Leben zu retten, können nicht länger darauf warten, bis Europa sein kaputtes Asylsystem repariert hat.

Doch einmal mehr droht die humanitäre Hilfe dem Fokus auf Grenzsicherung zum Opfer zu fallen. Wann immer in den vergangenen Monaten neue Registrierungsprozeduren geschaffen wurden, haben unsere Teams vor Ort längere Schlangen und dramatischere Szenen an den Grenzen beobachtet. Wir können die Logik des EU-Kommissions-Präsidenten Jean-Claude Juncker nicht akzeptieren, wenn er sagt: Keine Registrierung, keine Rechte. Humanitäre Hilfe muss unabhängig von Registrierungsmaßnahmen geleistet werden, ansonsten werden diese wiederholten Krisensituationen an den Grenzen kein Ende nehmen."


Ärzte ohne Grenzen ist in den Ländern auf der Balkanroute nach Griechenland, Serbien und Kroatien nun auch in Slowenien mit medizinischen Teams aktiv.

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Slowenien: Dringend mehr Hilfe für Flüchtlinge nötig

Tausende Menschen überqueren derzeit täglich an verschiedenen Punkten die Grenze von Kroatien nach Slowenien. Während manche von ihnen in überfüllten Übergangszentren unterkommen, müssen andere die Nächte unter freiem Himmel verbringen. Ärzte ohne Grenzen unterstützt derzeit das slowenische Gesundheitsministerium im Aufnahmezentrum Brezice und wird nach einer Untersuchung der Lage in der Region die humanitäre Hilfe weiter aufstocken.

Seit der Grenzschließung Ungarns reisen die Menschen von Serbien und Kroatien über Slowenien weiter nach Deutschland und Nordeuropa. Doch auch wenn sich die slowenischen Behörden auf die Ankünfte gut vorbereitet hatten, war der intensive Flüchtlingszustrom überwältigend: Die geplanten Kapazitäten wurden teilweise bis auf das Fünffache überschritten. Bis zu 6.000 Menschen auf der Flucht kommen täglich an verschiedenen Grenzorten an, während die Unterkünfte im gesamten Land für nur rund 2.500 Personen ausgelegt sind. Daher stranden laufend tausende Flüchtlinge unter erbärmlichen Bedingungen sowohl im überfüllten Aufnahmezentrum Brezice als auch auf Feldern rund um Rigonce und Dobava im Osten des Landes. Sie haben keinen Zugang zu Unterkünften, Nahrung und Sanitäranlagen, was Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit hat. Um alle Menschen versorgen zu können, die Hilfe brauchen, müssen die medizinischen Kapazitäten erhöht werden. Die Situation wird sich angesichts der bevorstehenden Wintermonate und sinkender Temperaturen noch weiter verschlechtern.

Menschen sind extrem erschöpft

Ein medizinisches Team von Ärzte ohne Grenzen unterstützt seit Mittwoch das slowenische Gesundheitsministerium im Aufnahmezentrum Brezice. Tausende Menschen auf der Flucht, darunter Familien, Kinder, Ältere und Behinderte, verbringen die Nacht draußen auf dem Gelände des Zentrums, ohne Schutz vor der Kälte.

"Die Menschen sind extrem erschöpft, und es gibt hier nichts", so unsere Krankenschwester Sandra Miller. "Sie schlafen draußen in der Kälte und haben keine Unterkunft, kein warmes Essen, nichts." Derzeit behandelt unser Team hauptsächlich Erschöpfungszustände, Unterkühlung, Atemwegserkrankungen und Grippesymptome. "Von einem medizinischen Standpunkt aus betrachtet brauchen sie derzeit am dringendsten ein beheiztes Zelt und eine warme Suppe", unterstreicht Ärztin Susanna McAllister.

Der Winter naht - mehr Hilfe ist dringend nötig

Nachdem unser Team am Samstag die Situation im Gebiet rund um Brezice erkundet hat, wird nun die logistische und medizinische Hilfe ausgeweitet, um die Situation vor Ort zu verbessern, die Durchreisekapazitäten zu erhöhen und die Aufnahmezentren zu entlasten. Während der vergangenen zwei Tage sind zwischen 10.000 und 15.000 Flüchtlinge in Griechenland angekommen, die wahrscheinlich ihre Reise Richtung Mitteleuropa ebenfalls entlang der Balkan-Route fortsetzen werden.

"Der Mangel an Koordination zwischen den EU-Mitgliedsstaaten erzeugt eine humanitäre Krise", so Margaretha Maleh, Präsidentin der österreichischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, die derzeit vor Ort in Brezice ist. "Diese Menschen haben ein Recht auf Würde und auf humanitäre Hilfe während ihrer Reise, dazu zählen auch eine warme und trockene Unterkunft, ausreichend Essen, warme Duschen und medizinische Versorgung."

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Quelle:
Ärzte ohne Grenzen e. V. / Medecins Sans Frontieres
Pressemitteilung vom 26. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2015

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