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STUDIE/028: Gesundheit als gesellschaftliche Aufgabe (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 152/Juni 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Gesundheit als gesellschaftliche Aufgabe
Kosten und Risiken werden in westlichen Demokratien sehr unterschiedlich verteilt

Von Susanne Marquardt


Kurz gefasst: Der Anteil der öffentlichen Ausgaben an den Gesamtgesundheitsausgaben ist in den westlichen Industrieländern sehr unterschiedlich hoch. In unserer Studie untersuchen wir diesen öffentlichen Anteil in 18 Ländern zwischen 1960 und 2010 und zeigen, dass für die Entwicklung der Gesundheitsausgaben nicht in erster Linie politische Machtverhältnisse entscheidend sind, sondern frühere Entwicklungen. Wir finden auch, dass die individuelle Zustimmung zu staatlichen Gesundheitsausgaben dort besonders hoch ist, wo der staatliche Anteil im Jahr 1960 hoch war. Bestimmte wohlfahrtsstaatliche Politiken lassen sich also nur im Kontext der Vergangenheit erklären.


Die öffentliche Gesundheitsversorgung ist ein fundamentaler Bestandteil moderner Wohlfahrtsstaaten. In der Regel stellt sie das größte oder (nach den Ausgaben fürs Alter) zweitgrößte Sozialprogramm dar. Selbst Länder, die ansonsten vieles dem Markt überlassen, haben überraschend hohe öffentliche Anteile an der Gesundheitsversorgung. Als Beispiel seien hier Großbritannien oder Neuseeland genannt, deren Gesundheitssysteme nur zu sehr geringen Teilen auf privater Versorgung beruhen.

Umso erstaunlicher ist es, dass bislang in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung kaum länderübergreifende quantitative Studien zur öffentlichen Gesundheitsversorgung vorliegen. Zwar gibt es zahlreiche detaillierte Fallstudien, die die Entstehung und Entwicklung einzelner Gesundheitssysteme analysieren, aber in der Makroperspektive findet dieses Thema wenig Beachtung. Um diese Lücke zu füllen, haben wir die Entwicklung des Anteils der öffentlichen Gesundheitsausgaben an den gesamten Gesundheitsausgaben in 13 europäischen Ländern sowie den USA, Australien, Neuseeland, Kanada und Japan in den Jahren 1960 bis 2010 untersucht. Wir wollten Erklärungen dafür finden, warum diese Anteile von Land zu Land sehr verschieden sind.

Man mag einwenden, der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben an den Gesamtausgaben sei ein relativ grobes Maß. Denn jedes einzelne Gesundheitssystem ist anders und kann auch bei ähnlichen Staatsquoten ganz unterschiedlich organisiert sein. Trotzdem liefert uns der öffentliche Anteil wichtige Informationen darüber, wie gesundheitliche Kosten und Risiken in der Bevölkerung verteilt werden. Das definierende Merkmal von öffentlicher Gesundheitsversorgung - im Gegensatz zur privaten - ist, dass Kosten und Risiken über die gesamte Bevölkerung verteilt werden: Arm und Reich, Jung und Alt, Krank und Gesund. Für private Versicherungssysteme muss dieses Prinzip nicht gelten. In der Regel entstehen dort deshalb höhere Kosten und Zugangsschwierigkeiten für Menschen mit höherem Gesundheitsrisiken. Der Anteil der öffentlichen Versorgung spiegelt also das Maß an Einkommens- und Risikosolidarität im Gesundheitssystem eines Landes wider.

Anders als andere sozialstaatliche Programme umfassen Gesundheitsversicherungen die gesamte Bevölkerung. Gesundheitsrisiken mögen einkommens- und schichtabhängig sein - dennoch kann es sich eigentlich niemand leisten, auf diese Form der Versicherung gänzlich zu verzichten. Damit ist die Gesundheitsversorgung ein umfassendes Programm, dessen Leistungsempfänger über alle Partei- und Einkommensgrenzen hinweg verteilt sind. Bei anderen Programmen wie zum Beispiel der Arbeitslosenversicherung gilt tendenziell, dass konservative Parteien grundsätzlich eine Kürzung der öffentlichen Gesundheitsausgaben fordern, während Sozialdemokraten die Erhöhung der Ausgaben favorisieren. Im Bereich der Gesundheit gilt diese einfache Zuordnung nicht.

Ein anderer wichtiger Aspekt beim Vergleich von Gesundheitssystemen ist der hohe Einfluss von Pfadabhängigkeiten. Politische Entscheidungen der Vergangenheit bestimmen, was in der Gegenwart politisch möglich ist. Es gibt verschiedene Gründe, warum gerade der Gesundheitssektor besonders häufig durch solche Pfadabhängigkeiten geprägt ist: Erstens entwickeln sich durch ein funktionierendes Gesundheitssystem positive Feedback-Effekte. Auch wenn ein Gesundheitssystem nicht hundertprozentig optimal funktioniert, erfüllt es doch seine Versicherungsfunktion für den größten Teil der Bevölkerung. Die tatsächlichen oder potenziellen Leistungsempfänger stehen deshalb hinter dem System und lehnen jegliche Art von Kürzungen oder Änderungen mit ungewissem Ergebnis ab. Zweitens sind Gesundheitssysteme eng verflochtene und komplexe Systeme verschiedener Akteursgruppen. Das Verhältnis von Ärzteschaft, Pflegekräften, der pharmazeutischen Industrie, Patienten, Krankenhausbetreibern etc. unterliegt einer Vielzahl von Regulierungen, die im Laufe der Zeit sogenannte Lock-in-Effekte entwickeln: Jede Abkehr vom bestehenden System würde immer kostspieliger, was das einmal vorhandene System festigt. Dazu kommt drittens, dass die meisten Akteure innerhalb des Gesundheitssystems oft sehr gut in Interessengruppen organisiert sind und die eigene Position verteidigen. All diese Gründe tragen dazu bei, dass es einfacher ist, den Status quo zu erhalten oder nur marginale Reformen durchzusetzen, statt fundamentale Veränderungen zu vereinbaren. Für unsere Untersuchung vermuten wir daher, dass ein hoher öffentlicher Anteil in der Vergangenheit Grund für einen hohen öffentlichen Anteil in der Gegenwart sein könnte.

Neben den positiven Feedback-Effekten und den Lock-in-Effekten, die den Status quo unterstützen, vermuten wir auch gegenläufige Tendenzen: Zum einen bewegen sich einige Länder bereits auf einem sehr hohen Niveau. Zum anderen verursachen die Alterung der Bevölkerung und die stetig steigenden Behandlungskosten einen anhaltenden Kostendruck. Hier würde man vermuten, dass vor allem Länder mit einem bereits hohen Anteil unter Druck stehen, ihre öffentlichen Anteile zurückzufahren.

Bei der Untersuchung der historischen Variation der öffentlichen Gesundheitsversorgung zwischen 1960 und 2010 testeten wir klassische Erklärungsansätze zur Entwicklung von wohlfahrtstaatlichen Programmen: Wir untersuchten, inwiefern sich die Entwicklung der öffentlichen Gesundheitsversorgung durch politische Ressourcen - also etwa die Stärke der konservativen und sozialdemokratischen Parteien oder der Gewerkschaften - erklären lässt. Darüber hinaus testeten wir Theorien, die die Entwicklung solcher Programme erklären können: politische Rahmenbedingungen (staatliche Strukturen, Wahlbeteiligung), ökonomische Faktoren (Bruttoinlandsprodukt, Inflation, Handelsoffenheit, Grad der Deindustrialisierung, Arbeitslosenquote) und demografische Faktoren (Anteil der Bevölkerung älter als 64 Jahre, Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen, Wanderungssaldo). Um eventuelle Pfadabhängigkeiten zu berücksichtigen, nehmen wir eine weitere Variable in den Blick: den Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben an den Gesamtgesundheitsausgaben im Jahr 1960.

Unsere Untersuchungen zeigen, dass dieser Wert die stärkste Erklärungsleistung bietet. Je höher der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben an den Gesundheitsausgaben eines Landes im Jahr 1960 war, desto höher bleibt der öffentliche Anteil auch in den folgenden Jahren. Den zweitstärksten Einfluss hat die Anzahl der Vetopunkte in einem politischen System. Vetopunkte sind Institutionen im politischen Prozess, die es der Opposition erlauben, ein Veto gegen Gesetzesänderungen einzulegen. Vetopunkte beschreiben also, wie einfach oder wie schwer es ist, bestehende politische Verhältnisse zu verändern: je mehr Vetopunkte, desto weniger politische Veränderungen. Länder mit vielen Vetopunkten sind beispielsweise die Schweiz oder die USA, Länder mit wenigen Vetopunkten Großbritannien oder Norwegen. In unserer Untersuchung zeigt sich, dass der öffentliche Anteil an den Gesundheitsausgaben umso geringer ist, je mehr Vetopunkte die politische Struktur eines Landes aufweist. Andere signifikante Erklärungsvariablen sind der Anteil der älteren Bevölkerung und die Wahlbeteiligung.

Länder mit einem hohen Bevölkerungsanteil über 64 weisen auch eine anteilig höhere öffentliche Gesundheitsversorgung auf, ebenso Länder mit einer höheren Wahlbeteiligung. Bei parteipolitischen Variablen hingegen lässt sich kein eindeutiges Bild erkennen: Sowohl sozialdemokratische als auch konservative Parteien haben einen negativen Einfluss (wobei die Variable für die Stärke der sozialdemokratischen Parteien nicht signifikant ist). Damit bestätigt unser quantitatives Modell vorangegangene Einzelstudien, die finden, dass sich die Ausgestaltung von Gesundheitssystemen nicht durch parteipolitische Konflikte erklären lässt. Stattdessen sind es vor allem Pfadabhängigkeiten, die die Entwicklung von Gesundheitssystemen bestimmen.

Wir haben auch untersucht, was der Mechanismus sein könnte, durch den Pfadabhängigkeit wirkt. Dazu benutzten wir Daten des International Social Survey Programme (ISSP) und nahmen individuelle Einstellungen zu öffentlichen Gesundheitsausgaben des eigenen Landes unter die Lupe. Wir können zeigen, dass der 1960er-Anteil eine größere Erklärungsleistung für die persönliche Einstellung zu öffentlichen Gesundheitsausgaben hat als individuelle Eigenschaften. Während üblicherweise das Geschlecht (weiblich) und die Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst die Merkmale sind, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit vorhersagen, ob eine Person gegen Ausgabenkürzungen stimmt, zeigt unsere Untersuchung, dass der 1960er-Anteil eines Landes einen noch stärkeren positiven Einfluss hat: Ein größerer Anteil im Jahr 1960 geht mit einer größeren Ablehnung von Kürzungen der öffentlichen Ausgaben im Gesundheitswesen einher.

Was bedeutet es, dass der jeweilige Stand des Jahres 1960 eine solch starke prägende Wirkung hat? Offensichtlich haben im Bereich der Gesundheit einmal getroffene Entscheidungen einen erheblichen Einfluss auf nachfolgende Prozesse. Bestimmte wohlfahrtsstaatliche Politiken lassen sich also nur im Kontext der Vergangenheit erklären. Das bedeutet auch, dass aktuelle Herausforderungen wie die Alterung der Bevölkerung oder steigende Kosten sich nur innerhalb eines bestimmten Spielraums lösen lassen - eines Spielraums, der durch Politiken der Vergangenheit entstanden ist. Diese früheren Festlegungen bestimmen den Rahmen für politische Ideen, Strategien von Interessengruppen und die öffentliche Meinung - und damit auch die zukünftige Entwicklung. Als zentraler Bestandteil moderner Gesellschaften unterliegen Gesundheitssysteme zu großen Teilen ähnlichen Kräften wie die Gesellschaft als ganze. Darüber hinaus aber haben Gesundheitssysteme eigene Dynamiken. Ihre Entwicklung wird in besonderem Maß von Pfadabhängigkeit bestimmt, also von der Politik vorangegangener Generationen.


Susanne Marquardt
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Ungleichheit und Sozialpolitik. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Verhältnis von privater und öffentlicher Krankenversicherung in OECD-Ländern und den langfristigen Auswirkungen steigender Wohneigentumsquoten auf den Wohlfahrtsstaat.
susanne.marquardt@wzb.eu


Literatur

Brady, David/Marquardt, Susanne/Gauchat, Gordon/Reynolds, Megan M.: "Path Dependency and the Politics of Socialized Healthcare". In: Journal of Health Politics, Policy and Law, 2016, Vol. 41, pp. 355-392.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 152, Juni 2016, Seite 21 - 23
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2016

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