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DEMENZ/024: "Mir kommt es darauf an, dass die Chemie stimmt" - Gespräch mit einer Betreuerin (Alzheimer Info)


Alzheimer Info, Ausgabe 1/12
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz

Gespräch mit einer Betreuerin

"Mir kommt es darauf an, dass die Chemie stimmt"



Petra Holk ist seit 13 Jahren Mitarbeiterin der Alzheimer Gesellschaft Bochum. Sie hat große Erfahrungen in der Betreuung von Menschen mit Demenz in Betreuungsgruppen wie auch zu Hause.

Frau Holk, wie verhalten Sie sich, wenn Sie jemand zum ersten Mal zu Hause besuchen?

Der erste Besuch entscheidet meist den weiteren Verlauf. Ich schaue mir sehr genau den Demenzkranken und eventuell dessen Angehörige an. Wenn der Erkrankte nervös, unsicher, verkrampft wirkt, bin ich sehr vorsichtig. Mit viel Geduld versuche ich den Kontakt über die Augen und wenige Worte herzustellen. Wenn Angehörige sagen "Nun rede doch mal...", bitte ich um Zurückhaltung. Manchmal ist es gut, wenn Angehörige das Zimmer verlassen. Ich nehme Blickkontakt auf, lächle und erkläre, woher ich komme und warum ich da bin. Ich versuche beim ersten Kontakt herauszufinden, was wir gemeinsam tun können, mache vielleicht einen Vorschlag, z.B. spazieren gehen, singen, etwas im Haushalt erledigen, ein Gesellschaftsspiel spielen, Fotoalben ansehen. Dann ist es wichtig, die Augen, die Mimik und den ganzen Körper wahrzunehmen. Strahlen die Augen, kommt Bewegung in den Körper, oder zeigt das Gesicht Abwehr? Mir kommt es darauf an, dass die Chemie stimmt und nicht dass wir gleich loslegen.

Wie gehen Sie mit Ablehnung und drohender Aggression um?

Ich habe noch nie erlebt, dass meine Vorschläge nicht angenommen werden. Nicht ich, sondern der Demenzkranke ist der "Bestimmer". Wenn keine Angehörigen da sind, ist es noch wichtiger, nicht so viel zu reden und abzuwarten, wie die Person reagiert. Besonders gut kann ich Schweigen aushalten, weil danach immer etwas passiert. Wenn mal jemand wütend oder ärgerlich wird, gilt es abzuwarten, eventuell kurz den Raum zu verlassen, durchzuatmen und mit einem Lächeln zurückkommen. Ich bleibe auf Augenhöhe, halte Blickkontakt und versuche, den Grund für den Wutausbruch herauszufinden. Ich nehme nichts persönlich. Rausgeschmissen hat mich noch niemand.

Wie kommen Sie mit Traurigkeit und Kummer zurecht?

Ein Beispiel aus der Weihnachtszeit. Frau J., 73 Jahre, alleinlebend, weinte häufig angesichts der bevorstehenden Feiertage. Ich habe ihre Hand gehalten und fand heraus, dass sie ihren Mann vermisste, mit dem sie immer schöne Weihnachtsfeiertage erlebt hatte. Ich brauche in diesen Situationen keinen Ball, sondern Taschentücher. Mit der Erinnerung an die vergangenen guten Zeiten ist es leichter, gemeinsam etwas zu tun.

Welche Aktivierungen und Beschäftigungen halten Sie für besonders gut geeignet?

Ich versuche immer, an Lebenserfahrungen anzuknüpfen. Ein alter Herr, der Konditor von Beruf war, schält gerne und gut Äpfel und bereitet gemeinsam mit mir den Teig zu. Wir füllen die Backform und beobachten den Backofen. Anschließend laden wir seine Frau zum Kaffeetrinken ein, und er deckt den Tisch. Abwaschen, abtrocknen, wegräumen gehört dann selbstverständlich dazu. Gelegentlich höre ich: "Ich kann das nicht." Aber mit behutsamer Anleitung und aufmunternden Worten geht es dann doch.

Wie ist es mit Bewegung und Musik?

Bewegung ist sehr wichtig, weil viele alte Menschen sehr viel sitzen. Ich bevorzuge Papierbälle und Luftballons. Aufblasen, falls möglich, mit der Hand schlagen, werfen, über den Tisch rollen. Als Schläger, sozusagen als Verlängerung des Arms, benutzen wir Fliegenklatschen, Pappteller oder Papierrollen. Oft singen wir. Ich gebe erst einmal den Takt, den Rhythmus vor. Ein Liederbuch habe ich immer in der Tasche. Singen lässt sich stets mit Bewegungen verbinden, das macht Freude und endet meist in großem Gelächter. Auch Gedichte aufsagen und Sprichwörter vervollständigen ist beliebt. Manchmal gebe ich nur ein Wort vor, z. B. "Liebe" und warte, was kommt. Schnell fällt den Menschen ein "Alte Liebe rostet nicht" oder "Liebe macht blind". Auch das führt zur Heiterkeit.

Viele alte Menschen sehen und hören schlecht. Wie schaffen Sie es, deren Sinne anzusprechen?

Wichtig ist, sich gegenüber zu sitzen, Augenkontakt herzustellen und deutlich zu sprechen. Vieles geht über den Geruch und das Fühlen. Gerne benutzen wir Fühlsäckchen mit trockenen Bohnen, Schokoladentäfelchen, die hinterher gegessen werden, Gummibärchen, Lavendel oder ein Taschentuch mit 4711 für die Damen und Tabac Duft für die Herren.

Liebe Frau Holk, Sie haben viele wertvolle Tipps und Erfahrungen. Haben Sie diese auch aufgeschrieben?

Ich habe eine kleine Broschüre verfasst, mit der ich meine Erfahrungen weitergeben möchte.


Die Fragen stellte Christel Schulz, Alzheimer Gesellschaft Bochum e. V.


Broschüre:

Petra Holk: Eine kleine Auswahl von Bewegungsübungen und Beschäftigung
2011, 33 Seiten, 5,00 EUR incl. Versand


Bestellung:

Alzheimer Gesellschaft Bochum
Universitätsstr. 77, 44789 Bochum
Tel.0234/33 77 72
info@alzheimer-bochum.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Eisessen im Wind

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Quelle:
Alzheimer Info, Ausgabe 1/12, S. 4-5
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2012