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SCHMERZ/808: Integrative Schmerzmedizin ... Dr. Stefanie Liv Jahn im Gespräch (Securvital)


Securvital 1/23 - Januar-März 2023
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Integrative Medizin: Schmerzen lindern

Astrid Froese sprach mit Dr. Stefanie Liv Jahn


Dr. Stefanie Liv Jahn ist Fachärztin für Anästhesiologie. Notfallmedizin, Palliativmedizin, Schmerztherapie und Naturheilverfahren. Sie ist Sprecherin des Arbeitskreises komplementäre/integrative Schmerzmedizin bei der Deutschen Schmerzgesellschaft.


Immer mehr Menschen leiden unter wiederkehrenden oder chronischen Schmerzen. Vielen können komplementäre Behandlungsformen helfen.

Securvital: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen: Kaum jemand, der nicht ab und zu darunter leidet. Doch viel alarmierender ist, wie viele Menschen unter chronischen Schmerzen leiden. Nehmen Schmerzerkrankungen zu?

Stefanie Jahn: In Deutschland sind mehrere Millionen Menschen von wiederkehrenden und chronischen Schmerzen betroffen. Rund sechs Millionen sind schwer beeinträchtigt, nicht nur körperlich, sondern auch in sozialer und psychischer Hinsicht. Und die Anzahl der Betroffenen steigt. Chronischer Schmerz ist eine Volkskrankheit.

Securvital: Ab wann spricht man von chronischen Schmerzen?

Jahn: Schmerz gilt als chronisch, wenn er, z. B. nach einer Verletzung oder Operation, keine Warnfunktion mehr hat und den üblichen Heilungsverlauf überdauert. Das ist nach etwa drei bis sechs Monaten der Fall. Der Schmerz ist nun nicht mehr Symptom, sondern zu einer eigenständigen Krankheit geworden, bei der die Schmerzverarbeitung gestört ist. Die alleinige Gabe von Schmerzmedikamenten, die beim akuten Schmerz hilfreich sind, wird nicht mehr ausreichen.

Securvital: Patienten mit chronischen Schmerzen haben häufig eine Odyssee von einem Arzt zum anderen hinter sich. Das bedeutet für die Betroffenen einen langen Leidensweg und für das Gesundheitssystem hohe Kosten. Warum ist es so schwer, die Ursachen chronischer Schmerzen zu diagnostizieren und sie dann wirksam zu behandeln?

Jahn: Es gibt in Deutschland zu wenig spezialisierte Ärzte für Schmerzmedizin. Etwa die Hälfte aller Patienten mit chronischen Schmerzen werden unzureichend behandelt. Viele Betroffene finden erst nach Monaten oder Jahren zu einem Spezialisten. Nicht immer werden Patienten mit chronischen Schmerzen ernst genommen und gehen von einem Behandler zum nächsten. Doch nicht jedem kann geholfen werden. Dabei stößt die Medizin an ihre Grenzen.

Securvital: Sie sind seit vielen Jahren in der Schmerztherapie tätig und haben in der Deutschen Schmerzgesellschaft den Arbeitskreis für komplementäre Schmerztherapie gegründet. Welche Vorteile bietet die integrative Schmerztherapie gegenüber schulmedizinischen Ansätzen?

Jahn: In der integrativen Medizin werden Methoden aus der konventionellen und der komplementären Medizin evidenzbasiert angewendet. Die integrative Medizin nutzt u. a. die moderne Naturheilkunde und andere Therapiesysteme wie die Traditionelle Chinesische Medizin/Akupunktur und Yoga. Chronische Schmerzen gehen häufig mit depressiven Verstimmungen und einem erhöhten Stresslevel einher. Es kann zu Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüchen sowie zu Schlafstörungen kommen, auf welche viele der komplementären Verfahren positiv einwirken können. Zudem gibt es schmerzlindernde Anwendungen wie Kälte- oder Wärmeapplikation, Neuraltherapie und Phytotherapeutika.

Securvital: Was bedeutet das für die Betroffenen?

Jahn: Ihre Selbstwirksamkeit und Eigenkompetenz werden gestärkt. Wenn ich erfahre, dass bei einer Meditation oder bei der Waldtherapie die Schmerzen in den Hintergrund treten oder eine Salbe mit Pflanzenwirkstoffen Schmerzen reduziert, fühle ich mich weniger ohnmächtig und ausgeliefert. Wenn ich merke, dass ich durch eine Ernährungsumstellung Übergewicht reduziere und dadurch Knie und Rücken weniger wehtun, tut das gut. Ich kann womöglich auf konventionelle Schmerzmedikamente verzichten, die häufig nicht für den Dauergebrauch geeignet sind.

Securvital: Welche Schmerzerkrankungen begegnen Ihnen am häufigsten und mit welchen therapeutischen Ansätzen behandeln Sie diese?

Jahn: Häufig sehe ich Menschen mit Arthrose, rheumatoider Arthritis, dem Fibromyalgiesyndrom bzw. Ganzkörperschmerzen, Migräne/Kopfschmerzen, Rücken- und Unterbauchschmerzen. Nach diagnostischer Abklärung kann je nach Ausprägung eine medikamentöse Einstellung erfolgen. Bei Arthrose können Akupunktur und der Einsatz von Blutegeln hilfreich sein, bei rheumatoider Arthritis Kältekammertherapie. Beim Fibromyalgiesyndrom ist eher Wärme angezeigt. Zum Einsatz kommen Entspannungsverfahren und Bewegungstherapien wie Tai Chi und Qigong. Manuelle Therapie ist ebenfalls häufig sinnvoll, wie auch der Einsatz von äußeren Anwendungen wie Schafgarbewickeln oder Lavendelfußbäder. Oft ist eine Ernährungsumstellung hin zu einer antientzündlichen pflanzenbasierten Vollwertkost ratsam.

Securvital: An wen sollten sich Menschen mit chronischen Schmerzen am besten wenden?

Jahn: Zunächst sind Hausärzte die Ansprechpartner, aber auch Orthopäden, Neurologen und Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin. Halten die Schmerzen über Wochen und Monate an, sollte mit dem Aufsuchen eines Schmerzmediziners nicht gewartet werden. Bei der Deutschen Schmerzgesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin gibt es Informationen für Betroffene. Auch Selbsthilfegruppen und die Vereinigung SchmerzLOS bieten Beratung.

Securvital: Gibt es Vorteile einer tagesklinischen oder stationären Behandlung gegenüber einer ambulanten Versorgung?

Jahn: Eine stationäre Behandlung erhält man erst, wenn die ambulanten Therapien ausgeschöpft sind und die Beschwerden anhalten, wiederkommen oder sich verstärken. Ein einmaliger stationärer Aufenthalt ist häufig nicht ausreichend. Anschließend sollten die Therapien sowie das in der Klinik Erlernte im häuslichen Umfeld fortgeführt werden. Ein tagesklinischer Aufenthalt kann der Auffrischung dienen. Für Menschen, die abends zu Hause sein müssen, wie z. B. Elternteile oder pflegende Angehörige, kann eine tagesklinische Einrichtung ebenfalls günstig sein.

Securvital: Lassen sich Schmerzerkrankungen durch bewusste Lebensführung verhindern?

Jahn: Schmerzerkrankungen haben vielfältige Ursachen. Es gibt Faktoren, die die Ausbildung einer chronischen Schmerzerkrankung begünstigen. Neben genetischen Faktoren sind dies Mehrfacherkrankungen, erhöhtes Alter, psychosoziale Belastungen, Schmerzerfahrungen in der Biografie, anhaltende psychovegetative Anspannung und Angsterkrankungen.

Securvital: Was können die Betroffenen konkret tun?

Jahn: Auf einige der Aspekte lässt sich Einfluss nehmen, z. B. mit einer bewussten und gesunden Ernährung, regelmäßiger moderater Bewegung sowie achtsamen, freudvollen Momenten und ausreichenden Ruhe- und Erholungsphasen. Sich biografischen Ereignissen beispielsweise mit einer Psychotherapie zu stellen, kann hilfreich sein. Chronische Schmerzen werden nach dem Bio-Psycho-Sozialen Modell betrachtet und behandelt, das heißt, die einzelnen Bereiche beeinflussen sich gegenseitig. In diesen eigene Ressourcen zu finden und zu pflegen, sind Ziele bei Prävention und Therapie.

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Quelle:
Securvital 1/23 - Januar-März 2023, Seite 26-27
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. März 2023

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