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OFFENER BRIEF/001: An den Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler (Rainer Pöhler)


Offener Brief an Dr. Philipp Rösler von Rainer Pöhler, 12.04.2010


Herr Dr. P. Rösler
Bundesgesundheitsminister
Friedrichstraße 108
10117 Berlin


Rainer Pöhler

Störblick 11, 19086 Plate

Telefon: 0170 5416346

Offener Brief


Werter Herr Minister,

Mein Name ist Rainer Pöhler und ich arbeite als technische Empfangskraft in einer Hausarztpraxis. Wenn ich die ersten drei Arbeitstage der vergangenen Woche, die keine Ausnahmetage waren, am Empfang einer Landarztpraxis Revue passieren lasse, frage ich mich, ob meine selektive Tätigkeit bei der Auswahl derjenigen Patienten, die ausreichend krank und damit würdig sind, vom Arzt empfangen zu werden, noch vereinbar mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist.

Fünf Jahre war die 120 Quadratmeter große Landarztpraxis von morgens bis abends für die Patienten geöffnet, teilweise verließen Patienten die Praxis erst nach 21:00 Uhr. Wochenendhausbesuche, Notdienste, Dokumentenarbeit und Praxisführung summierten sich im Jahr 2009 auf geschätzte 2800 Arbeitsstunden für den Arzt, also 800 Stunden oder 5 Arbeitsmonate mehr, als sie ein Angestellter leistet.

Auf Grund dieser Tatsache und der frustrierenden Erkenntnis, dass immer mehr kranke Menschen die Praxis betreten, als behandelt werden können, blieben gesundheitliche Folgen bei dem behandelnden Arzt nicht aus. So besteht meine wesentliche Aufgabe in den letzten Tagen darin, die Gesundheit des praktizierenden Arztes zu schützen, indem ich die festgelegten Sprechzeiten auch wirklich gewährleiste. An jedem dieser vergangenen Tage bedurften mehr Patienten ärztlicher Hilfe, als die Mitarbeiter der Praxis zu leisten im Stande waren. So war es eine meiner Hauptaufgaben, nach Prüfung der für den Betrieb der Praxis festgelegten Regeln:

Patient hat einen vereinbarten Termin

Patient hat vor seinem Besuch zumindest angerufen

Patient bedarf wirklich dringendst ärztlicher Hilfe

Patient ist privat versichert

sowie weiterer Kriterien unter den im Zweiminutentakt in der Praxis erscheinenden Patienten diejenigen aus zu wählen, die das Sprechzimmer des Arztes betreten durften.


Ich empfinde diesen Zustand als zutiefst menschenunwürdig und unmoralisch. Während sich Politiker mit Wortungetümen bewerfen, die kein Nichtpolitiker versteht, Milliarden von Euro für Zukunftsprojekte in den Himmel und die Industrie geschossen werden, Ärzte und Arztorganisationen sich um Regelleistungsvolumina streiten, über einhundert Krankenversicherungen mit Pharmafirmen um Rabatte feilschen, müssen Empfangskräfte selektieren, wer in dieser Gesellschaft, in der jeder lt. Grundgesetz gleich ist, zum Arzt darf und wer nicht.

In den Medien sehe und höre ich Menschen und Verantwortungsträger über Geld, Geld, Geld diskutieren und wie es am besten verteilt werden sollte. Menschen, bei denen ich Zweifel hege, ob sie je eine Kassenarztpraxis von innen gesehen und wenn ja, dort auch 3,4 oder 5 Stunden im Wartezimmer gesessen haben. Woher sollen diese Personen wissen, wie es in einer Praxis für gesetzlich krankenversicherte Bürger tatsächlich aussieht?

Stattdessen werden Arzt-Einkommensdebatten in aller Öffentlichkeit geführt, die für mich ans nahezu Lächerliche grenzen. Ich selbst hatte als angestellter Techniker eines IT-Dienstleisters im Jahr 2005 bereits ein Gehalt von ca. 5500 Euro - was ist das gegen die Leistung eines Arztes? Vergessen alle diese Menschen, dass sie als Patient selbst erwarten, einen ausgeruhten, bestens aus- und weitergebildeten und nach dem neuesten Stand der Technik und Wissenschaft behandelnden Arzt vor zu finden, der auch ausreichend Zeit für sie hat?

Werter Herr Minister, die Gesundheitspolitik der jüngeren Vergangenheit und die Amts- und Würdenträger, die sie durchsetzten, haben den gegenwärtigen, in meinen Augen katastrophalen Zustand des Gesundheitssystems zu verantworten. Ich denke, es reicht nicht, Verantwortung mit lautstarken Äußerungen zu übernehmen, an andere zu delegieren oder Schuldzuweisungen zu verteilen - es müssen auch Taten folgen, die bei den kranken Menschen und bei den Ärzten, die die Arbeit leisten, auch ankommen.

Sie haben bereits so viele Probleme offen gelegt und keinen Respekt vor etablierten Strukturen gezeigt. Ich möchte Sie inständig bitten, sich darin nicht aufhalten zu lassen, denn es muss schnelle Hilfe gefunden werden. Ich fürchte, dass der Tag nicht mehr fern ist, an dem Menschen sterben, weil sie trotz Krankenversicherung in einem der stärksten und reichsten Länder der Welt keinen Platz im Wartezimmer eines Arztes fanden.


Hochachtungsvoll

Rainer Pöhler

12.4.2010


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Quelle:
Offener Brief an Dr. Philipp Rösler von Rainer Pöhler, 12.04.2010
© Rainer Pöhler


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010