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ARTIKEL/401: Ambulant betreutes Wohnen - "BeWo plus" statt Wohnen im Heim (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 131 - Heft 1, Januar 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Mehr Freiheit, mehr Wertgefühl, mehr Qualitätsgefühl"
'BeWo plus' statt Wohnen im Heim

Von Jo Becker


Stellen Sie sich eine Situation vor der Erfindung des Rollstuhls vor. Durch einen Unfall sind Sie plötzlich querschnittsgelähmt. Einkaufen, zum Kleiderschrank gehen, zur Toilette - nichts geht mehr ohne fremde Hilfe. "Zum Glück" gibt es Heime, wo nur Querschnittsgelähmte wohnen. Die Fachkräfte des Wohnheims bringen Ihnen nun täglich das Essen> fahren Sie zur Toilette, organisieren Ihre Beschäftigung im Rahmen Ihrer Möglichkeiten. Ihr Lebensrhythmus, z.B. Aufsteh- und Essenszeiten, wird vom Schichtdienst der Helfer bestimmt. Zentrale Fragen: Wer ist heute im Dienst? Was gibt es zu essen? Immer wieder ziehen neue Querschnittsgelähmte bei Ihnen ein, sympathische und unsympathische, mit denen Sie Frühstückstisch und Fernsehraum teilen müssen ...

Es gibt durchaus Menschen mit einer Behinderung, die sich wünschen, in einer Wohngruppe mit gleichartig behinderten Menschen zu leben. Aber die meisten würden sich für ein Leben in eigener Wohnung statt in einem Wohnheim entscheiden, wenn sie eine Wahl hätten. Für stärker behinderte Menschen gibt es diese Wahlmöglichkeit bisher zu selten.

Als "nicht BeWo-fähig" (sprich: nicht geeignet für eine Betreuung durch das ambulant betreute Wohnen [BeWo]) und daher "heimbedürftig" gelten im Helferjargon Klienten, die häufig und zeitlich nicht planbar Hilfe benötigen, auch nachts und am Wochenende. Klienten des betreuten Wohnens, die vorübergehend vermehrt auf Hilfe angewiesen sind, werden zwar in der Regel auch abends und am Wochenende von ihren Bezugsbetreuern besucht, bis die kritische Phase vorbei ist. Aber kein Profi kann auf Dauer rund um die Uhr für Unterstützung zur Verfügung stehen, die bei Bedarf sofort geleistet werden muss. Klienten mit einem solchen Hilfebedarf kommen in ein Wohnheim - nicht weil sie sich das wünschen, sondern weil das ambulante Hilfesystem die von ihnen benötigte Hilfe nicht leisten kann.

Lieber raus aus dem Heim?

Anfang 2010 haben wir die Bewohnerinnen und Bewohner unseres Wohnheimverbundes in Wesel mit insgesamt 39 Plätzen zu ihrer Wohnsituation und weiteren Lebensplanung befragt. Vier Bewohner/-innen wollten bei ausreichender Unterstützung lieber in einer eigenen Wohnung leben, drei von ihnen waren zu Tonbandinterviews vor und nach dem Umzug bereit. "Ich wollte schon immer eher ins betreute Wohnen als hier in so ein Heim", berichtete Julia Kürten (die Namen wurden geändert). "Mir ist schleierhaft, wieso ich 2002 hierher kam. Die Leute vom BeWo und der Heimleiter waren damals bei dem Gespräch dabei. So bin ich hierher gekommen."

Vorangegangen war eine jahrelang zunehmende, durch ihre seelische Erkrankung bedingte Verwahrlosung der Wohnung. Die Entscheidung für die Wohnheimunterbringung traf nicht sie, sondern ihr Betreuer. Auch die anderen Heimbewohner, die wir befragt haben, befanden sich vor dem Einzug ins Heim in einer Situation, die ihnen keine andere Wahl mehr ließ: "Ich musste damals meine Wohnung aufgeben, weil ich meine Krankheit nicht in den Griff bekommen habe", sagte uns Klaus Wilting, und Michael Schmal gab dazu an: "In meiner Wohnung war dreimal Wasserrohrbruch. Ich habe auch nicht mehr so aufgeräumt. Da musste ich ausziehen."

Die vier Bewohner/-innen, darunter Frau Kürten, Herr Wilting und Herr Schmal, leben nun wieder in ihrer eigenen Wohnung. Ein "Verselbstständigungstraining", um sie "BeWo-fähig" zu machen, hat vorher nicht stattgefunden. Vielmehr erhalten sie so viel Hilfe wie zuvor, wenn nötig auch nachts und am Wochenende. Die Mitarbeiter/-innen kommen jetzt aber nur noch ins Haus, wenn das vereinbart ist oder sie gerufen werden. Es ist unser neues Team 'Betreutes Wohnen plus', kurz 'BeWo plus'.

Umstrukturierung - so kann es gehen ...

Zunächst haben wir unser Wohnheimteam um Personal mit so viel Wochenstunden Arbeitszeit aufgestockt, wie die ausziehenden Heimbewohner/-innen voraussichtlich an Hilfe benötigen würden. Gerechnet wurden die Einsatzzeiten im direkten Kontakt mit Klienten, erhöht um zirka 45 Prozent Zeit für klientenferne Arbeit, z.B. für Anfahrten und Dokumentation. Die Anbindung an das Wohnheimteam gab uns die Möglichkeit, den Umzugsprozess und die weitere Betreuung durch vertraute Bezugspersonen zu leisten. Gleichzeitig müssen die wenigen jetzt ambulant tätigen Mitarbeiter/-innen nicht rund um die Uhr einsatzbereit sein. Außerhalb ihrer Dienstzeiten sind Kollegen/-innen aus dem Schichtdienstsystem bzw. dem Nachtdienst des Wohnheimes zuständig.

Während der Arbeitseinsatz im Wohnheim pauschal über Tagespflegesätze pro Bewohner vergütet wird, muss die ambulante Arbeit in einzeln dokumentierten Fachleistungsstunden mit dem Kostenträger abgerechnet werden. Der zu erwartende Hilfebedarf wurde vorher mit einem individuellen Hilfeplan beim Sozialhilfeträger beantragt, bei unseren ehemaligen Heimbewohnern durchschnittlich 9,5 Stunden pro Woche. Die Zeit gilt für Unterstützungsleistungen in direktem Klientenkontakt und wird mit 60 Euro pro Stunde vergütet; indirekte Hilfeleistungen sind darin enthalten.

Die Stundendokumentation ist aber auch erforderlich, damit es nicht zu einer Subventionierung des 'BeWo plus' durch das Wohnheim kommt. Jede "Entnahme" von Arbeitszeit aus dem stationären System muss durch das ambulante Team wieder erstattet werden, indem deren Mitarbeiter/-innen in gleichem Umfang im Wohnheim Dienst tun. Um beide Arbeitsfelder nicht zu sehr zu vermischen, hat sich daher das ambulante Team in Dienstzeiten organisiert, die den Tag während der üblichen Inanspruchnahme von Unterstützung einschließlich der Wochenenden abdecken.

Unsicherheiten überwinden

Vor dem Auszug der Heimbewohner/-innen gab es viele Sorgen. Julia Kürten: "Das ist mit Sicherheit ein ganz großer Schritt für mich. Ich weiß nicht, was sich alles ändern wird. Sicherlich mehr tägliche Arbeit ... Ich weiß nicht, ob ich mit dem Geld auskomme." Klaus Wilting: "Dann schaut mir keiner mehr auf die Finger. Aber ich muss dann auch selber Termine einhalten und dafür geradestehen, wenn ich sie verpasse." Aber die positiven Erwartungen überwogen bei den Interviewpartnern. Klaus Wilting: "Ich bin dann ganz allein in meiner Wohnung, ohne andere Mitbewohner. Und ich kann dann wieder mehr machen, was ich will." Michael Schmal: "Ich habe dann meinen eigenen Haushalt. Ich kann dann zu essen einkaufen, was ich will.'< Julia Kürten: "Ich spiele E-Gitarre. Ich kann dann in Zukunft mehr Krach machen als hier."

Ähnlich gemischt waren die Einschätzungen der Angehörigen, Mitbewohner und Profis, die wir von den Heimbewohnern erfragt haben. Die meisten Kommentare waren ermutigend. Herr Wilting: "Meine Mitbewohner sagen, dass ich mutig bin, diesen Schrift zu unternehmen. Die finden das echt gut. Aber mein Betreuer war eher skeptisch. Er wollte vom Arzt ein schriftliches Gutachten, dass ich dafür geeignet bin, alleine zu wohnen. Meine Ärztin hat ihm das aber bescheinigt."

Erste Bilanz

Der Schritt der vier, die trotz unvermindert hohem Hilfebedarf aus dem Heim ausgezogen sind, ermutigt andere Heimbewohner/-innen. Zwei Frauen, die vorwiegend in das Wohnheim gezogen sind, weil sie nicht alleine leben können oder wollen, suchen aktuell eine Wohnung zu zweit. Betreuerinnen und Betreuer, deren "schwierige" Klienten seit langem auf der Warteliste verschiedener Wohnheime stehen, wenden sich alternativ an das 'BeWo plus'.

Sechs Monate sind seit dem Auszug der ehemaligen Heimbewohner/-innen vergangen. Was hat sich dadurch verändert? Frau Kürten: "Ich kann mir jetzt die Zeit einteilen, wie ich will. Das macht mir richtig Spaß! Mit dem Geld komme ich einigermaßen zurecht. Es ist knapp, ich muss täglich rechnen. Ich kann mir nicht sonderlich viel leisten." Herr Schmal: "Ich koche jetzt wieder selber, meistens Nudeln mit Soße. Die Hausarbeit ist mir nicht zu viel, ich hab genug Unterstützung ... Ich bin noch etwas einsam, aber sonst ist alles gut. Es war eine gute Entscheidung." Und Herr Wilting: "Ich habe gemerkt, dass ich das meiste an Haushaltspflichten alleine schaffe. Vorher hatte ich Sorgen, ob ich das kann. Ich habe jetzt mehr Arbeit als vorher, vor allem mit dem Haushalt, aber das mache ich gern ... Meine Betreuerin gibt mir Sicherheit, z.B. beim Einkaufen, Putzen, beim Sprechen über Probleme. Sie hat mit mir im Garten einen Blumenkübel hingestellt und am Samstag Rasen gemäht ... Mit mir ist es viel besser geworden, körperlich und geistig. Nach langer Zeit kann ich jetzt wieder komplett durchschlafen. Ich habe jetzt mehr Freiheit, mehr Wertgefühl und mehr Qualitätsgefühl."

Dr. Jo Becker, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, war bis Ende 2008 als Oberarzt in den Rheinischen Kliniken Bedburg-Hau in der sozialen Rehabilitation tätig. Seit 2009 organisiert er als Geschäftsführer von Spix e.V. Gemeindepsychiatrische Hilfen im Kreis Wesel. Internetkontakt: www.spix-ev.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 131 - Heft 1, Januar 2011, Seite 34 - 35
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2011

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