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ARTIKEL/422: Heimunterbringung - Tagung "Verantwortung übernehmen für 'die Schwierigsten'" (1) (Soz. Psych.)


Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Tragende Strukturen mit den »Schwierigsten« entwickeln
Regionale Vernetzung am Beispiel des Kreises Mettmann

Von Anne Sprenger


Leben gelingt, weil wir gehalten werden. Von der Familie, von Freunden, von Arbeitskollegen, vom Vertrauen in unsere eigenen Kräfte. Es sind die sozialen Netzwerke, die uns in Krisen Sicherheit geben, den Verlust von Beziehungen verarbeiten lassen, das Scheitern unserer Lebensentwürfe zur Chance machen.

Mit diesen inneren Gewissheiten treffen wir in unserem Arbeitsalltag auf Menschen, die scheinbar nichts mehr zu verlieren haben. Sie sind radikal in der Ablehnung unserer Beziehungsangebote, sie sind bedrohlich, verletzen sich selbst, bleiben unerreichbar. Das ist schwer zu ertragen. Es stellt unsere inneren Überzeugungen infrage. Wir scheitern in ihnen.

Wir leben in einer Welt, in der fast alles machbar zu sein scheint. Man gaukelt uns vor, ein leidloses Leben sei möglich, wenn wir nur all den Lifestyle- und Heilsversprechen vermeintlicher Experten folgen. Wir tun so, als ob wir es in der Hand hätten - unsere Gesundheit, unseren wirtschaftlichen Erfolg, ein selbstbestimmtes Leben. In Wahrheit ist alles fragil.

Vielleicht zeigen uns gerade die Menschen, die sich nicht mehr erreichen lassen, die andere Seite des schönen Scheins. Wie gewaltsam, menschenverachtend und brutal die Fiktion vom selbstbestimmten Leben für die ist, die chancenlos und glücklos bleiben.

Das Eingeständnis der eigenen Rat- und Hilflosigkeit ist schon hart genug. Zusätzlich geraten wir aber noch unter den Druck der öffentlichen Meinung. Schlimmer: Wir werden haftbar gemacht für dieses offenkundige Versagen unserer professionellen Bemühungen. Der Reflex, der dann in der Regel folgt, ist die Beseitigung des Problems mittels unschöner und traumatisierender Zwangsmaßnahmen. Einweisung, Zwangsbehandlung, Verlegung in eine Einrichtung. Die soll es dann richten.

Versagt die gemeindenahe Psychiatrie? Ist sie Teil des Problems, statt Teil der Lösung zu sein? Warum ist sie nicht fähig, den schwierigsten, chronisch psychisch erkrankten Menschen ein adäquates Angebot zu machen? Was könnte wirksam sein? Welche Faktoren hindern landauf, landab die Umsetzung längst bekannter und andernorts erfolgreicher Konzepte? Was brauchen wir, um unserem eigenen Anspruch gerecht zu werden, niemanden wegen der Schwere seiner Erkrankung auszuschließen?


»Mit dem Zwang haben wir uns klammheimlich abgefunden« - Bestandsaufnahme

Zwangseinweisungen sind in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren um 38 Prozent gestiegen. Mehr als 200.000 Menschen landen jährlich gegen ihren Willen in geschlossenen psychiatrischen Institutionen oder Pflegeeinrichtungen. 100.000 von ihnen auf der Grundlage des § 1906 BGB (Betreuungsrecht). In dieser dramatischen Steigerung finden wir allerdings nicht nur schwer seelisch erkrankte Menschen. Die Zahl der Zwangsmaßnahmen trifft auch hirnorganisch oder demenzkranke Menschen. Ein Blick auf die Verteilung von Zwangsmaßnahmen in den unterschiedlichen Bundesländern, der etwa einen Zusammenhang zwischen dem Stand des Ausbaus gemeindenaher Versorgungsangebote und dem Vorkommen von Unterbringungen gegen den eigenen Willen zugunsten der Gemeindepsychiatrie entscheiden könnte, hilft nicht weiter. Auch in Städten wie Köln oder Bremen sind die Zahlen gestiegen.

Zwang ist in der Regel mit Gewalt verbunden und meist ein traumatisierendes Erlebnis. Dabei hatte sich doch so vieles positiv verändert. Vor mehr als dreißig Jahren sind wir aufgebrochen, die Psychiatrie in Deutschland zu reformieren. Das Schicksal psychisch erkrankter Menschen, die überwiegend ausgegrenzt und unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Anstaltspsychiatrie verwahrt wurden, geriet in den Blick der Öffentlichkeit. Betroffene, Angehörige, sensibilisierte Fachleute, Politik und Verwaltung setzten sich für einen Paradigmenwechsel ein. Es folgte ein rasanter Ausbau gemeindenaher psychiatrischer Behandlungs- und Betreuungsstrukturen.

In der sozialen Arbeit sollte es nicht mehr darum gehen, Individuen durch pädagogische Maßnahmen zu verändern, sondern Lebenswelten zu gestalten und Verhältnisse zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, besser in schwierigen Lebenslagen zurechtzukommen.

Der kustodiale Ansatz wurde gebrandmarkt. An seine Stelle sollte ein emanzipatorisch geprägter Umgang mit den betroffenen Menschen treten. In den Hochschulen und Fachhochschulen wurden Konzepte der Gemeinwesenarbeit gelehrt. Das waren ebenfalls geltende Grundlagen der Reform.

Innerhalb der letzten dreißig Jahre sind im Rheinland - und das ist die Region, die ich überblicke - weitreichende gemeindepsychiatrische Angebote entwickelt worden: Kontakt- und Beratungsstellen, kleine und therapeutisch gestaltete Heime, ambulant betreute Wohnformen, Tagesstätten und tagesstrukturierende Angebote, Integrationsfirmen und vieles mehr.

Simulieren wir gleichsam unsere Idee und unsere Erfahrung von »tragenden Strukturen«, von sozialer Sicherheit und bieten ein Surrogat für die, denen echte Teilhabe noch immer versagt bleibt? Haben auch wir uns eingerichtet in unseren Einrichtungen? Nur nicht auffallen, nicht anecken in der Gemeinde? Mit dem Zwang haben wir uns klammheimlich abgefunden.

»Es ist auch die ordnungspolitische, repressive Seite der Psychiatrie, die schwierige Entwicklungen befördert«

Es ist auch die ordnungspolitische, repressive Seite der Psychiatrie, die schwierige Entwicklungen befördert. Wir verfolgen einen personenorientierten Ansatz, aber wir scheitern an denen, die kein Vertrauen in die Wirksamkeit stützender Systeme haben und den letzten Rest ihrer Autonomie durch Verweigerung zu schützen suchen. Und damit den letzten Rest ihrer Würde. Ein Beispiel:

Herr K. ist 45 Jahre alt. Er leidet seit 1992 an einer drogeninduzierten Psychose. Nach einem Aufenthalt in Berlin und einer Phase der Obdachlosigkeit richtet man 1995 eine gesetzliche Betreuung ein. Ein Therapieversuch in einer Entwöhnungsklinik scheitert. Herr K. muss wieder stationär aufgenommen werden und verbleibt für zwei Jahre in der psychiatrischen Klinik. Seit 1999 lebt er in einem unserer Wohnheime. Von den Mitbewohnern wird er aufgrund seiner offenen und sozialen Art sehr geschätzt. Im Juli 2009 kommt Herr K. im Rahmen einer Selbsthilfetagung in Kontakt mit dem Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen und erlebt einen Vortrag des hoch anerkannten Mediziners und Psychiaters Volkmar Aderhold, der sich mit dem teils unverantwortlichen Einsatz von Neuroleptika und den unerwünschten Nebenwirkungen dieser Medikamente auseinandersetzt. Herr K. wird kritisch gegenüber seiner eigenen Medikation, die er dann in Absprache mit dem behandelnden Arzt auch schrittweise reduziert. In dieser Phase hat er zunächst gute Kontakte zur Selbsthilfe und interessiert sich für die Arbeit des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen. Nachdem sein Psychiater einer weiteren Verringerung der Dosis nicht zustimmen will, setzt Herr K. immer wieder seine Medikamente selbstständig ab. Es kommt vermehrt zu Alkoholexzessen. 2011 ereignet sich ein Vorfall in der Langenfelder Innenstadt, der zur Zwangsunterbringung in der Klinik führt.

Nach der Entlassung kommt es im Wohnheim - gerade am Wochenende, wenn der Dienst dünn besetzt ist - immer wieder zu unschönen Szenen mit dem alkoholisierten Bewohner. Sein Vater ist schwer erkrankt. Die Mutter setzt er bei Besuchen unter Druck. Zwangsunterbringungen häufen sich. Herr K. möchte sein Leben nun ändern. Er will als männlicher Stricher in Amsterdam leben und sich behinderten Frauen als Partner anbieten. Was sagt er uns damit? Er weiß, dass er Geld braucht, um zu überleben - und dass er ganz sicher keine anständige Arbeit finden kann, schätzt er realistisch ein. Und er will eine Bedeutung im Leben haben für andere Menschen. Herr K. soll nun geschlossen in einem Pflegeheim untergebracht werden, überdies in einer Pflegeeinrichtung, die in einer Hochglanzbroschüre »ihren Kunden ein beschütztes Leben anbietet«.


»Schwierige Menschen fallen nicht vom Himmel« - Verantwortung und Verpflichtung der Gesellschaft

Auf der Seite gemeindepsychiatrischer Institutionen, Dienste und Einrichtungen sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit unterschiedlichen Schwerpunkten an Aufträge gebunden. Ziel dabei ist es immer, eine drohende Behinderung zu vermeiden, die Folgen einer Behinderung zu mildern oder zu beseitigen und eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen.

Psychisch erkrankte Menschen mit herausforderndem Verhalten widersetzen sich diesem Auftrag. Sie konterkarieren jede Bemühung um soziale Integration. Dieser Widerstand hat viele Facetten. Um zu tragfähigen Beziehungen zu kommen, bedarf es neben umfassender fachlicher Kenntnisse und Empathie auch einer Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen und einer Fähigkeit, die Botschaften zu entschlüsseln, die hinter Ablehnung, schädlichem Konsumverhalten, ungewöhnlichen Ideen, verletzenden oder selbstzerstörerischen Handlungen stehen.

Integration und Inklusion sind Prozesse, die von zwei Seiten geleistet werden müssen. Die Gesellschaft muss sich auch konfrontieren mit ihren schwächsten Mitgliedern und Lösungen mit den Profis, mit den Betroffenen und Angehörigen finden. Schwierige Menschen fallen nicht vom Himmel. Sie haben eine Geschichte und sind auch Produkt dieser Geschichte. Sie sind nicht die Alleinverantwortlichen für ihre missliche Lage.

Die Gemeinde muss sich auch fragen, wo das Wegschauen angefangen hat. Welche Bedingungen finde ich vor in der Gesellschaft, die das Individuum an diesen Abgrund gebracht haben? Erst dann können wir Geschichten neu schreiben, statt endgültig wegzusehen und neue Asyle zu schaffen.


Zwangeinweisung? Es geht auch anders - drei Beispiele

Wir brauchten Zeit, Raum und eine gemeinsame Haltung, Arbeitsbündnisse mit Angehörigen, gesetzlichen Betreuern, dem medizinisch-psychiatrischen Versorgungssystem, dem sozialen Umfeld und nicht zuletzt den Leistungsträgern. Ich möchte Ihnen in der Folge drei Menschen vorstellen, deren Geschichte verdeutlicht, welche Bedingungen zu erfolgreichen Verläufen beitragen könnten.

Frau B. ist mittlerweile 54 Jahre alt und leidet an einer Borderline-Störung. Sie wächst in einem Heim auf. Die Mutter ist Alkoholikerin, der Vater unbekannt. Mit 15 Jahren entweicht sie aus dem Jugendheim und lebt bis zu ihrem 23. Lebensjahr weitgehend auf der Straße. In dieser Zeit kommt es zu einem massiven Alkoholabusus und massiven Selbstverletzungen. Aufgrund einer Vergewaltigung wird sie schwanger, das Kind wird ihr entzogen. Sie wird im Alter von 23 Jahren in die psychiatrische Klinik eingewiesen und verbleibt dort 17 Jahre - immer in geschlossenen Abteilungen und aufgrund ihres autoaggressiven Verhaltens überwiegend fixiert. Im Rahmen des stationären Settings zündet sie sich an. In den Neunzigerjahren gelingt einem Psychiater der Klinik ein Zugang zu der Patientin und der Aufbau einer tragenden Beziehung. Frau B. ist 40 Jahre alt, als ihrem Wunsch nach einem eigenständigen Leben entsprochen wird. Arzt, zuständige Sektorstation, der gesetzliche Betreuer, extramurale Einrichtung und die Patientin schließen eine Vereinbarung: Frau B. soll im Rahmen des betreuten Wohnens eine eigene Wohnung beziehen. Wenn sie unter Druck gerät und autoaggressive Handlungen drohen, kann sie zu jeder Tages- und Nachtzeit - ohne den Umweg über die Aufnahmestation - direkt in ihrer Sektorstation aufgenommen werden. Sie muss lediglich in der Klinik anrufen, die ihr dann ein Taxi oder einen Krankenwagen bestellt. Sie selbst bestimmt, ob eine Fixierung notwendig ist oder nicht. Sie selbst kann wieder gehen, wenn die akute Krise überwunden ist und sie sich stabil fühlt. Frau B. macht von dieser Lösung durchaus bis heute reichlich Gebrauch. In zehn Jahren kam es noch dreimal zu Selbstverletzungen. Eine Zwangseinweisung war nie wieder nötig. Frau B. lebt in der Stadt, verdient sich ein kleines Zubrot durch Reinigungsarbeiten in den Räumlichkeiten unseres offenen Treffs und hält regelmäßigen Kontakt zu unterschiedlichen Mitarbeiterinnen. Beziehungen, die sie sich ausgesucht hat und die ihr gut tun. Frau B. ist nicht immer nur liebenswert. Aber das halten wir gemeinsam gut aus.

Oder Herr G. Er sprach - obwohl der deutschen Sprache durchaus mächtig - nur Russisch, als ich ihm Ende der Neunzigerjahre zum ersten Mal auf der Entgiftungsstation des psychiatrischen Krankenhauses begegnet bin, in die er gegen seinen Willen als hilflose Person von den Ordnungsbehörden verbracht worden war. Auf jeden Versuch einer Kontaktaufnahme reagierte er ablehnend. Er wirkte verwirrt.

Die brüchige Geschichte von Herrn G. haben wir über einen langen Zeitraum in vorsichtigen Gesprächen entschlüsselt. Er kam aus Thüringen. In seinem früheren Leben hatte er als Maschinenschlosser gearbeitet, war verheiratet und hatte einen Sohn. Ein Kontakt zur Familie ließ sich nie wieder herstellen. Nach der Trennung von seiner Frau zog Herr G. zu einem Onkel nach Wuppertal. Er begann zu trinken, verlor seine Arbeit, schließlich auch seine Unterkunft und lebte viele Jahre obdachlos auf der Straße. Aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit und einer Persönlichkeitsstörung kam es während dieser Phase immer wieder zu Einweisungen in unterschiedliche Kliniken und zur Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung. Herr G. wurde schließlich von einem Auto angefahren und verweigerte jede Behandlung. Mit Zustimmung der rechtlichen Betreuerin wurde ihm infolge des Unfalls ein Bein amputiert. Seitdem machte er sie, wahlweise in deutschen oder russischen Schimpfkanonaden, dafür verantwortlich, zum »Krüppel« geworden zu sein. Aus klinischer Sicht sah man keine andere Möglichkeit mehr, als ihn geschlossen - gegen seinen Willen - in einem Heim unterzubringen.

Der einzige Mensch, der sich diesen Planungen »zum Wohle« des Betroffenen widersetzte, war seine Betreuerin. Sie wollte den Versuch wagen, Herrn G. ein möglichst eigenständiges Leben in einer eigenen Wohnung zu ermöglichen, mithilfe einer Begleitung durch Mitarbeiter des betreuten Wohnens (BeWo). So kam er zu uns. Er bezog eine kleine Wohnung, lehnte aber unsere Betreuungsangebote zunächst konsequent ab. Es kam zu Rückfällen und erneuten Entgiftungsbehandlungen. In Zusammenarbeit mit der rechtlichen Betreuerin, die Herrn G. vierzehntäglich mit Taschengeld versorgte, gelang es dann, langsam eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Den BeWo-Betreuer akzeptierte er schließlich als seinen »Bekannten«, mit dem er sich irgendwann dann auch angeregt unterhielt. Die wöchentlichen Besuche und Spaziergänge zum Supermarkt, die er stets gepflegt und korrekt gekleidet antrat und bei denen er einen fröhlichen Kontakt mit den Verkäuferinnen pflegte, genoss er sichtlich. Alle Beteiligten waren sich einig, dass eine gänzlich abstinente Lebensführung nicht zu erreichen war. Wir verabredeten, Herrn G. den täglichen Konsum von einer Flasche Bier zuzubilligen. Das führte zum erfolgreichen Durchbruch unserer Bemühungen.

In seiner Wohnung zeigte er ein skurriles Bild. Er trug stets Damenunterwäsche, ein Korsett und Strapse zum Schnauzbart. Herr G. lebte bis zu seinem Tod noch 15 Jahre im Rahmen des »betreuten Trinkens« in seiner Wohnung. Die Einführung der Hilfeplanung hat er nie verstanden. Er fühlte sich nie betreut, sondern besucht. Er wollte auch nicht betreut, sondern akzeptiert werden.

Diesen Fällen ist gemeinsam, dass der mutige und risikofreudige Einsatz von Menschen aus helfenden Systemen - ein Arzt, eine rechtliche Betreuerin - für ihren Klienten letztlich eine positive Veränderung bewirkt hat. Sie hatten noch Hoffnung, sie haben Vertrauen signalisiert und Regeln ausgehandelt, die erfüllbar waren. Außerdem gab es in beiden Geschichten eine gemeinsame, verantwortliche Haltung aller am Prozess beteiligten Helfer.

Zum dritten Beispiel. Herr S. erkrankte früh an einer hebiphrenen Schizophrenie und wurde als Jugendlicher und junger Erwachsener immer wieder stationär behandelt und letztlich in ein Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen aufgenommen. Er meidet jeden Kontakt und lebt seine aktiven Phasen hauptsächlich in den Nachtstunden. Er hat einen Bannkreis um sich gezogen. Kommt man ihm zu nah, wird er ausgesprochen unfreundlich und bedrohlich.

Aufgrund eines tätlichen Angriffs gegenüber einer jungen Frau in einem Wohnheim, in dem er untergebracht war, wird er dort entlassen und in die Klinik verlegt. Über einen Zeitraum von zwei Jahren wird er geschlossen untergebracht. Im Anschluss droht ihm die Zwangsunterbringung auf der geschlossenen Langzeitstation. Der Vater und der gesetzliche Betreuer wehren sich gemeinsam gegen diese Maßnahme. Eine Einrichtung, die bereit wäre, Herrn S. aufzunehmen, wird aber nicht gefunden. Auf Betreiben des Leistungsträgers der Eingliederungshilfe wird er im Konsulententeam des Kreises Mettmann vorgestellt und 2006 in unser Wohnheim aufgenommen. Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) übernimmt die zusätzlichen Kosten für eine Personalstelle zur Betreuung von Herrn S.; unsere Nachtbereitschaft wurde in eine Nachtwache umgewandelt. Seit dieser Zeit kam es nicht mehr zu Aufnahmen in stationäre Behandlung.


»Vertrauen lässt sich nicht erzwingen, nur erarbeiten«

Schwierige Menschen erfordern den Willen zu ungewöhnlichen Lösungen, auch wenn sie zunächst mehr Geld kosten. »Aufmerksamkeit und Zuwendung sind keine Luxusbeigaben der psychiatrischen Arbeit. Zugewandtheit und ein tiefer gehendes Interesse am einzelnen Menschen sind vielmehr die eigentlichen und langfristig gesehen einzig wirksamen Heilmittel, die diesen Namen auch verdienen. Erst durch das Verständnis der subjektiven Sichtweise und Unterstützung der Selbsthilfe- und Selbstheilungskräfte können psychisch erkrankte Menschen wieder zu einem zu ihnen passenden Platz im Leben zurückfinden« (Susanne Heim).

Ich glaube, die Antwort auf Herausforderungen, die schwierige Menschen, Systemsprenger an uns stellen, kann es nicht geben. Ich glaube auch nicht, dass man der Gemeindepsychiatrie einen Totalausfall hinsichtlich der Betreuung schwierigster Menschen unterstellen darf. Vielmehr muss es darum gehen, bestehende Strukturen zu untersuchen, Mängel zu benennen und Menschen, die in diesen Strukturen arbeiten, zu befähigen, jeweils individuell angepasste Handlungs- und Lösungsstrategien gemeinsam mit den Betroffenen zu entwickeln.

Um Menschen in psychischen Krisen zu erreichen, braucht man vor allem ihr Vertrauen, eine Basis für jede menschliche Begegnung. Das lässt sich nicht erzwingen, sondern nur erarbeiten. Solange psychiatrische Institutionen unter dem - durchaus auch begründeten - Verdacht des willkürlichen und repressiven Umgangs mit den Betroffenen stehen, wird sich niemand gerne freiwillig in ihre Obhut begeben. Und so lange wird auch das System selbst schwierige Verläufe produzieren.


Es mangelt nicht an innovativen Konzepten, aber an der Umsetzung

Über eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung hinaus brauchte es nachvollziehbare, verbindliche, offen kommunizierte und kontrollierbare Leitlinien über den Umgang mit Zwang in der Psychiatrie. Es mangelt nicht an innovativen Konzepten. Prozesse psychosozialer Desintegration ließen sich durch verbesserte Behandlungsangebote verhindern. Behandlung im häuslichen Umfeld zu installieren hat sich als schonendes und erfolgreiches Verfahren erwiesen. Das oft zitierte Hometreatment wird seit vielen Jahren diskutiert und ist im internationalen Vergleich gesehen erfolgreich. In der Bundesrepublik Deutschland findet es noch immer sehr selten statt. Ein erster Ansatz ist jetzt in einigen Bundesländern möglich geworden, indem einige Krankenkassen der gemeindenahen Psychiatrie Verträge zur Integrierten Versorgung angeboten haben. Von einer flächendeckenden Ausbreitung sind wir weit entfernt. Es bleibt dem Zufall überlassen, ob man durch die Mitgliedschaft in der richtigen Krankenkasse in den Genuss dieser Methode kommt. Die finanzielle Ausstattung lässt überdies Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Modellversuche aufkommen. Aber immerhin sind sie ein Schritt in die richtige Richtung.

Komplexe Problemlagen erfordern komplexe Hilfen. Die Integrierte Versorgung ermöglicht, einen Menschen in seinem Lebensumfeld wahrzunehmen und den Behandlungsprozess von Beginn an dialogisch oder trialogisch zu gestalten. Das bedeutet aufseiten der Behandler auch, Aufklärung zu betreiben. Chemische Wunderwaffen haben unerwünschte Nebenwirkungen, und sie sind eben kein Allheilmittel. Behandlungs- und Krisenvereinbarung müssen zum Rüstzeug jedes psychiatrisch Tätigen werden. Auch psychisch erkrankte Menschen müssen das Recht nutzen können, mittels einer Patientenverfügung Vorkehrungen für Krisen zu treffen. Verhandeln statt behandeln erweist sich als probates Mittel. Die Stabilisierung primärer sozialer Netzwerke ließe sich durch aufsuchende Arbeit, Maßnahmen der ambulanten psychiatrischen Pflege und Soziotherapie um vieles besser erreichen.

Bis heute gibt es keine Alternativen zur stationären Behandlung psychiatrischer Krisen. Im somatischen Bereich kennen wie seit langem ambulante Eingriffe. Operationen an der Seele müssen fast immer im stationären Setting durchgeführt werden, obwohl viele Menschen Angst davor haben: Angst vor der Stigmatisierung, Angst vor der Macht der Institution Psychiatrie. Wir vermissen noch immer eine außerstationäre, gemeindenahe Krisenversorgung, einen Ort, der Ruhe und Orientierung zu geben vermag und für betroffene Menschen und ihr soziales Umfeld eine spürbare Entlastung an 365 Tagen im Jahr und zu jeder Zeit bieten würde.

»Wir vermissen noch immer eine außerstationäre, gemeindenahe Krisenversorgung, einen Ort, der Ruhe und Orientierung zu geben vermag«

Den beklagenswerten Mangel einer ausreichenden ambulanten psychotherapeutischen Versorgung auch für schwer erkrankte Menschen will ich nur benennen. Und wenn eine längerfristige stationäre Behandlung erforderlich ist, dann stoßen psychisch erkrankte Menschen auch heute noch sehr selten auf einen freundlichen Empfangsraum. Sie stoßen selten auf »weiche« Zimmer, eine 1:1-Betreuung, kleine, wohnlich gestaltete Stationen, einen zurückhaltenden Umgang mit Psychopharmaka, individuell ausgehandelte Grenzsetzungen, wie es das Soteria-Konzept schon so lange fordert, sondern stattdessen auf starre Stationsregeln.

Behandlung ist teuer. Sie wird in der Regel standardisiert angeboten. Sie kann sich kaum an den individuellen Bedürfnissen orientieren. Die Regeln werden von den Krankenkassen vorgegeben und sind auf effiziente, kostengünstige Behandlung und zeitnahe Entlassung programmiert.

Die Verweildauern greifen oft zu kurz. Heute werden suchterkrankte Menschen nach dreitägigen Entgiftungsbehandlungen wieder auf die Straße gesetzt. Sie hatten kaum Zeit, einen klaren Kopf zu bekommen, geschweige denn eine Idee davon, wie sie ohne Suchtmittel ihr Leben gestalten könnten. Psychisch erkrankte Menschen müssen ohne messbare Therapieerfolge entlassen werden.

Ein Entlassungsmanagement, eine strukturierte und verlässliche Zusammenarbeit wischen Klinik und Gemeindepsychiatrie könnte auch helfen, schwierige Verläufe zu verhindern. Das gelingt im Einzelfall; es gelingt regional da, wo Verantwortliche in Kliniken gemeindepsychiatrische Angebote für ihre Patienten als eine wesentliche Ergänzung ihrer medizinischen und therapeutischen Tätigkeit begreifen. Überall gelingt es noch lange nicht. Die Fokussierung auf den Hirnstoffwechsel mag da auch eine Rolle spielen.


Wir könnten es auch besser!

»Patienten sind nicht nur Experten ihrer Krankheit - sondern auch ihrer Gesundheit. Es ist die wichtigste Aufgabe aller psychiatrisch Tätigen überhaupt, die Hoffnung auf Genesung und Besserung zu erhalten«, schreibt Michaela Amering. Forschungen haben ergeben, dass Menschen, die eine schwere psychische Erkrankung überstanden haben, immer an ihre Genesung glaubten. Hoffnung macht Sinn. Was also läge da näher, als diese Menschen in unsere Behandlungs- und Betreuungskonzepte einzubinden. Genesungsbegleiter, die in verschiedenen Städten der Republik im Rahmen des EX-IN-(Experienced-Involvement-)Konzeptes ausgebildet werden, wirken gleichsam als Modell für andere Betroffene; sie zeigen Wege auf aus dem Labyrinth einer psychischen Erkrankung.

Noch einmal zu dem eingangs erwähnten Herrn K., dem die exterritoriale Verlegung in ein geschlossenes Pflegeheim droht. Die Begründung: Herr K. braucht Struktur und Ruhe. Und warum soll er dann verlegt werden? Warum bringen wir nicht Struktur und Ruhe zu ihm? Was würden wir dazu brauchen - eine bessere Besetzung des Wochenenddienstes, eine 1:1-Betreuung für Herrn K. vielleicht? Sicher wäre es auch hilfreich, wir könnten mit ihm eine Vereinbarung treffen, Besuche bei seiner Mutter zu unterlassen; und wenn das nicht geht, wir wären in der Lage, diese Regel im Wohnheim notfalls auch durchzusetzen. Eine Tür für einen begrenzten Zeitraum im gewohnten Umfeld abzuschließen ist bei weitem nicht so traumatisierend wie eine Zwangsverlegung. Wenn Herr K. keine Medikamente nehmen will, agitiert und unruhig ist, haben wir dann die Möglichkeit, ihm einen besonders geschützten Raum, Personal und therapeutische, beruhigende Gespräche anzubieten? Haben wir ihn aktuell in Kontakt zu Menschen gebracht, die psychotisches Erleben aus eigener Erfahrung kennen und möglicherweise ganz anders helfen könnten als wir? Er hatte immer eine gute Beziehung zu seinem Bezugsbetreuer. Die würde durch eine Verlegung zerstört. Ein weiterer Abbruch, ein weiterer Vertrauensverlust. Was soll dann aus ihm werden, und wie gehen wir mit seinem Wunsch nach einem eigenständigen Leben und nach Bedeutung eigentlich um?


Strukturelle Verantwortung und Steuerung - fragmentierte Hilfesysteme und überforderte Menschen

Wenn wir über tragende Strukturen für die »schwierigsten« Menschen nachdenken, dann müssen wir uns fragen, warum bekannte, teils international erprobte und bewährte Instrumente zur Verbesserung der psychiatrischen Behandlung und Betreuung nicht zur Anwendung kommen. Warum fallen immer wieder Menschen durch die Löcher unserer überfürsorglichen, engmaschigen Netzwerke?

Die Fragmentierung unserer sozialen Sicherungs- und Hilfesysteme alleine verstellt schon den Blick auf eine ganzheitliche Wahrnehmung problematischer Entwicklungen. Kinder- und Jugendhilfe, Altenhilfe, Suchtkrankenhilfe, Wohnungslosenhilfe, Allgemeine Soziale Dienste (ASD), Hilfen für psychisch erkrankte Menschen sind in sich geschlossene Systeme. Oft genug sind sie nicht durchlässig und stellen eben nicht das jeweilige Expertenwissen zur Lösung zur Verfügung, sondern schotten sich voneinander ab. Wo konsequente fachliche, trägerübergreifende Zusammenarbeit gefragt ist, scheitert sie auch an Zuschreibungen und Zuständigkeiten.

Die Organisation unserer sozialen Sicherungssysteme ist versäult. Die berechtigten Ansprüche behinderter Menschen verschwinden oft genug im Delta der Abgrenzungsstreitigkeiten verschiedener Leistungsträger. Daran hat auch das Sozialgesetzbuch (SGB) IX in seinem Bemühen, einen Gesamtblick auf ihre Bedarfe zu implementieren, bis heute in der Praxis nicht viel verändert. Auch dieser Umstand führt zu Verzweiflung, Demotivation und schwierigen Verläufen.

Wir müssen uns fragen, ob der Anspruch der Eingliederungshilfe, der immer auf die Erlangung von Selbstständigkeit und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zielt, für einen Teil der betroffenen Menschen eine Überforderung darstellt. Hilfeplangespräche und die damit verbundene Formulierung eigener Lebensziele und Wünsche erfordern: Kommunikationsfähigkeit, ein Mindestmaß an Mitwirkung und Fähigkeiten, die eigene Lebenssituation zu betrachten und planerisch in die Zukunft zu blicken. Das sind Hürden, an denen diese Menschen oft schon scheitern. Denken wir noch einmal an Herrn G. Für Menschen wie ihn ist der Zugang zum ambulanten Hilfesystem heute ungleich schwerer.

Wir sind aufgefordert, auf regionaler Ebene Verantwortung zu übernehmen, wenn wir nicht zulassen wollen, dass die kränksten und schwierigsten Menschen in Sondereinrichtungen »entsorgt« werden. Das »wir« schließt ausdrücklich auch Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige mit ihren Sichtweisen ein.

In den zurückliegenden Jahren sind in der Bundesrepublik Gemeindepsychiatrische Verbünde entstanden, die sich dieser Aufgabe stellen. Viele problematische Entwicklungen könnten schon dadurch verhindert werden, dass eine strukturelle Zusammenarbeit der unterschiedlichen Hilfesysteme auf regionaler Ebene gefördert wird.

Wir brauchen eine organisierte Zusammenarbeit mit anderen Hilfesystemen. Mit der Jugendhilfe gibt es erste Ansätze verlässlicher Absprachen in Form von Kooperationsvereinbarungen. Dieses Modell ließe sich auch auf die Wohnungslosenhilfe, die Suchtkrankenhilfe, die Altenhilfe und die Behindertenhilfe übertragen. Stabile Behandlungsteams aus unterschiedlichen Fachrichtungen (Kombination Sucht/Psychiatrie, Jugendhilfe/Psychiatrie) erweisen sich als hilfreiche Methode. Gemeinsame Fortbildungen und Tagungen dienen dazu, eine gemeinsame Sprache zu finden, einen umfassenden Blick auf fachliche Probleme zu entwickeln, Versorgungslücken zu identifizieren und für eine Verbesserung der Systeme einzustehen.

Konkrete Zahlen über exterritoriale Unterbringungen von psychiatrischen Patienten sind kaum zu erhalten. Wahr ist aber, dass es noch immer Menschen gibt, denen man den »Umweg« über die Gemeindepsychiatrie gleich erspart. Sie werden direkt aus der Klinik in Eintracht mit rechtlichen Betreuern in Pflegeheime verlegt. Die Gründe sind vielschichtig. Misstrauen gegenüber der Tragfähigkeit gemeindepsychiatrischer Angebote mag eine Rolle spielen. Notwendig wäre aber eine Konfrontation der gemeindenahen Anbieter mit diesen problematischen Fällen. Sie würde eine Entwicklung der Versorgungsstrukturen fördern.


Wir brauchen eine neue Kultur des Hinsehens, der Zusammenarbeit und des Vertrauens

Auf der strukturellen Ebene müssen Kliniken, Gemeindepsychiatrie und rechtliche Betreuer in regelmäßigen Konferenzen über Möglichkeiten und Probleme der nachhaltigen Behandlung und Betreuung schwieriger Patienten beraten. Wir brauchen regelmäßige Besprechungen mit den Ordnungsbehörden. Wir brauchen im Einzelfall zeitnahe und kompetente Beratung durch Fachteams, ein so genanntes Konsulententeam, dass in ausweglos erscheinenden Situationen als »schnelle Eingreiftruppe« einen anderen Blick auf Probleme ermöglicht. »Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann« (Francis Picabia).

Fallkonferenzen unter Einbeziehung aller Beteiligten sind ein probates Mittel. Genesungsbegleiter und Angehörige müssen hier systematisch in die Beratungen einbezogen werden.

Die im Rheinland etablierten Hilfeplankonferenzen - aus Kostengründen drohte ihnen gerade wieder das Aus - wurden als Fachgremien implementiert. Im Kreis Mettmann finden sie unter Federführung des Sozialpsychiatrischen Dienstes statt. Hier ist ein Ort, an dem Psychiater, Gemeindepsychiatrie, Suchtkrankenhilfe und Leistungsträger der Eingliederungshilfe gemeinsam mit den betroffenen Menschen Hilfen beraten. Leider gelingt die Einbindung anderer Leistungsträger (Jobcenter, Arbeitsagentur) nur selten. Kranken- und Pflegekassen oder Reha-Abteilungen der Rentenversicherungsträger lassen sich auch im Einzelfall nicht zur Teilnahme bewegen. Der Fokus in den Hilfeplankonferenzen liegt auch deshalb immer noch auf der Bewilligung von Fachleistungsstunden. Wenn wir aber über besonders komplexe Hilfebedarfe sprechen, dann sind auch andere Leistungsträger gefragt.

»Der Einzug des Kundenbegriffes verschleiert in Wahrheit die Verhältnisse«

Wir brauchen Wohn- und Betreuungsangebote, die einen niederschwelligen, anforderungsfreien Zugang ermöglichen, ohne zugleich Ansprüche an Entwicklung, Rehabilitation und Teilhabe zu stellen. Das erfordert Anpassung, und Anpassung bedeutet für manche vielleicht gerade Aufgabe der Individualität.

Möglichkeiten der Ruhe und Orientierung müssen gemeindenah organisiert werden. Dazu bedarf es der Bereitschaft aller Leistungsträger, an neuen Konzepten mitzuwirken. Krisenbetten, die Kombination von Pflegeleistungen mit Leistungen der Eingliederungshilfe sind wegweisend.

Individuelle Lösungen brauchen den Willen, von Standards abzuweichen. Ein Standard in der ambulanten Betreuung psychisch erkrankter Menschen ist derzeit die Deckelung der Fachleistungsstunden, die im Einzelfall genauso verhandelbar sein muss wie eine Betreuung in den Nachtstunden.

Sie werden es kaum glauben, aber viele dieser Forderungen wurden in den Neunzigerjahren bereits im Psychiatrieplan meiner Heimatgemeinde erhoben. Die Gemeindepsychiatrischen Verbünde müssen zu einem echten regionalen Steuerungsgremium werden, wenn sie nicht - und das ist ein erhobener Vorwurf - zum Anbieterkartell verkommen wollen. Das heißt auch, die politischen Gremien mit unseren Sichtweisen zu »belästigen«. In letzter Konsequenz bedeutet das: Stadträte und öffentliche Verwaltungen, Stadtplaner und Umweltschutzbehörden, Bildungseinrichtungen, kulturelle Einrichtungen, Vereine, Wirtschaftsunternehmen, soziale und Gesundheitsdienste müssten ihr Handeln stets auch in den Dienst behinderter, auch seelisch behinderter Menschen stellen. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber sicher ein richtiges. Es würde die Verantwortung auf viele Schultern verteilen und das Ende der Entsorgung sozialer Fragen an Spezialisten befördern. Vielleicht kann ein Blick auf Barrieren sogar zu einer Entschleunigung, einer allgemein verständlichen, höflichen Behördensprache, zu bezahlbarem Wohnraum, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zu gesundheitsfördernden Lebensbedingungen für alle Menschen eines Sozialraums beitragen.

Dazu brauchen wir einen breiten fachlichen Konsens und einen gesellschaftlichen Rückhalt, der im Rahmen einer lautstark geführten Inklusionsdebatte nicht wieder die ausgrenzen darf, die sich nicht so einfach in das Bild einer barrierefreien, behindertengerechten Welt einfügen lassen. Ob die Idee der Inklusion gelingt, wird sich daran messen lassen müssen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Die Gestaltung inklusiver Lebensverhältnisse ist nur dann geglückt, wenn sie ausnahmslos allen behinderten Menschen ein menschenwürdiges Leben in ihrem Sozialraum ermöglicht. Sonst ist sie zum Scheitern verurteilt und wird ihrem eigenen Anspruch nicht nur nicht gerecht, sondern betreibt hinterrücks die Ausgrenzung besonders schwer erkrankter und behinderter Menschen. Dass der Ruf nach geschlossenen Unterbringungsmöglichkeiten gerade jetzt erschallt, macht zumindest nachdenklich.

Die Einführung des Marktgedankens auch im Sozial- und Gesundheitswesen ist nicht zielführend. Öffentliche und gemeinnützige Träger müssen kostendeckend arbeiten - aber keinen Profit erwirtschaften. Dass es da auch schwarze Schafe gibt, diskreditiert noch nicht die ganze Herde. Seit den Neunzigerjahren erleben wir den Einzug betriebswirtschaftlichen Denkens auch in der Wohlfahrtspflege. Als wären unsere Dienstleistungen Waren. Der Einzug des Kundenbegriffes verschleiert aber in Wahrheit die Verhältnisse. Der Kunde. Das hört sich modern und emanzipiert an. Aber was mache ich, wenn in einer geschlossenen Einrichtung die Botschaft »Du bist ein Kunde, nutze unsere Angebote zu deinem Wohl« beim uneinsichtigen Kunden nicht ankommt? Es schafft den Zwang nicht aus der Welt, wenn ich so tue, als gäbe es ihn nicht. Der Kundenbegriff ist eher verwirrend als klärend, er ist eine Lüge. Wie soll ich darauf eine stabile Beziehung aufbauen? Die Verführung, neue Angebote zu etablieren und Geld damit zu verdienen, ist groß.

Dr. Hermann Elgeti von der Medizinischen Hochschule Hannover schreibt in einem Artikel der »Sozialpsychiatrischen Informationen« (1/2012): »Warum haben die Autoren des Grünbuchs und der UN-BRK nichts von der zerstörerischen Art zu wirtschaften, von den gesellschaftlichen Spaltungsprozessen, der zurückgehenden Solidarität und dem kälter werdenden sozialen Klima geschrieben? Diese Realitäten bedrohen doch an erster Stelle die seelische Gesundheit aller und verhindern eine gleichberechtigte Beteiligung behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft. Reicht es aus, den Kanon von Inklusion und Prävention, Partizipation und Empowerment, Resilienz und Recovery zu singen ...? [...] Liegt die Lösung der Probleme darin, dass wir regionale, nationale und globale Netzwerke bilden, unsere Aktivitäten verstärkt auf Lebenswelten und Sozialräume hin ausrichten? Glaubt irgendjemand, dass wir damit erfolgreich sein können gegen die Folgewirkungen einer Politik, die dem ungezügelten Neoliberalismus gewollt oder genötigt auch noch das soziale Sicherungssystem zur Ausplünderung überlässt? Machen wir uns nicht vielmehr damit zu Handlangern einer Strategie, die im Schatten unserer tollen Bemühungen ganz ungestört die Exklusion der überflüssig gewordenen Menschen und die Selbstverwaltung ihrer Not vorantreibt?«

Es ist an der Zeit, dass wir den volkswirtschaftlichen Nutzen unserer Tätigkeit in den Vordergrund stellen. Lassen wir uns doch nicht unsere Überzeugungen durch neoliberale Glaubenssätze verwässern. Das marktwirtschaftliche Prinzip der Konkurrenz macht im psychosozialen Arbeitsfeld keinen Sinn. Wir sollten eher Kooperationen mit anderen Anbietern anstreben und Solidarität fördern. Wenn uns schon keine Bündnisse mehr gelingen, wie sollen wir dann tragende Strukturen mit Menschen entwickeln, die die Hoffnung auf Verständnis und Selbstwirksamkeit aufgegeben haben?

Vor einigen Wochen war ich zu einer Schultheateraufführung eingeladen. Im Programm zu diesem Abend fand ich folgenden von den Schülern verfassten Text: »Am 21. November 1811 hat sich Heinrich von Kleist erschossen. Er war 34 Jahre alt.

Welche Umstände treiben einen Menschen dazu, den inszenierten Tod zu suchen? War es der Wunsch, ein einziges Mal selbst zu bestimmen, wann und wie man fällt? Endlich einmal liegen bleiben zu können, nicht mehr ins Stolpern und Straucheln und außer Atem zu geraten in einer Welt, deren Verwerfungen keinen ebenen Weg mehr übrig lassen? Seine von Gewalt geprägte Welt war aus den Fugen geraten, die alte Ordnung nicht mehr gültig, eine neue nicht erkennbar. Ein grundlegendes Vertrauen in die Welt und zur Welt war verloren. Wie heute.«


Anne Sprenger ist Geschäftsführerin des Verbundes für Psychosoziale Dienstleistungen (VPD) gGmbH, Langenfeld. Bei dem Artikel handelt es sich um die bearbeitete Fassung ihres Vortrags auf der Kölner Fachtagung »Verantwortung übernehmen für die 'Schwierigsten'« am 23. und 24. März 2012.
E-Mail-Kontakt: anne.sprenger@vpd-mettmann.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012, Seite 24 - 29
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2012

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