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ARTIKEL/431: Außenseiterkunst - Künstlerische Werke von Psychiatrie-Erfahrenen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 141 - Heft 3, Juli 2013
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Künstlerische Werke von Psychiatrie-Erfahrenen

Von der Isolation in den Anstalten zur Ateliergemeinschaft

Von Wolfram Voigtländer


Jede psychiatrische Einrichtung in Deutschland, die auf der Höhe der Zeit sein will, bietet heute in ihrem Behandlungsspektrum auch Kreativtherapien an. Tanz- und Bewegungstherapie gehören ebenso dazu wie Musiktherapie, Gestaltungs- und Kunsttherapie. Sie sind weitgehend Behandlungsalltag. Auch die Mitarbeitergruppen, die nicht selbst in diesen Bereichen arbeiten, haben damit zu tun. Die Ärzte ordnen diese Therapien an, Pflegekräfte begleiten die Patienten und Patientinnen dorthin oder holen sie dort ab; viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben schon mal eine »Schnupperstunde« in solchen Gruppen gemacht oder sie interessieren sich für Tanz, Musik oder bildnerische Gestaltung als Freizeitbeschäftigung. Das Wissen um die Hintergründe dieser Therapieformen ist bei diesen Mitarbeitergruppen aber sehr unterschiedlich; deshalb soll hier der Versuch gemacht werden, für den Bereich der künstlerischen Arbeiten von Psychiatrie-Erfahrenen einen geschichtlichen Überblick und eine Einführung zu geben.

Blick in die Geschichte der Außenseiterkunst

Der italienische Arzt und Psychiater Cesare Lambroso (1835-1909) befasste sich in seinem Buch »Genio e follia« (1872, dt. »Genie und Irrsinn, 1887) am Rande erstmals mit den bildnerischen Hervorbringungen »Wahnsinniger«, indem er diese beschrieb und kategorisierte. Außerdem schuf er mit diesem Titel den beliebten Topos von der Nähe des Genies zum Wahnsinn, womit er ein regelmäßiges Zurückfallen in einen chaotischen, regellosen Naturzustand meinte. Aber erst der französische Psychiater Paul Meunier (1873-1957) thematisierte in seinem 1907 unter dem Pseudonym Marcel Réja erschienenen Buch »L'art chez les fous« (dt. »Die Kunst bei den Verrückten«, 1997) die Nähe der Patientenarbeiten zu Kunst. Begünstigt wurde dies offenbar dadurch, dass sich auch die Künstler dieser Zeit mit dem Wahnsinnigen als dem Prototyp des »Außenseiters« (»outsider«) zu befassen und zum Teil auch zu identifizieren begannen.

1921 veröffentlichte Walter Morgenthaler (1882-1965), ein Psychiater aus der Anstalt Waldau bei Bern (Schweiz), erstmals eine Monografie über einen psychiatrischen Patienten, in der er diesen als Künstler bezeichnete: »Ein Geisteskranker als Künstler - Adolf Wölfli«. Mit diesem Buch begann die Rezeption der Kunst von Außenseitern, und es zeigte sich bereits damals ein Phänomen, das sich durch das ganze folgende Jahrhundert bis heute verfolgen lässt, dass nämlich diese Kunst von den so genannten normalen Künstlern in besonderer Weise geschätzt wurde und diese in ihrer Arbeit beeinflusste (Rilke, Klee, Picasso).

1922 erschien das erste Werk, das sich umfassend mit der »Bildnerei der Geisteskranken« befasste. Diesen »Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung« legte Hans Prinzhorn vor, der an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg die von Emil Kraepelin begründete Lehrsammlung um zirka 5000 Objekte aus vielen deutschsprachigen Anstalten erweitert hatte. Das Besondere dieses Buches lag unter anderem an den vielen, zum Teil auch farbigen Abbildungen, die das Gebiet erstmals einer größeren Öffentlichkeit sinnlich zugänglich machten und beispielsweise auch die französischen Surrealisten beeindruckten, die zwar nicht den (deutschen) Text, so doch und vor allem die Bilder »lesen« konnten.

1937 dienten Werke aus der Sammlung Prinzhorn den Nationalsozialisten als Material zur Diffamierung nicht nur der Patienten, sondern auch von modernen Künstlern in der Ausstellung »Entartete Kunst« 1937 in München.

1945 reiste der französische Künstler Jean Dubuffet (1901-1985) durch Schweizer psychiatrische Anstalten und begann eine Sammlung von Patientenkunst zusammenzutragen. Er prägte für diese Kunstrichtung den Begriff »Art brut« (verkürzt franz. art brutale, dt. roh; im englischen Sprachraum 1972 von Roger Cardinal als »Outsider Art« eingeführt) und weitete diesen Begriff nicht nur auf andere künstlerisch tätige Randgruppen aus, sondern führte einen vehementen Feldzug gegen die von ihm so genannte kulturelle Kunst und deren akademische Erstarrung und stellte dieser die »rohe«, unverfälschte Kunst derer entgegen, die nie eine Kunstakademie betreten haben und außerhalb aller Traditionen stehen. Ihre Kreativität sah er als die eigentliche, ursprüngliche an, ihre Authentizität schien ihm der Quell wahrer Kunst zu sein. Manche von Dubuffets Ansichten gelten heute als überholt; die Faszination seiner seit 1974 in Lausanne ausgestellten Collection de l'Art Brut und der künstlerischen Werke von psychiatrieerfahrenen Menschen aber wirkt unvermindert fort und schließt die Bewunderung der geschmähten »kulturellen« Künstler mit ein, die sich mit dieser Form der Kunst bis heute intensiv auseinandersetzen.

1963 veranstaltete der Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933-2005) erstmals eine Ausstellung mit 250 Werken der Sammlung Prinzhorn in Bern: »Insania Pingens«, und er stellte 1972 auf der 'documenta 5', der alle fünf Jahre stattfindenden »Weltausstellung für Kunst« in Kassel, Adolf Wölfli vor.

1965 erschien das erste Buch von dem in der psychiatrischen Anstalt Gugging bei Wien tätigen Psychiater Leo Navratil (1921-2006): »Schizophrenie und Kunst«. 1981 zog dort eine Gruppe von Patienten in ein eigenes Haus ein, das 'Zentrum für Kunst-Psychotherapie', der Kern der berühmten Gugginger Künstler. Navratil sah seine Zusammenarbeit mit den Patienten seit diesem Zeitpunkt als eine Form der Psychotherapie an. Von seinem Nachfolger wurde das Haus 1986 in 'Haus der Künstler' umbenannt. Seit 1974 gibt es Verkaufsausstellungen mit Bildern dieser Künstler, die bald international äußerst erfolgreich werden sollten.

1964 wurde an der psychiatrischen Anstalt in Florenz das 'laboratorio espressivo La Tinaia' gegründet, das nach einer wechselvollen Geschichte bis heute als 'La Nuova Tinaia' existiert und ähnlich bekannt ist wie das Haus der Künstler in Gugging. Auch hier werden die Werke der Patienten mit großem Erfolg verkauft, wobei die Patienten-Künstler hier wie inzwischen in den meisten Ateliers am Erlös beteiligt werden.

In Deutschland wurde das 'Kunsthaus Kannen' auf dem Gelände des Alexianer-Krankenhauses in Münster bekannt, wo seit Anfang der 1980er-Jahre künstlerisch tätige Patienten besonders gefördert werden.

Seit 1984 gibt es in Hamburg die 'Schlumper', eine Ateliergemeinschaft, die der Maler Rolf Laute um sich geschart hat.

1995 wurde im Heilpädagogischen Centrum Augustinum (HPCA) München die HPCA-KUNSTwerkstatt gegründet, die seit 2006 als 'atelier hpca' firmiert und die der Kunstpädagoge Klaus Mecherlein, Leiter des Ateliers, mit dem 'euward', einem europäischen Kunstpreis für Künstler mit geistiger Behinderung, noch bekannter gemacht hat.

So begann also die Kunst der Außenseiter mit den in psychiatrischen Anstalten isolierten Patienten, die sich in ihrer Not mit Zeichnen und Schreiben beschäftigten, ohne dass sie aber - in der Regel - die Absicht hatten, damit Kunst zu machen. Die Entdeckung der Kreativität in diesen Arbeiten führte einerseits zur Würdigung der »reinen« Kunst der Psychiatrie-Patienten, die unabhängig von therapeutischen Aspekten erfolgte; andererseits wurde aus dieser Quelle der Kreativität auch eine Therapieform, die Kunsttherapie, entwickelt.

Fragen zur Außenseiterkunst

Welche Fragen ergeben sich nach diesem kurzen Blick in die Geschichte der Außenseiterkunst? Da »Außenseiterkunst« und (synonym) verwandte Begriffe zum Teil sehr weit gefasst werden, soll unser Blick im Folgenden auf die hier besonders interessierende der Psychiatrie-Erfahrenen bzw. -Patienten eingegrenzt werden.

Handelt es sich bei den Werken von psychisch Erkrankten überhaupt um Kunst? Gibt es dafür Kriterien? Wie kann man Kunst von Nichtkunst und von Kunsthandwerk abgrenzen?

Der Zugang zur Kunst von Psychiatrie-Erfahrenen wurde unter anderem dadurch erst möglich, dass mit dem Beginn der Moderne, also vor gut hundert Jahren, der freiere Blick auf die Welt, nicht nur in das eigene Innere, sondern zugleich auf die (Kunst-)Werke anderer Kontinente, »primitiver« Völker, »Wilder«, Kinder und eben auch der Randgruppe der psychisch Kranken gerichtet wurde. So konnten deren Werke in Einzelfällen als Kunst wahrgenommen werden, als eine Ausdrucksform, die an Schöpfungskraft der akademischen Kunst nicht nur gleichkommt, sondern in ihrer Ursprünglichkeit und Kreativität über die Kunst »der Affen und die Kunst der Nachahmung« (so Dubuffet in seiner Polemik gegen die »kulturelle« Kunst) hinausweist.

Auch nach der Definition des Bundesverfassungsgerichtes (so genanntes Mephisto-Urteil, 1971) ist Außenseiterkunst zweifellos Kunst: »Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.«

Ansonsten sind Kriterien dafür, was Kunst eigentlich ist und wie deren Qualität einzuschätzen sei, aber nur schwer und in diesem Rahmen von kunsthistorischen Laien eigentlich gar nicht zu benennen. Und es wäre ohnehin zu fragen, ob diese Maßstäbe dann auch überhaupt für Außenseiterkunst gelten, für eine Kunst also, die sich auf keine Traditionen, Maßstäbe und Kriterien bezieht.

Anführen könnte man allerdings zwei Kriterien, die allgemein anerkannt sind und die die Kunst von Außenseitern in hohem Maße erfüllt:

  • die Innovation als bahnbrechende Neuerfindung bildnerischer Möglichkeiten gegebenenfalls mit Erweiterung des Kunstbegriffs und
  • die individuelle, hoch persönliche Art der Formgebung, der eigene Stil.

Im Weiteren soll denn auch nur über solche Werke geredet werden, die nach allgemeinem Urteil (Expertenmeinung) auch tatsächlich zur Kunst gerechnet werden.

Ist alles, was psychiatrische Patienten produzieren, Kunst? Gibt es bei ihnen eine besondere Form der Kreativität? Was charakterisiert die Werke von Außenseitern?

Heute geht man davon aus, dass es unter Psychiatrie-Erfahrenen und anderen Außenseitern nicht mehr kreativ begabte Menschen gibt als in der übrigen Bevölkerung, dass also keineswegs jede Zeichnung etc. eines Patienten auch gleich Kunst ist.

Dubuffet hatte bei den künstlerisch tätigen Außenseitern eine ganz ursprüngliche Kreativität gesehen, die unverbildet von akademischen Zwängen, ohne Bezug zur Kunstgeschichte und ohne den Zwang zur Nachahmung in ihrer »Rohheit« ganz aus dem Inneren, dem Unbewussten schöpft. Allerdings weiß man heute, dass auch »typische« Außenseiterkünstler, unabhängig davon, ob sie eine künstlerische Ausbildung durchlaufen haben, durch die sie umgebende Kultur geprägt und in ihrer Bildgestaltung beeinflusst sind, also nicht außerhalb aller Traditionen stehen. Trotzdem kommen sie zu originellen Lösungen und faszinieren oft durch die Obsession mit der sie ihre Werke schaffen. Dabei scheint das psychotische Erleben eines Patienten zwar die Bildgestaltung im Sinne der »zustandsgebundenen« Kunst nach Navratil beeinflussen zu können, es lässt in ihm aber keine grundsätzlich neuen kreativen Möglichkeiten entstehen.

Die Qualität der Werke von Außenseitern wird oft mit Adjektiven beschrieben wie authentisch, spontan, roh, obsessiv etc. und die Wirkung auf den Betrachter mit Begriffen wie befremdlich, überwältigend, unheimlich etc. Früher wurde darüber hinaus versucht, formale Merkmale dafür zu entwickeln, was das Charakteristische an der Kunst von Psychiatrie-Erfahrenen ist. Fachleute sind sich heute aber einig darin, dass es keine Kriterien dafür gibt, ein einzelnes Werk der Art brut zuzuordnen. Dabei gibt es aber in der Person und im Werk durchaus Anhaltspunkte dafür, ob ein Künstler zu dem Kreis der Art-brut-Künstler gerechnet wird:

  • Zuordnung/Labeling: Er war/ist psychiatrischer Patient.
  • Er hat keine künstlerische Ausbildung.
  • Er wird unaufgefordert kreativ.
  • Er arbeitet obsessiv, unermüdlich und lässt sich weder beeinflussen noch beirren in dem, was er tut.
  • Er hat seine eigene, unverwechselbare Formensprache.
  • Er wird kreativ, ohne direkte Vorbilder zu haben.
  • Er drückt sich in unterschiedlichen Formen, Materialien und Medien aus.
  • Er sieht seine Arbeit nicht als Kunst an.
  • Er arbeitet nicht für Geld oder Anerkennung.
  • Er verwendet häufig billiges Material, Müll, weggeworfene Dinge, weil sie für ihn in seiner Situation verfügbar sind, stellt daraus aber höchst ästhetische Dinge her.
  • Er hat häufig ein leidvolles Leben mit massiven Kränkungen und schweren seelischen Krisen gehabt, die ihn zu einem (künstlerischen) Ausdruck drängten, der für ihn subjektiv vor allem die Funktion einer Krisenbewältigung hat bzw. hatte.

Wann wird die Kunst zur Therapie? Entsteht in der Kunsttherapie auch Kunst?

Kunst hat immer auch einen therapeutischen Aspekt, sowohl für Künstler als auch für Außenseiter und Psychiatrie-Erfahrene: kreativ sein, mit Materialien spielerisch umgehen, Gefühle ausdrücken und in eine Form bringen, das entspannt, entlastet, befriedigt, klärt, spornt an, gibt Sinn etc. - das war schon immer so, seitdem Menschen Kunst hervorbringen.

Aber nicht alles, was heute in der Kunsttherapie entsteht, ist auch gleich Kunst - das muss auch nicht sein. Allerdings kommt Kunsttherapie nicht ohne die Kunst aus, denn ein gut gemeintes therapeutisches Bemühen und die flüchtig hingemalte Zeichnung oder das gebastelte Objekt alleine reichen nicht aus, um wirksam zu werden.

Allerdings gibt es natürlich auch Entwicklungen in der Kunsttherapie, in denen Patienten unter der Anleitung oder mit den Hinweisen von Kunsttherapeuten/Künstlern künstlerisch reifen und dann auch Kunst schaffen.

Warum produzieren psychiatrische Patienten überhaupt Kunst?

Als Motivation für das künstlerische Schaffen Psychiatrie-Erfahrener - Zeichnungen, Bilder, Collagen, Textilarbeiten, Skulpturen, andere Objekte, Environments, aber auch Schriftstücke/Texte, Musikstücke und vor allem auch Kombinationen aus allen diesen Formen - werden zwei Quellen gesehen: Zum einen gibt es einen allen Menschen innewohnenden spielerisch-kreativen Gestaltungsdrang, der sich aber in einem individuell sehr unterschiedlich starkem Maße Ausdruck verschafft. Daneben gibt es immer auch den bereits angedeuteten selbst-therapeutischen Aspekt in der künstlerischen Gestaltung von Psychiatrie-Erfahrenen.

Unter den Bedingungen vor 1945 war dies meist der Versuch einer Selbstheilung bzw. einer Auseinandersetzung mit der Krankheit und/oder deren Folgen. Unter dem Druck des eigenen inneren Leidens an der psychischen Störung, in der Regel verstärkt durch die belastenden äußeren Bedingungen des Lebens in einer Anstalt, abgeschnitten von der Familie und dem früheren Alltag, suchten und fanden viele Patienten einen 'Ausweg' im Schreiben, Zeichnen oder in anderen Formen des Gestaltens. Dabei zielten diese Tätigkeiten in den seltensten Fällen darauf ab, bewusst Kunst herzustellen. Sie dienten dazu, sich nur einfach die Zeit zu vertreiben, Angehörigen und anderen Personen aus dem früheren Leben ihr Leid zu klagen und um Unterstützung zu bitten, manchmal auch dazu, Erlebtes zu dokumentieren und damit anzuklagen, Halluziniertes zu zeichnen und so die Schrecken zu bannen.

Den Patienten tut es also gut, kreativ zu sein, da ihr Leiden aushaltbarer wird und sie möglicherweise über diesen Weg Kompromisse und Lösungen für ihre inneren und äußeren Konflikte finden. Dieses Leid sollten wir allerdings auch nicht ganz aus dem Auge verlieren, wenn wir als Mitarbeitende in der Psychiatrie oder als Kunstliebhaber die Werke früherer oder auch heutiger Patienten als Kunst wahrnehmen.

In den letzten vierzig Jahren haben sich allerdings die Bedingungen, unter denen Psychiatrie-Erfahrene künstlerische Werke produzieren, grundlegend gewandelt.

Wie wurden die Werke Psychiatrie-Erfahrener in ihrer Entstehungszeit aufgenommen?

In der Zeit vor 1945 und noch bis in die 1970er-Jahre war es in den Anstalten trotz der Bücher von Morgenthaler und Prinzhorn eher die Ausnahme, dass die Werke von Patienten ernst genommen oder als Kunst wahrgenommen wurden. Die Regel war wohl, dass die Werke weggeworfen wurden die Patienten zum Teil verlacht und verspottet oder auch diffamiert wurden, und die Kommentare in den Krankengeschichten Unverständnis signalisierten. Dort wurden sie überwiegend zur Demonstration des Wahnsinns und seiner Folgen abgeheftet.

Sehr früh wurden dagegen von anderen Kulturschaffenden die kreative Potenz, die eigenwillige, ungezähmte Darstellungskraft und die Obsession der Patientenkünstler gesehen - und geschätzt. So formulierte Rilke im Zusammenhang mit der Kunst von Adolf Wölfli, dass psychische »Krankheitssymptome zu unterstützen wären, weil sie den Rhythmus heraufbringen, durch den die Natur das ihr Entfremdete wieder für sich zu gewinnen und zu einem neuen Einklang zu melodisieren versucht«. Klee äußerte über eine Patientenarbeit: »Das ist ein guter Klee!« Und die Wirkungen des Buchs von Prinzhorn auf die Pariser Surrealisten sind legendär.

Die Bücher von Morgenthaler und Prinzhorn wirkten so zwar bei Künstlern und Intellektuellen, hatten aber wenige Rückwirkungen auf die Haltung der Mitarbeiter in den Kliniken gehabt, wobei das Unverständnis bei allen Berufsgruppen zu finden war. Es ist zu befürchten, dass das teilweise auch heute noch so ist.

Welche äußeren und inneren Bedingungen haben zu dem Wandel der »Produktionsbedingungen« für die psychiatrischen Patienten beigetragen?

In der Zeit nach 1945 wurden in den meisten Ländern Mitteleuropas die Lebens- und Behandlungsbedingungen für psychiatrische Patienten deutlich verbessert, in Deutschland geschah dies im Gefolge der Psychiatrie-Enquete ab etwa 1975.

Die Aufenthaltsdauer in den Kliniken verringerte sich dramatisch. Hospitalismusschäden traten bei den so genannten neuen chronisch Kranken deutlich weniger auf als früher. Zu den klassischen Formen der Arbeits- und Beschäftigungstherapie kamen Psychotherapie und Kreativtherapien hinzu. Hierzu gehörten neben Tanz-, Bewegungs- und Musiktherapie auch Ergo-, Gestaltungs- und Kunsttherapie. Jetzt wurden die Patienten ermuntert, sich »künstlerisch« auszudrücken. Sie arbeiteten nicht mehr im Stillen, zurückgezogen, mit billigem Material. Sie erhielten Raum dafür, Zeit, Material, Anregungen und, wenn sie wollten, auch Anleitung. Und sie erhielten Anerkennung für das, was sie schufen.

Diese Entwicklung nahm schließlich zwei Wege. Der größere Teil der Patienten profitierte von der Kunsttherapie als einem therapeutischen Verfahren, das zum Beispiel half, Unaussprechliches und schwierige Gefühle auszudrücken. Außerdem entdeckten viele Patienten, dass kreatives Gestalten auch nach einer stationären Behandlung bei der Bewältigung neu auftretender Probleme oder auch »nur« als Möglichkeit der Freizeitgestaltung hilfreich sein kann. Kunst produzieren diese Patienten in der Regel nicht.

Nur ein kleinerer Teil der Patienten zeigt in der Kunsttherapie eine außergewöhnliche Begabung und wird von den Therapeuten 'entdeckt' und manchmal in offenen Ateliers, Kunstwerkstätten o.Ä. gezielt gefördert. Diese Patienten bilden mitunter eine Identität als Künstler aus, sie werden zum Teil angestellt und erhalten einen fixen Lohn, manchmal sind sie auch am Verkaufserlös ihrer Bilder beteiligt. Einige werden weltberühmt, reisen zu Vernissagen, ihre Bilder werden in Museen ausgestellt und erzielen auf Messen und Auktionen hohe Preise (z.B. die Werke von Adolf Wölfli [1864-1930], Henry Darger [1892-1973], Josef Hofer). Gustav Mesmer (1903-1994) wurde mit seinen genialen Flugobjekten als der »Ikarus vom Lautertal« bekannt.*

Der Einfluss von Psychopharmaka wird unter den Faktoren, die auf die Kreativität und Kunstproduktion Psychiatrie-Erfahrener einwirken, zwiespältig gesehen. Das Leiden der Menschen wird durch Medikamente tendenziell verringert und damit der Druck, sich kreativ auszudrücken; produktiv-psychotisches Erleben wird reduziert - auch als Quell von Inspiration. Trotzdem schätzen die meisten Experten die Situation so ein, dass die Qualität der künstlerischen Werke von Psychiatrie-Erfahrenen im Lauf der letzten Jahrzehnte im Wechselspiel der verschiedenen Einflussfaktoren (beispielsweise die Reform der psychiatrischen Versorgung) nicht abgenommen hat. Ohnehin gibt es auch weiterhin immer wieder Außenseiter, die unabhängig von den angedeuteten Verbesserungen in den Lebens- und Behandlungsbedingungen als Einzelgänger, isoliert und unbehandelt, ihr Werk schaffen (Horst Ademeit, Miroslav Tichy).

Welche Rolle spielen in dieser Entwicklung die Kunsttherapeuten, die beteiligten Künstler und die Kunsthistoriker?

Die Reformen in der Psychiatrie haben nach den Ergotherapeuten auch die Gestaltungs- und zuletzt die Kunsttherapeuten hervorgebracht. Deren Berufsbild ist allerdings noch nicht staatlich anerkannt, sodass Ausbildungsgänge in ihrer Qualität und Ausrichtung noch sehr unterschiedlich sind.

Seit den 1980er-Jahren sind auch in zunehmender Anzahl Künstler in den Ateliers beschäftigt, die ohne dezidierten therapeutischen Anspruch die Patienten anregen, anleiten oder begleiten sollen.

Kunsthistoriker sind in der Regel nicht in die direkte Arbeit mit Patienten involviert - aber auch hier gibt es Ausnahmen -, aber mit der zunehmenden Anerkennung von Patientenarbeiten als Kunst ist ihre Rolle in diesem Feld natürlich immer wichtiger geworden. Die wissenschaftliche Durchdringung dieser Arbeiten und ihrer Stellung in der Kunstgeschichte ist in der Regel Aufgabe der Kunsthistoriker. Diese haben somit spätestens seit Ende des vergangenen Jahrhunderts die Deutungshoheit auch in diesem Feld übernommen, die bis dahin bei den Psychiatern lag. Entsprechend sind die Leiter der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg (Thomas Röske) und der Collection de l'Art Brut in Lausanne (früher Lucienne Peiry, heute Sarah Lombardi) Kunsthistoriker und -historikerinnen.

Gibt es auch Museen, Sammlungen, Sammler, Messen und Auktionen, gibt es einen Markt für Außenseiterkunst?

Auch in dieser Hinsicht hat sich die Kunst der Außenseiter etabliert. Es gibt gerade in den letzten Jahren eine zunehmende Zahl von Ausstellungen mit Außenseiterkunst. Im Ulmer Stadthaus waren die Arbeiten von Gustav Mesmer und Norman Seibold zu sehen. Die 'Kunsthalle Schirn' in Frankfurt am Main zeigte 2011 die große Außenseiterkunst-Ausstellung »Weltenwandler«. Der 'Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwartskunst' in Berlin, zeigte mit »secret universe« eine ganze Reihe von Außenseiterkünstlern, zuletzt den Savant George Widener. Und das Haus der Kunst in München zeigt alle drei Jahre die Preisträger des 'euward', eines Kunstpreises für Menschen mit einer geistigen Behinderung.

Neben den bereits genannten Museen gibt es in Europa eine Vielzahl von Museen mit Werken von Psychiatrie-Erfahrenen und Menschen mit geistiger Behinderung. Häufig sind diese an psychiatrische Einrichtungen angeschlossen. Daneben sind aber auch Werke Psychiatrie-Erfahrener in den großen Museen der Welt vertreten. So gibt es im Kunstmuseum Bern eigene Säle für die Kunst von Adolf Wölfli. Das Musée des Beaux Arts in Lille (Frankreich) hat neben der zeitgenössischen Kunst eine große Abteilung für Außenseiterkunst in einem eigenen Neubau. Die Zeichnungssammlung des New Yorker Museum of Modern Art (MoMa) enthält Zeichnungen von Außenseitern, ohne dass diese als solche gekennzeichnet sind. Die Grenzen beginnen sich zu verwischen.

Es gibt viele Sammler, die entweder nur oder zumindest auch Außenseiterkunst sammeln. Arnulf Rainer, der »Übermaler«, zum Beispiel besitzt eine große Sammlung dieser Kunst.

Es gibt auch spezialisierte Galerien, die nur oder überwiegend Außenseiterkunst verkaufen und die auch immer wieder neue Künstler entdecken. So sind europäische und US-amerikanische Händler in Südamerika, in den Ländern Osteuropas, in China und in Japan unterwegs, um dortige Außenseiterkünstler ausfindig zu machen.

Seit zwanzig Jahren gibt es in New York eine Messe für Außenseiterkunst, die 'Outsider Art Fair'; in Europa gibt es immer wieder (kleinere) Versuche, Außenseiterkunst in einer Messe zu etablieren. Zunehmend kann man aber bei den großen Kunstmessen in den Kojen der Aussteller Kunst von Außenseitern sehen und kaufen, ohne dass diese als solche bezeichnet werden. Geht die Kunst der Außenseiter also in der Kunst auf?

Erleben sich die Patienten als Künstler?

Mit dem Ausbau der Ateliers und dem zunehmenden Erfolg einzelner Klienten, manchmal auch ganzer Ateliers (Schlumper in Hamburg, Kunsthaus Kannen in Münster, HPCA in München), kommt es bei einigen auch zur Herausbildung einer Identität als Künstler. Manche beginnen dies explizit für sich zu formulieren, viele genießen diese Rolle, die Wahrnehmung als Künstler und die Wertschätzung, auch manchmal den finanziellen Anreiz. Andere bleiben durch die öffentliche Rezeption völlig unbeeindruckt.

Wie ist heute der Stellenwert der Kreativtherapien?

Die Kreativtherapien haben inzwischen nicht nur Befürworter, sondern auch viele Verfechter und Bewunderer gefunden; dies drückt sich aber noch nicht in einer breiten Akzeptanz und Selbstverständlichkeit bezüglich ihres therapeutischen Stellenwerts, ihrer Repräsentanz im Fächerkanon und ihrer Darstellung in den Lehr- und Handbüchern aus.

Gibt es bald nur noch die eine Kunst? Warum überhaupt noch Außenseiterkunst?

Im Herbst 2011 fand in Berlin ein Symposium statt, das das Verhältnis von Kunst und Außenseiterkunst zum Thema hatte. Hier wurde vor allem die wechselseitige Beeinflussung thematisiert; es wurden aber auch die Begriffe Outsider und Insider problematisiert und die diskriminierende Unterscheidung infrage gestellt zugunsten eines universellen Verständnisses von Kunst. Einig waren sich alle, dass sich die Kunst von Psychiatrie-Erfahrenen und anderen Außenseitern über kurz oder lang in die Kunst integrieren wird, es also auch nur noch eine - inklusive - Kunst geben wird.


Wolfram Voigtländer, Psychiater und Psychotherapeut, war von 1994 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefarzt am Klinikum für Psychiatrie in Heidenheim. Er lebt in Berlin.
E-Mail-Kontakt: aw.voigtl@t-online.de

(*) Ausstellung im Gustav-Mesmer-Haus, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bad Schussenried, vom 16. Juni bis 8. September 2013.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 141 - Heft 3, Juli 2013, Seite 4 - 10
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2014

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