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STELLUNGNAHME/002: Videoüberwachung in der Psychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Etwas Erniedrigenderes kann dir nicht passieren"
Videoüberwachung in der Psychiatrie

Stellungnahme der Rheinischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (RGSP)


Die RGSP wurde gebeten, im Gesundheitsausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen zur Frage der Videoüberwachung auf psychiatrischen Stationen Stellung zu nehmen. Anlass war eine Gesetzesinitiative der FDP-Fraktion, die sich wiederum auf eine Stellungnahme der RGSP aus 2009 bezogen hatte.(1) Hier die aktuelle Stellungnahme, die im Juni 2011 im Gesundheitsausschuss von Stefan Corda-Zitzen und Dr. Stephan Rinckens (LVR-Klinik Mönchengladbach) vertreten wurde. Bis Redaktionsschluss lag noch kein Ergebnis vor.

Der Gesetzentwurf der Fraktion der FDP vom 2.11.2010 hat zum Ziel, die Videoüberwachung zwangsweise untergebrachter Patienten zu untersagen. Er nimmt Bezug auf einen Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) vom 5.6.2009 (14/2654), demzufolge etwa 23 Prozent von 99 psychiatrischen Kliniken des Landes gelegentlich Videokameras in der Beobachtung von zwangsweise untergebrachten Patienten einsetzen. In dem Bericht wird weiter ausgeführt: "Die Videoüberwachung kommt lediglich im Einzelfall nach strenger ärztlicher Indikationsstellung im Rahmen von Maßnahmen zur Krisenintervention zum Einsatz, falls andere Möglichkeiten zur Vermeidung einer Selbst- oder Fremdgefährdung ausscheiden.... Die Videoüberwachung ist Teil des therapeutischen Konzepts und soll die persönliche Betreuung lediglich ergänzen und nicht ersetzen."


"Erstaunliche Bandbreite in der Handhabung von Zwangsmaßnahmen"

Dass diese Argumentation an der Problematik der Praxis in manchen Kliniken völlig vorbeigeht, verdeutlichen schon die jetzt vom Ministerium mitgeteilten Ergebnisse einer Erhebung in 16 Kliniken. Die in einer (nicht ganz leicht entschlüsselbaren) Tabelle zusammengefassten Ergebnisse lassen eine erstaunliche Bandbreite in der Handhabung von Zwangsmaßnahmen erkennen. So erfolgte in der Klinik mit der lfd. Nr. 3 bei 33 von 601 aufgenommenen Patientinnen und Patienten eine Videoüberwachung (X Prozent der Fälle). Bei 13 der 33 videoüberwachten Patienten (32,5 Prozent) war auch eine Fixierung erfolgt. (Die Tabelle gibt keinen Aufschluss darüber, wie häufig insgesamt Fixierungen - auch ohne Videoüberwachung vorgenommen wurden.) In der Klinik mit der lfd. Nr. 11 fand bei 330 von 388 Patienten (85 Prozent) eine Videoüberwachung statt, wobei in 310 dieser Fälle (94 Prozent) auch eine Fixierung erfolgte.

Es wäre abwegig, eine derart unterschiedliche Praxis mit Eigenarten der aufgenommenen Patientinnen und Patienten erklären zu wollen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass der Einsatz von Zwang in manchen Einrichtungen fast routinemäßig erfolgt und von einer strengen ärztlichen Indikationsstellung wohl kaum die Rede sein kann. Die Hoffnung des Ministers Karl-Josef Laumann(2), sein Erlass zur Videoüberwachung vom 17.4.2009 würde von den Einrichtungsträgern zum Anlass genommen, ihre bisherigen Konzepte zur Überwachung zwangsweise untergebrachter Patientinnen und Patienten zu überprüfen und weiterzuentwickeln, hat sich nicht erfüllt.

Wer im Klinikalltag Zwang und Fixierung als Routinemaßnahme praktiziert, verliert womöglich das Gespür für die Erheblichkeit dieses Eingriffs in Grundrechte. Frajo-Apor et al. (2011)(3) haben Ergebnisse strukturierter Interviews über Erfahrungen mit mechanischer Fixierung publiziert. Danach hätten viele Patienten solche Maßnahmen als belastend oder gar traumatisierend erlebt und einen Mangel an Information, Betreuung und Ansprache beklagt. Die Autoren stellen ihrem Aufsatz ein Zitat aus einem Interview voran: "Etwas Erniedrigenderes kann dir eigentlich in der Psychiatrie nicht passieren." Die Diskussion über Zwang, Fixierung und Videoüberwachung darf nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Alltagsbewältigung in den Kliniken geführt werden. Vielmehr sind grundsätzliche Fragen des psychiatrischen Handelns und auch der Menschenwürde tangiert.


Alternative: die Sitzwache

Würde man, losgelöst von der etablierten Praxis, grundsätzlich darüber diskutieren, wie mit verwirrten, aggressiv gespannten, sich und andere gefährdenden Menschen in psychischen Krisen verfahren werden sollte, so käme niemand auf die Idee, das Konzept "Fesseln und aus der Ferne videoüberwachen" zu propagieren. Ganz selbstverständlich würde man empfehlen, bei vorübergehend fixierten Patienten die persönliche Zuwendung und kontinuierliche Präsenz von Mitarbeitern sicherzustellen.

Daher geht es bei der Diskussion um die Frage der Videoüberwachung auf psychiatrischen Stationen vor allem auch darum, ob bei fixierten (mittels mechanischer Hilfsmittel in der Bewegungsfreiheit eingeschränkten) Patienten eine ständige persönliche Beobachtung und Begleitung - "Sitzwache" - gewährleistet sein muss oder ob eine Beobachtung per Videoübertragung ausreicht.

Diese Frage ist unter einer Reihe von Aspekten zu reflektieren:

• Wie erleben erregte, aggressive oder auch hochgradig selbstgefährdende Menschen eine Situation, in der sie ihrer Bewegungsmöglichkeiten beraubt und nicht selten über längere Zeiträume sich selbst überlassen sind?

• Welcher Personalmehrbedarf ergäbe sich, wenn jedem fixierten Patienten - wie in den Pionierjahren der Sozialpsychiatrie üblich eine Sitzwache zur Seite gestellt würde?

• Welchen therapeutischen Wert hat eine beständige personelle Präsenz?

• In welchem Umfang würden sich Zeiten der Fixierung verkürzen, wenn diese nur bei Präsenz einer Sitzwache erfolgen dürfte?

Es drängt sich auf, dass es zu einer zeitlichen Verkürzung von Zwangsmaßnahmen beiträgt, wenn diese - als "Intensivbehandlungsmaßnahmen" - zu einer auch aus wirtschaftlichen Gründen knappen Ressource würden. Unter den belastenden Bedingungen des klinischen Alltags sind Situationen kaum zu vermeiden, in denen ein fixierter Patient länger in der Beschränkung bleibt, weil andere Aufgaben und Patientenanliegen die Mitarbeiter in Beschlag nehmen.

Nicht zuzustimmen ist der Fraktion der FDP in der Einschätzung, dass die Realisierung ihrer Gesetzesinitiative keinerlei finanzielle Auswirkungen hätte. Im Landeskrankenhaus Lüneburg ist man aktuell bemüht, die Begleitung jedes fixierten Patienten durch eine Sitzwache sicherzustellen. Insbesondere im Nachtdienst geht man von einem personellen Mehrbedarf aus. Eine Erweiterung des Stellenplans um 4,5 Vollzeitstellen wird angestrebt.


Empfehlungen

Die RGSP kommt abschließend zu folgenden Empfehlungen:

Am Ziel, fixierte Patienten nicht per Video zu überwachen, sondern individuelle Zuwendung und Präsenz sicherzustellen, ist festzuhalten.

Verzichtet werden kann auf eine "Sitzwache", wenn Patienten deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie ihnen unangenehm ist, etwa weil sie sie als bedrohlich oder belästigend erleben.

Wir empfehlen eine differenzierte Erhebung der entsprechenden Praxis in einigen Kliniken und über den Zeitraum von einem Jahr. Einbezogen werden sollten Kliniken, die auf eine Videoüberwachung verzichten und für fixierte Patienten Sitzwachen organisieren. Die Evaluation der Praxis muss vor allem auch die zeitliche Dimension von Zwangsmaßnahmen berücksichtigen. Die RGSP bietet an, bei der Vorbereitung und Auswertung einer solchen Studie beratend mitzuwirken.

In einem Übergangszeitraum sollte sichergestellt sein, dass videoüberwachte Patienten mindestens halbstündlich von Mitarbeitern persönlich aufgesucht und - falls nicht schlafend angetroffen - auf ihr Befinden und ihre Bedürfnisse angesprochen werden.

Grundsätzlich muss für verantwortliche und erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Pflegedienstes jederzeit eine Möglichkeit bestehen, die Fixierung oder Absonderung eines Patienten aufzuheben. Es darf nicht sein, dass auch diese Entscheidung von einer ärztlichen Anordnung abhängig gemacht wird. In der Praxis kann dies heißen, dass ein Patient wiederholt vertröstet und gebeten wird, abzuwarten, bis der verantwortliche Arzt Zeit findet. Der erhebliche Eingriff in Grundrechte muss umgehend und unbürokratisch beendet werden können.


Anmerkungen:

(1) Internet: www.rgsp.de
(2) Bericht des MAGS vom 5.6.2009.
(3) Beatrice Frajo-Apor; Maria Stippler; Ullrich Meise (2011): Auswertung von 14 Leitfadeninterviews mit psychiatrischen Patienten über ihre Erfahrungen mit mechanischer Fixierung. In: Psychiatrische Praxis, DOI: 10.1055/s-0030-1266138.



NACHTRAG
der Redaktion Schattenblick vom 22. November 2011

Am 16. November 2011 wurde in der Plenarsitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN, FDP und DIE LINKE gegen die Stimmen der CDU-Fraktion das Gesetz zur Abschaffung der Videoüberwachung von zwangsweise untergebrachten Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie verabschiedet:

Das Gesetz, vorgelegt von der FDP-Fraktion, wendet sich gegen den Einsatz der Videoüberwachung von zwangsweise untergebrachten psychisch Kranken. Therapeutische Gründe für den Einsatz der Videoüberwachung seien aus fachlicher Sicht zu bezweifeln. Vorrang müsse die persönliche Beobachtung und Betreuung zwangsweise untergebrachter psychisch Kranker haben. Deshalb heißt es in dem Gesetz nach der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit, Soziales und Integration: "Eine Beobachtung durch Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen sowie zum Abhören und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes ist verboten. Eine Beobachtung im Rahmen besonderer Sicherungsmaßnahmen darf ausschließlich durch den Einsatz von Personal erfolgen."

Quelle:
http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_II/II.1/Pressemitteilungen-Informationen-Aufmacher/Pressemitteilungen-Informationen/Pressemitteilungen/2011/11/1611_verabschiedete_Gesetze.jsp


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011, Seite 47 - 49
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011