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VORTRAG/098: Empowerment-Strategien zur Entwicklung von Hilfestrukturen für psychisch erkrankte Menschen (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 164 - Heft 02/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Gegen Resignation und Stillstand - Empowerment-Strategien zur Entwicklung von Hilfestrukturen für Menschen mit einer psychischen Erkrankung

Von Henning Daßler


Ausgehend von den ungelösten Problemen der Psychiatriereform benennt der Beitrag Maßstäbe psychiatrischer Versorgungsqualität. Mittels des Konzepts der »Sozialen Innovation« werden hemmende Faktoren und Empowerment-Strategien zur Entwicklung von Hilfestrukturen für psychisch erkrankte Menschen beschrieben.


Einleitung

Als ich die Anfrage für meinen Vortrag erhielt (1), hat mich das aus zwei Gründen sehr gefreut. Zum einen, weil ich in Sachsen-Anhalt in einer für mich wichtigen biografischen Phase viele Erfahrungen in der Sozialpsychiatrie und Behindertenhilfe sammeln durfte. Zum anderen ist es auch ein wichtiges Signal für die Sozialpsychiatrie in diesem Bundesland, dass die diesjährige Jahrestagung der DGSP nach langer Zeit wieder in Magdeburg stattfindet. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Entwicklung der gemeindepsychiatrischen Versorgung hier seit der Wiedervereinigung in mancherlei Hinsicht nicht optimal verlaufen ist.

Frau Dr. Theren, Vertreterin des hiesigen Sozialministeriums, hat in ihrem Grußwort wichtige Entwicklungen in Aussicht gestellt: Die Novellierung des PsychKG Sachsen-Anhalt und die nach 20 Jahren längst überfällige Wiederaufnahme der Landespsychiatrieplanung bilden unverzichtbare Voraussetzungen, um den Anschluss an bundesweite Entwicklungen wiederzugewinnen und veränderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen zu können.

Der Titel meines Beitrages verweist auf die Folgen einer schwierigen Versorgungssituation und stagnierenden Entwicklung für die Menschen, die als Betroffene, Angehörige und Profis von gemeindepsychiatrischen Hilfen abhängig bzw. für sie verantwortlich sind. Inhaltlich möchte ich mich damit auseinandersetzen, wie Maßstäbe psychiatrischer Versorgungsqualität aus heutiger Sicht beschrieben werden können, welche Faktoren sich innovationshemmend auswirken, und ich möchte Hinweise geben, wie Prozesse der (Selbst-)»Ermächtigung« wirken und wie ihnen begegnet werden kann.


Ungleiche Lebensverhältnisse und Versorgungssituation

Unterschiedliche Versorgungsbedingungen zeigen sich quantitativ, so z.B. in der Dichte der fachärztlichen Versorgung, der Höhe der für die gemeindepsychiatrische Versorgung bereitgestellten finanziellen Mittel oder den geltenden Personalschlüsseln in Einrichtungen. Qualitative Unterschiede bestehen z.B. hinsichtlich der Differenziertheit, Vernetzung und Kooperation von regionalen Versorgungsstrukturen, insbesondere auch bezüglich der Frage der Berücksichtigung und Einbeziehung von Betroffenen und Angehörigen und bei der Herausbildung trialogischer Arbeitsweisen. In soziokultureller Hinsicht zeigen sich regionale Unterschiede in Bezug auf die Akzeptanz, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Betroffenen. In sozial- und gesundheitspolitischer Perspektive sehen wir einen unterschiedlichen Stellenwert des Themas der psychiatrischen Versorgung im regionalen politischen Diskurs.

Die Einflussfaktoren auf diese Aspekte sind nicht immer einfach zu bestimmen und auch vielfältig. Einfache Trennlinien (»alte« vs. »neue« Bundesländer, »arme« vs. »reiche« Regionen, städtischer vs. ländlicher Raum) sind hier wenig sinnvoll.

Dies wird in der Gemeindepsychiatrie augenfällig, wenn man die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den sogenannten neuen Bundesländern vergleicht. Ich durfte dies erfahren, als ich zu Beginn der 2000er Jahre meinen beruflichen Schwerpunkt von Mecklenburg-Vorpommern nach Sachsen-Anhalt verlegte und erlebte, wie unterschiedlich Psychiatriepolitik und psychiatrische Versorgung angesichts vergleichbarer schwieriger Rahmenbedingungen gestaltet werden kann.


Maßstäbe für die Entwicklung gemeindepsychiatrischer Strukturen

Ausgangspunkt
Die Ziele der Psychiatriereform der vergangenen 25 Jahre wurden maßgeblich durch den Personenzentrierten Ansatz geprägt. Dessen Inhalte hat Peter Kruckenberg prägnant in einem Katalog zusammengefasst, der Anforderungen an das gemeindepsychiatrische Hilfesystem beschreibt:

  1. Flexibilität der Unterstützung
  2. Orientierung an Bedürfnissen und Ressourcen der Betroffenen
  3. Lebensweltorientierung
  4. Integrierte Form der Hilfegewährung
  5. Passgenauigkeit der Hilfen
  6. Größtmögliche Selbstbestimmung
  7. Geringstmöglicher Eingriff in die Lebensverhältnisse
  8. Partnerschaftliche Abstimmung mit dem Betroffenen
  9. Gerechte Lastenverteilung (Betroffene, Umfeld, Gemeinschaft)
  10. Koordination auf kommunaler Ebene
  11. Regionale Einbindung

(Gromann 2001)

Instrumente zur Erreichung dieser Ziele wurden in den Empfehlungen der vom Bundesministerium für Gesundheit in den 1990ern eingesetzten Expertenkommission zur Personalbemessung im komplementären Bereich beschrieben:

- Ebene der Erbringung von Hilfen: individuelle, bedarfsbezogene Integrations- und Rehabilitationsplanung unter Mitwirkung der Betroffenen (IBRP), Bestimmung koordinierender Bezugspersonen

- Ebene der Gebietskörperschaft: personenbezogene Hilfeerbringung unter Einbeziehung mehrerer Hilfeanbieter in einem gemeindepsychiatrischen Verbund und Organisation von Hilfeplankonferenzen

- regionalen Steuerung von Ressourcen: regionale Psychiatrieplanung und Kostensteuerung

- Ebene des Sozialrechts: Kooperation von Kostenträgern und Entwicklung von Komplexleistungsprogrammen (z.B. in Form von Psychiatriebudgets)

Für eine entsprechend dieser Ziele und Vorgaben vorgenommene Einschätzung der Qualität regionaler Hilfestrukturen wurden von der Aktion Psychisch Kranke und der BAG Gemeindepsychiatrische Verbünde Kriterien und Instrumente entwickelt (Kunze 2004).

Zwischenbilanz
Heinrich Kunze hat vor einigen Jahren die wichtigsten Stationen der deutschen Psychiatriereform nachgezeichnet und ein kritisches Resümee gezogen (Kunze 2015). Dabei wird deutlich, dass wichtige Leitbegriffe und -gedanken der aktuellen Reform des Behindertenrechts in der Psychiatriereform ihren Ausgangspunkt hatten. Dazu gehört nicht nur der Begriff der »Personenzentrierung«, das Recht der Betroffenen auf Mitsprache und eine Sensibilisierung für die Bedeutung dessen, was wir heute »Sozialraum« nennen, sondern auch die Skepsis gegenüber Stufenmodellen der Rehabilitation und sozialen Eingliederung, wie sie zunächst noch - etwa im Modell der »therapeutischen Kette« - leitend waren.

Im Licht dieser Ansprüche werden die ungelösten Probleme der Psychiatriereform erkennbar, die von Ingmar Steinhart und Günther Wienberg - darin Kunzes Kritik aufgreifend - zusammengefasst werden (Steinhart & Wienberg 2017):

- Im Bereich der stationären Behandlung zeigt sich ein (Wieder-)Anstieg der stationären Krankenhausbetten, ein durch eine verkürzte Behandlungsdauer induzierter Anstieg von Drehtüreffekten, ein ungeplanter Aufwuchs stationärer Kapazitäten im psychosomatischen Bereich und im Maßregelvollzug.

- Bei der ambulanten psychiatrischen Behandlung zeigen sich nachhaltige Probleme einer bedarfsdeckenden Versorgung, ein bundesweit sehr uneinheitliches Leistungsspektrum der psychiatrischen Institutsambulanzen und eine mangelnde Verfügbarkeit wichtiger SGB-V-Leistungen wie ambulante psychiatrische Pflege und ambulante Soziotherapie.

- Der Bereich der Teilhabeleistungen ist durch einen hohen Anteil stationärer Angebote gekennzeichnet. Insbesondere Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf werden häufig gemeindefern versorgt. Eine hohe Zahl psychisch erkrankter Menschen arbeitet in Werkstätten ohne reale Perspektive auf einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt.

- Strukturell weist das gemeindepsychiatrische Hilfesystem noch an vielen Stellen Probleme auf: Der Anspruch auf eine personen- und lebensweltorientierte Hilfe wird nur begrenzt eingelöst; der Grundsatz ambulant vor stationär nur unzureichend umgesetzt. Wahlmöglichkeiten bzgl. der Ausgestaltung der Hilfe sind nur unzureichend vorhanden bzw. durch die Grenzen der Institutionen bestimmt. Fallkoordination und die persönliche Kontinuität der professionellen Bezugspersonen sind verbesserungswürdig. Die wissenschaftliche Evidenz der verfügbaren Angebote ist in Deutschland unzureichend. Gleichzeitig zeigen sich trotz eines quantitativen Ausbaus der Hilfeangebote Lücken in der Versorgung, z.B. im Bereich psychisch erkrankter wohnungsloser Menschen.

Diese Kritikpunkte müssen auch vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen betrachtet werden, die zunehmend auch die bundesdeutschen Maßstäbe der Versorgung beeinflussen. Dabei sind zwei Entwicklungen von maßgeblicher Bedeutung: die Orientierung an internationalen Erkenntnissen der Evidenzforschung, wie sie sich in den Leitlinien »Psychosoziale Therapien« der DGPPN ausdrückt und die Konkretisierung menschenrechtlicher Ansprüche von Menschen mit Behinderungen durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die u.a. im aktuellen Bundesteilhabegesetz ihren Niederschlag gefunden hat. Beide Entwicklungsstränge beeinflussen maßgeblich aktuelle Reformansätze in der Gemeindepsychiatrie.

Im Bereich der psychiatrischen Krankenversorgung zielen einige dieser Reformansätze auf einen Abbau der genannten Defizite und eine stärker ambulant ausgerichtete Form der Versorgung. Zu nennen sind hier die seit einigen Jahren in verschiedenen Modellen umgesetzte sektorenübergreifende Integrierte Versorgung (§ 140a SGB V), die Modellvorhaben für eine sektorenübergreifende Leistungserbringung nach 64b SGB V und die stationsäquivalente Behandlung nach dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG). Ohne auf diese Modelle hier ausführlich eingehen zu können, ist der Hinweis notwendig, dass sie neben wichtigen Verbesserungen in Richtung einer stärker ambulant ausgerichteten psychiatrischen Versorgung auch noch zu klärende Fragen aufwerfen. Diese betreffen insbesondere die Einbeziehung schwer erkrankter Betroffener, die Gefahr einer weiteren Zersplitterung der Versorgungslandschaft und die unzureichende Vernetzung mit Teilhabeleistungen im Bereich der Eingliederungshilfe.

Für den Bereich der Teilhabeleistungen stärkt das Bundesteilhabegesetz die Betroffenenorientierung durch weitgehende Vorgaben für die Beteiligung von Menschen mit Behinderung an der Planung und Gestaltung der Hilfen. Offene Fragen und Kritik aus gemeindepsychiatrischer Perspektive beziehen sich auf den Ausschluss der Leistungserbringer aus dem Prozess der Gesamtplanung (§ 117 SGB IX), die Änderung der Zugangskriterien zur Eingliederungshilfe (§ 99 SGB IX) und den neuen Begriff der Assistenzleistungen (§ 78 SGB IX). Hier sind die weiteren Entwicklungen abzuwarten. Insbesondere die Gestaltung der Landesrahmenverträge nach § 131 SGB IX wird hier noch wesentlich die gemeindepsychiatrische Versorgung beeinflussen.


Personenzentrierung und das Funktionale Basismodell

Eine aktuelle Vision für ein zeitgemäßes gemeindepsychiatrisches Versorgungsmodell für Menschen mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, das die genannten Entwicklungen berücksichtigt, haben Günther Wienberg und Ingmar Steinhart vorgelegt (Steinhart & Wienberg 2017). Sie plädieren für einen konsequent ambulant ausgerichteten integrierten Ansatz der psychiatrischen Versorgung, der sowohl die Evidenz international erprobter Versorgungsansätze als auch die Anforderungen der UN-BRK berücksichtigt. Die Autoren benennen als wichtigste Eckpunkte:

- Die primäre Ausrichtung am Bedarf von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (mind. zwei Jahre Krankheitsdauer, gewisse Schwere der Beeinträchtigung, z.B. nach der »Global Assessment of Functioning«-Skala)

- Eine konsequente Orientierung an den Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention

- Die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Evidenz (S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien)

- Eine Einbeziehung der Erfahrungen der in Deutschland erprobten krankenhausalternativen Behandlungsmodelle

Das Funktionale Basismodell dient der Beschreibung eines Mindeststandards für eine bedarfsgerechte Versorgung. Das Modell ist funktional ausgerichtet, d.h. Fragen der institutionellen Zuordnung und Finanzierung einzelner Leistungen treten zugunsten einer Betrachtung der zu erfüllenden Aufgaben in den Hintergrund.(2)

Unterschieden werden drei Kernfunktionen: Steuerung, Behandlung / Unterstützung und Erschließung.

Die erste Kernfunktion (Steuerung) differenziert sich in die beiden Teilfunktionen:

- Fallunspezifische Steuerung (Gesundheitsförderung/Prävention, Sozialraumarbeit)

- Fallspezifische Steuerung (niedrigschwellige Beratung)

Die zweite Kernfunktion (multiprofessionelle und mobile Behandlung und Unterstützung) beinhaltet die wichtigsten der in der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien beschriebenen international bewährten ambulanten Versorgungsmodelle sowie eine multiprofessionelle Teilhabeunterstützung und Fallsteuerung durch eine koordinierende Bezugsperson. Für die organisatorische Umsetzung werden ambulante mobile multiprofessionelle Teams vorgeschlagen, die je für die Bereiche Behandlung und Teilhabeunterstützung zuständig sind.

Die dritte Kernfunktion (Erschließung) bezieht sich wiederum auf die Bereiche

- Behandlung (Peer-Unterstützung, Psychotherapie, krankenhausalternative Rückzugsorte, Krankenhausbehandlung) und

- Rehabilitation/Teilhabe (medizinische und berufliche Reha, Arbeit und Beschäftigung, Wohnen, Kontakt und Begegnung, Kultur und Freizeit, Politik).

Auch wenn sich hinsichtlich der Umsetzung und konkreten Ausgestaltung noch viele Fragen stellen, stellt das Modell einen begrüßenswerten Ansatz dar, da es alle aktuellen und relevanten Entwicklungen und Aspekte der psychiatrischen Versorgung aufgreift und in einer Gesamtperspektive zu integrieren versucht. Damit ist es gelungen, ein positives Leitbild zu beschreiben, das wesentliche Rahmenbedingungen der Versorgung berücksichtigt, an Leitgedanken der Psychiatriereform anknüpft und für die sozialpolitische und fachliche Diskussion eine wichtige Orientierung bieten kann.


Psychiatriereform als soziale Innovation: Hemmnisse bei Reorganisationsprozessen

Dass der Versuch, soziale Innovation durch sozialrechtliche Reformen zu bewirken, nicht generell von Erfolg belohnt wird, ist eine leidvolle Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte. Als Beispiele genannt seien die ambulante Soziotherapie (§ 37a SGB V), die Allgemeinen Servicestellen nach § 22 SGB IX a.F. und das Persönliche Budget (§ 17 SGB IX a.F.). Mittlerweile hat sich das Persönliche Budget auf einem niedrigen Niveau etabliert, auf dem es zu stagnieren scheint. Von einem »Systemwechsel« durch das Persönliche Budget spricht niemand mehr.

Im Vergleich dazu lässt sich sagen, dass durch die Reformen im Bereich des SGB V in der gemeindepsychiatrischen Versorgung doch einiges in Bewegung geraten ist. Hier lassen sich - z.B. durch die Integrierte Versorgung - wesentliche Neuerungen und Verbesserungen für psychisch erkrankte Menschen erkennen.

Eine wichtige Frage ist, unter welchen Voraussetzungen es gelingt, neu entstandene Handlungsoptionen für eine im Sinne der Psychiatriereform fruchtbare Entwicklung zu nutzen. Um diese Frage zu erörtern, erscheint ein Rückgriff auf theoretische Beiträge zur Frage der »Sozialen Innovation« geeignet, ein Konzept, das seit einigen Jahren auch in der Sozialen Arbeit diskutiert wird.

Der Begriff der Innovation entstammt eigentlich der Ökonomie und wurde dort insbesondere durch Joseph Schumpeter bekannt (Schumpeter 1912). Dieser hatte Innovation als einen Prozess »kreativer Zerstörung« beschrieben, in dem eine Planung, Erzeugung und Durchsetzung neuer Verfahren der Produktion von Gütern, der Erschließung von Absatzmärkten oder der Gestaltung von Organisationsprozessen erfolgt.

Als Element Sozialer Arbeit hat Wolf Rainer Wendt den Begriff aufgegriffen und als Produkt- und Prozessinnovation thematisiert (Wendt 2005). Er nimmt die »Soziale Innovation« in den Blick, die als eine spezielle Form gesellschaftlichen Wandels bzw. gesellschaftlicher Modernisierung verstanden werden kann (Gillwald 2000). Dabei ist der Begriff in der Regel positiv konnotiert, d.h., es wird davon ausgegangen, dass soziale Innovation mit dem Erreichen positiv bewerteter Ziele einhergeht.

Sozialrechtliche Reformen werden häufig mit dem Ziel sozialer Innovation gerechtfertigt. Inwieweit dies wirklich gelingt, ist oft nur nachträglich zu beurteilen und wird nicht selten kontrovers diskutiert. Dies zeigt sehr anschaulich die aktuelle Debatte um die sogenannte Hartz-IV-Reform. Die für die Gemeindepsychiatrie relevanten Beispiele der ambulanten Soziotherapie und des Persönlichen Budgets habe ich bereits genannt. An ihnen lässt sich aufzeigen, dass Innovationspotenziale durch gegenläufige Interessenlagen an ihrer Entfaltung gehindert werden können, wodurch gesetzliche Neuerungen nicht zu den intendierten sozialen Innovationen führen.

Wenn Innovationen ohne strukturelle und organisatorische Veränderungen nicht zu haben sind, stellt sich die Frage, was in Bezug auf diese Anpassungen fördernd und hemmend wirkt. Hier liefern Modelle, die sich mit der Wirkung von Widerständen und Pfadabhängigkeiten bei der organisatorischen Neuausrichtung von Unternehmen und Organisationen beschäftigen, gute Beschreibungen.

Mit dem Begriff der Pfadabhängigkeit wird in der Ökonomie versucht zu erklären, warum sich optimale Lösungen nicht immer auf dem Markt durchsetzen. Pfadabhängigkeiten resultieren aus positiven Rückkoppelungseffekten, welche die Wirkung einmal getroffener Entscheidungen in die Zukunft perpetuieren (Schäcke 2006).

Pfadabhängigkeiten helfen den historischen Hintergrund gewachsener organisatorischer Strukturen zu verstehen. Pfadabhängige Prozesse bieten eine Möglichkeit, deren Inflexibilität und Ineffizienz zu erklären. Dabei zeigen sie die Tendenz, sich im Zuge ihrer Anwendung selbst zu verstärken und sogenannte Lock-in-Effekte auszubilden, die Veränderungen erschweren (ebd.).

Wie sich dies bei der Gestaltung von Versorgungssystemen für Menschen mit Behinderungen in einer Region auswirken kann, illustriert sehr gut die Dissertation von Brigitte McManama, die in den 1990er Jahren als Enthospitalisierungsbeauftragte für das Sozialministerium des Landes Sachsen-Anhalt gearbeitet hat. Ihre Arbeit beschreibt detailliert, wie frühe politische Weichenstellungen langfristig die Versorgungssituation in diesem Bundesland geprägt haben (McManama 2010).

Der Wirtschaftswissenschaftler Mirco Schäcke hat eine Reihe von »Reproduktionsmechanismen« identifiziert, die als sich selbst verstärkende Rückkoppelungen Innovationen behindern können. Veränderungsstrategien (»Change Management«) sollten diese Reproduktionsmechanismen berücksichtigen und gezielt bei ihnen ansetzen.

Koordinationseffekte
Koordinationseffekte beschreiben die Vermeidung von Innovation aufgrund etablierter Kooperations- und Verhaltensmuster. So werden z.B. stationäre Angebote durch gefestigte Akquise-Beziehungen und Entlastungseffekte für »Umsatzmittler« (z.B. gesetzliche Betreuer und Verwaltungen) fortlaufend gestärkt, was u.a. erklärt, warum auch in Regionen mit einem Überangebot stationärer Einrichtungen Heime zum Teil lange Wartelisten haben. Als Koordinationseffekte werden aber auch etablierte Konflikte - z.B. zwischen Leistungsanbietern und Kostenträgern - beschrieben, die zu einer Kultur des Misstrauens führen, in der jeder Veränderungsschritt einer Seite durch die Angst vor Übervorteilung vermieden wird. Veränderungsansätze zielen auf eine Identifizierung und das Aufbrechen etablierter Verhaltensmuster. Eingefahrene Konfliktkonstellationen bedürfen einer Entwicklung vertrauensbildender Normen, die sich in der Regel nur über Vertrauensvorschüsse erreichen lassen.

Investitionseffekte
Einmal getätigte Investitionen können im hohen Maße das zukünftige Handeln von Organisationen beeinflussen. Dies wird in der psychiatrischen Versorgung besonders in der Bedeutung von Immobilien deutlich. Nach wie vor bilden (teil-)stationäre Angebote für viele Akteure das wirtschaftliche Rückgrat. Eine sinkende Nachfrage führt in der Regel eher zu dem Bemühen, über eine Verbesserung von Akquise-Strategien Belegung zu sichern als zu der Entscheidung, Heimplätze abzubauen. Eine Vermeidung von »Sunk Costs« ist dabei das vorherrschende Ziel.

Für eine erfolgreiche Veränderung müssen Entscheidungen bzgl. der Kosten für einen Systemwechsel getroffen werden. Beispiele dafür sind die 2006 abgeschlossene Rahmenzielvereinbarung zur Ambulantisierung zwischen den Landschaftsverbänden und den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen und der Rückbau von Immobilien im Rahmen der Neuausrichtung der Stiftung Alsterdorf in Hamburg.

Machteffekte
Asymmetrische Machtkonstellationen werden durch die Praxis der Machtausübung noch verstärkt und können so zunehmend zum Innovationshemmnis werden. Dabei ist es bezogen auf gemeindepsychiatrische Versorgungsstrukturen grundsätzlich gleichgültig, ob Machtverhältnisse zwischen Leistungsanbietern und Kostenträgern, innerhalb von Verbänden oder innerhalb von Organisationen wie Krankenhäusern, Trägern der Behindertenhilfe oder Verwaltungen betrachtet werden. Asymmetrische Machtkonstellationen beinhalten die Tendenz, Innovationen zu behindern und müssen in Bezug auf ihre Innovationsfähigkeit kritisch betrachtet werden. Dabei bilden sich unter Umständen auch Machtbündnisse über Interessengrenzen hinweg. So ist bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes mancherorts ein bei Leistungsanbietern und Leistungsträgern gleichermaßen vorhandenes Bedürfnis zu beobachten, bestehende Strukturen möglichst unangetastet zu lassen und Leitbegriffe wie Personenzentrierung und Sozialraumeinbindung weitgehend systemtreu auszudeuten.

Eine Einflussnahme auf innovationshemmende Machtverhältnisse verlangt eine aktive Lobbyarbeit, wie sie in den Organisationen der Selbstvertretung und in den Fachverbänden erfolgen muss. Für die Durchsetzung von Innovationen ist auch eine Bildung von Interessenkoalitionen entscheidend, die über die Grenzen von Organisationen und ökonomischen Eigeninteressen hinweg Bündnisse von Fachlichkeit etabliert. In Bezug auf die Gemeindepsychiatrie geht es vor allem darum, die Ansprüche und Bedarfe der Betroffenen und die Leitziele der Psychiatriereform offensiv zu vertreten und ihre Berücksichtigung sozialpolitisch einzufordern. Darüber hinaus ist aber auch darauf zu achten, dass gemeindepsychiatrische Belange nicht Opfer von administrativen Fehlentscheidungen und Machtkompromissen in Organisationen und Verbänden werden.

Lerneffekte
Etablierte mentale Modelle können die Wahrnehmung von Akteuren verengen und Verhaltensänderungen behindern. Lerneffekte wirken auf der Ebene von Individuen und Gruppen und sind ein Innovationshemmnis in Organisationen, dem in der Regel versucht wird, durch Maßnahmen der Weiterbildung und Organisations- bzw. Personalentwicklung zu begegnen. Ihr Einfluss wird aus meiner Sicht weitgehend unterschätzt. Innovationsmodelle, die nicht in der Lage sind, der Ebene alltäglicher Versorgungswirklichkeit zu entsprechen und diesbezügliche Herausforderungen zu beantworten, sind daher oft zum Scheitern verurteilt. Dies zeigen u.a. praktische Erfahrungen bei der Einführung des Persönlichen Budgets oder dem Einsatz von Genesungsbegleitern. Daher ist es wichtig, Innovationen mit Mitarbeitenden in Einrichtungen und Verwaltungen, Betroffenen und Angehörigen zu diskutieren und gemeinsam umzusetzen.

Komplementaritätseffekte
Komplementaritätseffekte beschreiben die Auswirkung von Merkmalen der Organisationsstruktur (Zentralisierung, Formalisierung, Komplexität) auf Innovationsprozesse. Bekannt sind die Schwierigkeiten großer Organisationen, sich auf Veränderungen einzustellen und Innovationen umzusetzen. Im Kontext der Eingliederungshilfe spiegeln z.B. die unterschiedlichen Ansätze einer Regelung der Zuständigkeit zwischen örtlichen und überörtlichen Trägern der Sozialhilfe auch den Versuch, über eine Umorganisation Innovation zu befördern. In Bereich der Leistungsanbieter erscheinen kleine flexible Organisationen oft innovationsfähiger. Andererseits fehlen ihnen oft auch Ressourcen für eine innovative »Produktentwicklung«, da keine Möglichkeiten einer Quersubventionierung bestehen.


Aspekte von Empowerment

Unzulänglichkeiten der psychiatrischen Versorgung und das Ausbleiben von Innovation werden im gemeindepsychiatrischen Alltag von den Beteiligten, d.h. Betroffenen, Angehörigen und professionell Tätigen, auch als »Entmächtigung« erlebt, d.h. als ein fundamentaler Mangel an Selbstwirksamkeit in Bezug auf die Beeinflussbarkeit der eigenen Lebens- und Arbeitssituation. Dabei kommen die beschriebenen innovationshemmenden Mechanismen zum Tragen, insbesondere auch dann, wenn sie mit einem Mangel an Ressourcen von Mitteln und Zeit einhergehen. Für Betroffene und Angehörige kann sich dies in einer Unflexibilität von Verwaltungen oder Leistungsanbietern äußern oder in dem Erleben, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Problemen nicht hinreichend wahrgenommen zu werden. Mitarbeitende machen unter Umständen die Erfahrung, den eigenen beruflichen Auftrag nur unzureichend erfüllen zu können und den eigenen fachlichen Ansprüchen nicht zu genügen. Dies kann mit dem Eindruck einhergehen, sich in als sinnentleert erlebten Verwaltungstätigkeiten zu erschöpfen. Leitungskräfte erleben ihren Alltag nicht selten dominiert durch einen wirtschaftlichen Überlebenskampf, in dem fachliche Gesichtspunkte zurückstehen müssen und Ressourcen für die Mitarbeit in fachlichen Netzwerken und für die Entwicklung von Konzepten fehlen. Damit entsteht auch der Eindruck, sich zunehmend von einem Fachdiskurs zu entfremden bzw. von wichtigen Informationen und Entwicklungen abgekoppelt zu sein. Gleichzeitig wächst mit der Entwicklung fachlicher Standards und der Veränderung rechtlicher Rahmenbedingungen ein Innovationsdruck, der beantwortet werden muss.

Aspekte von Entmächtigung lassen sich vielerorts in unterschiedlichem Ausmaß beobachten; in besonderer Ausprägung habe ich sie während meiner aktiven Zeit in Sachsen-Anhalt erlebt. Sie bestimmten auch danach viele Gespräche, die ich mit Menschen führen konnte, die sich hier für gemeindepsychiatrische Belange engagierten. Damals wie heute stellt sich die Frage nach Perspektiven für eine Bewältigung des Erlebens von Machtlosigkeit in seinen unterschiedlichen Facetten.

Aus meiner Sicht kann es gerade für gemeindepsychiatrische Profis hilfreich sein, sich an den Empowerment-Strategien zu orientieren, die sich bei Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen bewährt haben. Diese sind auch deswegen gute Vorbilder, weil sie im Vergleich zu Profis noch unmittelbarer und folgenreicher mit Missständen konfrontiert sind und diesen noch weniger ausweichen können. Wolfgang Stark hat in seinem Phasenmodell zur Beschreibung von Empowerment-Prozessen darauf hingewiesen, dass Betroffene den Beginn ihrer Mobilisierung häufig als Folge eines heilsamen Schocks und einer Entmystifizierung von Experten und Autoritäten beschreiben (Stark 1996). Damit nehmen Ängste ab, und es entwickelt sich die Fähigkeit und Motivation zur Artikulation eigener Interessen und zur Selbstorganisation. Mit dem Engagement wächst die Einsicht in politische Zusammenhänge und die sozialen Rollen der Akteure. Ein Ergebnis von Empowerment ist eine Stabilisierung der inneren Überzeugung und eine Fähigkeit zum langfristigen Engagement, die Stark unter Verweis auf den chilenischen Autoren Antonio Skármeta als Haltung einer »brennenden Geduld« beschreibt.

Empowerment-Prozessen können auch Gesundheitseffekte zugeschrieben werden. Bekanntermaßen hat Aaron Antonovsky in seinen Kohärenzkriterien für salutogenetische Entwicklungen das Gefühl der Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit und das Erleben von Sinnhaftigkeit als wesentliche Elemente von Gesundheit herausgestellt (Antonovsky 1997). Diese Faktoren werden durch theoretische Analyse, fachliche Debatten, Lobbystrategien und die Bildung von Netzwerken genährt. Daher erscheint es angesichts von schwierigen Ausgangsbedingungen in der psychiatrischen Versorgung wichtig und notwendig, Entwicklungsfragen zu erkennen, tragfähige Zielvorstellungen zu entwickeln und Innovationshemmnisse zu benennen. Eine an den Bedürfnissen der Praxis orientierte wissenschaftliche und theoretische Auseinandersetzung vermittelt dabei eine heilsame emotionale Distanz, liefert aber auch die argumentative Grundlage, die zusammen mit »brennender Geduld« erforderlich ist, um Veränderungen herbeizuführen.


Prof. Dr. Henning Daßler, Dipl.-Pädagoge, Hochschule Fulda


Anmerkungen

(1) Der Beitrag basiert auf dem vom Autor gehaltenen Vortrag auf der DGSP-Jahrestagung 2018 in Magdeburg.

(2) Das Funktionale Basismodell als Grafik siehe: Steinhart & Wienberg (2016), S. 66, auch veröffentlicht in: Soziale Psychiatrie, 01/2019, S. 5


Literatur

Antonovsky, Aaron (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag

Gillwald, Katrin (2000) Konzepte sozialer Innovation (No. P 00-519). WZB Discussion Paper

Gromann, Petra (2001) Integrierte Behandlungs- und Reha-Planung: ein Handbuch zur Umsetzung des IBRP. Köln: Psychiatrie-Verlag

Kunze, Heinrich (2015) Psychisch krank in Deutschland: Plädoyer für ein zeitgemäßes Versorgungssystem. Stuttgart: Kohlhammer

Kunze, Heinrich (2004) Personenzentrierte Betreuungsansätze in einem integrierten Hilfesystem. In: Rössler, W. (Hrsg.) Psychiatrische Rehabilitation. Berlin, Heidelberg: Springer

McManama, Brigitte (2010) Chancen zur Enthospitalisierung und De-Institutionalisierung für Menschen mit geistigen Behinderungen? Entflechtung der psychiatrischen Landeskrankenhäuser und deren Folgen für die Behindertenhilfe im Land Sachsen-Anhalt. München: GRIN Verlag

Schäcke, Mirco (2006) Pfadabhängigkeit in Organisationen: Ursache für Widerstände bei Reorganisationsprojekten. Berlin: Duncker & Humblot

Schumpeter, Joseph (1912) Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Leipzig: Dunker & Humblot

Stark, Wolfgang (1996) Empowerment: neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis. Freiburg i. Br.: Lambertus

Steinhart, Ingmar; Wienberg, Günther (2017) Rundum ambulant. Funktionales Basismodell psychiatrischer Versorgung in der Gemeinde. Köln: Psychiatrie Verlag

Steinhart, Ingmar; Wienberg, Günther (2016) Das Funktionale Basismodell für die gemeindepsychiatrische Versorgung schwer psychisch kranker Menschen - Mindeststandard für Behandlung und Teilhabe. In: Psychiatrische Praxis, 43(02), 65-68

Wendt, Wolf Rainer (Hrsg.) (2005) Innovation in der sozialen Praxis. Baden-Baden: Nomos

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 164 - Heft 02/19, 2019, Seite 4 - 9
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und der
Redaktion
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Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2019

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