Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2009
Immer mehr Menschen werden psychisch krank
Von Werner Loosen
Die Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen geschieht in Modellregionen abgestimmt und folgt dem Prinzip ambulant vor stationär. Zugleich streben die Krankenkassen an, die Kosten zu begrenzen. Mit Erfolg, wie die bisherigen Ergebnisse belegen. Jetzt wollen sich weitere Kreise dem Psychiatriemodell anschließen.
Im Jahr 2000 gab es in Schleswig-Holstein für die Behandlung von Menschen mit psychosomatischen und psychischen Erkrankungen 2.033 vollstationäre Betten und 256 tagesklinische Therapieplätze. 2007 waren es bereits 2.307 Betten und 468 Plätze in Tageskliniken, eine Zunahme von mehr als 20 Prozent. Diese Zahlen nennt der Verband der Ersatzkassen (vdek) in Kiel. Und: Bei den durch Alkohol bedingte Störungen gibt es im stationären Bereich zwischen 2004 und 2007 eine Steigerungsrate von mehr als 25 Prozent. Auch insgesamt ist eine Zunahme psychischer und Verhaltensstörungen unter den stationären Patienten zu verzeichnen.
Der vdek stellt in den Jahren zwischen 2004 und 2007 in
Schleswig-Holstein eine Steigerung bei Fällen von Depression von 31
Prozent fest.
Hohe Ausgaben
Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind beträchtlich, wie wiederum die Krankenkassen festgestellt haben: Noch im Jahr 1990 wurden allein im stationären Bereich für die Behandlung von psychiatrischen und psychosomatisch erkrankten Patienten jährlich etwa 80 Millionen Euro ausgegeben. Im Jahr 2000 waren es 185 Millionen Euro und 2006 bereits 225 Millionen Euro.
Angesichts einer solchen Ausgangsposition musste eine Lösung gefunden werden, die zugleich eine qualitativ hochwertige Versorgung der Patienten ermöglicht und die das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V befolgt. "Gesucht wurde eine Lösung", schreibt Oliver Grieve vom vdek Schleswig-Holstein, "die gemeindepsychiatrische Aspekte berücksichtigt, die Behandlungsmöglichkeiten flexibilisiert, das Prinzip ambulant vor stationär sowie die Prävention stärkt, die Kosten begrenzt und den Drehtür-Effekt reduziert." Ein hehres Vorhaben. Wie aber soll es gelingen, alle diese wichtigen Punkte unter einen Hut zu bringen?
Wie das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt im Januarheft dieses Jahres
berichtet hat, ist eine Lösung gefunden worden: das Projekt
"Regionales Psychiatriebudget Kreis Steinburg". Dieses innovative
Finanzierungsmodell deckt die Versorgung im gesamten
Behandlungsspektrum der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
ab. Eine definierte Region übernimmt die Versorgungsverpflichtung und
erhält dafür ein festgelegtes Budget über einen ebenfalls definierten
Zeitraum. In Steinburg stellt die gesetzliche Krankenversicherung
beispielsweise rund sieben Millionen Euro jährlich für fünf Jahre
bereit. Das sind umgerechnet 5.250 Euro für jeden Menschen, der im
Jahr behandelt werden muss. Alle Kassen bezahlen für die komplette
Behandlung eines Patienten und nicht für einzelne, möglicherweise
doppelt erbrachte Leistungen unterschiedlicher Leistungserbringer.
Unnötige Kosten vermeiden die Kliniken jetzt, indem sie sich am
tatsächlichen Bedarf des Patienten orientieren. Es entfällt der
Anreiz, unnötig Betten zu belegen. Oliver Grieve: "Mit dem Regionalen
Psychiatrie-Budget verdienen die Beteiligten an der Gesundheit des
Patienten, nicht an dessen Krankheit. Im Klartext: Je schneller der
Patient gesund ist - also überflüssige Doppelbehandlungen oder
Verweildauern im Krankenhaus abgestellt werden -, desto weniger Geld
wird aus dem Budget ausgegeben und steht zur Verfügung." (Dies darf
selbstverständlich nicht in der so genannten blutigen Entlassung
enden, die der Gesetzgeber verbietet.) Die basale Schieflage wird
begradigt, weil das Versorgungsmodell die komplette Behandlung über
ein Gesamtbudget finanziert. Zuvor haben die Leistungserbringer alle
Leistungen einzeln und nach Dauer mit den Kostenträgern abgerechnet.
Warum Schleswig-Holstein?
Nach Feststellungen von Oliver Grieve kommt die Idee für dieses Modell
nicht zufällig aus Schleswig-Holstein: "Hier herrscht besonderer
Druck. In keinem anderen Bundesland gibt es mehr psychiatrische Betten
pro Einwohner. Der Versorgungsindex pro 100.000 Einwohner liegt in
Schleswig-Holstein mit rund 98 Prozent weit über dem
Bundesdurchschnitt von 75 Prozent." Zugleich seien die Kosten enorm.
Hatten die gesetzlichen Krankenkassen 1990 noch rund 80 Millionen Euro
in die stationäre Psychiatrie investiert, waren es 2006 schon 225
Millionen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl der Fälle von
Psychiatrie und Psychosomatik von 14.000 auf fast 31.000 mehr als
verdoppelt. Nach Ansicht von Oliver Grieve liegt der Fehler im System:
"Flächendeckend sind in Schleswig-Holstein 15 dezentrale
Versorgungseinheiten aufgebaut worden - ohne gleichzeitig Kapazitäten
bzw. Fachklinken vom Markt zu nehmen. So steigt die Bettenzahl von
1.785 im Jahr 1990 auf 2.307 in 2000 und die Zahl der tagesklinischen
Plätze im selben Zeitraum von 30 auf über 400." Daneben sei versäumt
worden, die Abrechnung der psychiatrischen Krankenhausversorgung
analog dem Fallpauschalensystem in der somatischen
Krankenhausabrechnung umzustellen. Stattdessen werde teilweise immer
noch nach Pflegesätzen und einer Vielzahl von Budgets für einzelne
Leistungserbringer abgerechnet: "Die Folge ist, dass sich die
Belegungstage in den Krankenhäusern insgesamt erhöhen. Je länger die
Behandlung dauert, desto mehr kann ein Haus abrechnen."
Bessere Versorgung
Da die Patienten jetzt zielgerichteter behandelt und automatisch durch die einzelnen Versorgungsbereiche gelotst werden, sorgt die neue Vereinbarung auch für eine noch höhere Qualität der medizinischen Versorgung. Die Konzentration liegt nun auf frühzeitigem Eingreifen bei den ersten Symptomen; zugleich werden die medizinischen Leistungen noch individueller auf den einzelnen Patienten abgestimmt - so können Krankheitsverläufe gemildert und Rückfälle vermieden werden. Vorteilhaft ist für die Patienten zudem, dass die Ärzte die kranken Menschen verstärkt durchgehend stationär, teilstationär und auch ambulant behandeln können. Damit entfällt der Zwang zur stationären Aufnahme, der Patient kann in seinem gewohnten Umfeld bleiben, trotzdem wird er bestens versorgt. Oliver Grieve drückt es so aus: "Mit dem Gesamtbudget rückt der Mensch mit seinem Gesundheitsziel in den Vordergrund und nicht der Fall mit seinen diversen Abrechnungsoptionen."
Trotz Einsparungen teilweise unnötig ausgegebener Geldmittel wird die Versorgung tatsächlich besser - das belegt auch die wissenschaftliche Begleitforschung durch die Universität Leipzig. Und: Die aufwändigen Kontrollen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen entfallen. Es verwundert nicht, dass sich inzwischen drei weitere Kreise (Rendsburg-Eckernförde, Dithmarschen und Herzogtum Lauenburg) zum Regionalbudget entschlossen haben. Man darf gespannt sein, wann weitere Regionen in anderen Bundesländern folgen werden.
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Interview
Das Ärzteblatt hat zu diesem Thema mit Prof. Dr. Arno Deister gesprochen. Er ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in Itzehoe.
SHÄ: Wir wissen schon einiges über das Psychiatriebudget, Herr Prof. Deister - wer hat es konzipiert?
Prof. Dr. Arno Deister: Ohne mich in den Vordergrund stellen zu wollen, muss ich sagen, dass ich viele Jahre an diesem Konzept gearbeitet habe, schon Ende der 90er Jahre, und zwar zusammen mit dem Sozialministerium und den Krankenkassen. Das Konzept wurde schließlich akzeptiert, und wir hier in Itzehoe haben 2003 damit begonnen. 2006 kamen Rendsburg/Eckernförde hinzu. Inzwischen macht sich das Land Bremen ernsthaft Gedanken darüber.
SHÄ: Über den Erfolg des Psychiatriebudgets in Steinburg wird bereits gesprochen - wie steht es um die Kliniken, die noch nicht damit arbeiten?
Prof. Dr. Arno Deister: Die Psychiatrie ist ein überaus komplexes Gebiet. In jeder Klinik gibt es eine andere Ausrichtung. Wer aber ähnliche Strukturen hat wie wir, möchte unser Konzept gern übernehmen. Ich höre das immer wieder, wenn ich mit diesem Thema unterwegs bin, inzwischen habe ich mehr als 100 Vorträge dazu gehalten. Die Kliniken überall in Deutschland sind stark interessiert, und jetzt diskutieren auch die Kassen ernsthaft darüber.
SHÄ: Wie wirkt sich dieses Konzept auf Ihre Arbeit aus?
Prof. Dr. Arno Deister: Ganz wichtig: Wir haben gelernt, dass Finanzierungssystem und Versorgungsstrukturen ganz viel miteinander zu tun haben. Und die Versorgungsstruktur hat großen Einfluss auf die Qualität. Mit diesem Budget liegt es ganz an der Klinik selbst, wie ein Patient behandelt wird, wir können individuell entscheiden und sind flexibler. Schon bei der Aufnahme können wir entscheiden, welches Angebot wir dem Patienten machen, stationär, teilstationär, was auch immer. Und wir können ihn beispielsweise probeweise entlassen. In den fünf Jahren, seit wir mit dem Modell arbeiten, haben wir - übers Jahr gerechnet - eine um 25 Prozent kürzere Verweildauer, weil beispielsweise die vollstationäre Behandlung mit anderem kombiniert werden kann. Inhaltlich gibt es ebenfalls Auswirkungen - ich kann etwa bei einem Suchtpatienten frühzeitig auf Rehabilitation setzen. Andererseits müssen die Patienten nicht nach drei Wochen entlassen werden, sie gehen gesünder nach Hause. Wir haben jetzt ein Steuerungsmittel: Wir müssen den jeweiligen Patienten weder zu lange liegen lassen, noch müssen wir ihn entlassen, wenn er noch nicht gesund ist. Wir bekommen einmal im Jahr für diesen Patienten Geld. Qualität entsteht nur da, wo ich als Arzt verantwortlich bin für das Ergebnis. Und nur an diesem Punkt ist für mich Prävention ökonomisch sinnvoll.
SHÄ: Das heißt, Sie sind zufrieden mit diesem Budget?
Prof. Dr. Arno Deister: Ich bin absolut zufrieden! Dieses Budget hat so viele positive Auswirkungen, auch auf die inhaltlichen Strukturen. Wir können uns nicht mehr vorstellen, ohne dieses Modell zu arbeiten. Inzwischen sprechen wir darüber auch mit den niedergelassenen Ärzten, wir möchten sie im kommenden Jahr einbeziehen - und auch damit werden wir dann die ersten sein.
SHÄ: Haben Sie noch Wünsche, obwohl Sie so zufrieden sind?
Prof. Dr. Arno Deister: Ich wünsche mir weitere Unterstützung seitens der Kassen und der Kassenärztlichen Vereinigung. Wir wünschen uns, dass uns die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Krankenkassen erhalten bleibt - das ist ja nicht selbstverständlich!
SHÄ: Danke, Herr Prof. Deister, für diese Ergänzungen.
Werner Loosen
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2009 im
Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200903/h090304a.htm
Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildungen der Originalpublikation:
- vdek-Sprecher Oliver Grieve: Regionales Psychiatriebudget hilft,
Ausgaben zu begrenzen.
- Prof. Dr. Arno Deister verzeichnet hohes Interesse am Modell des
regionalen Psychiatriebudgets.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt März 2009
62. Jahrgang, Seite 17 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Karl-Werner Ratschko (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2009
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