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ARTIKEL/502: Pflegenottelefon - Über Suizid zu sprechen ist kein Risiko, sondern Therapeutikum (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2012

Pflegenottelefon
Über Suizid zu sprechen ist kein Risiko, sondern Therapeutikum

Von Jörg Feldner


Lebensmüdigkeit wird häufig nicht erkannt. Ärzte sollten Patienten bei Verdacht direkt ansprechen. Depression nicht als Lebensnormalität ansehen.


26 Prozent der Deutschen sind älter als 60 Jahre. Auf diese Altersgruppe entfallen jedoch 40 Prozent aller Selbsttötungen. Warum ist das so? Diese Frage stellte das Pflegenottelefon bei einer Veranstaltung in Neumünster, Antworten kamen von Dr. Claus Wächtler, Chefarzt der Gerontopsychiatrischen Abteilung im Zentrum für Ältere der Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll/Hamburg.

"Lieber tot als pflegebedürftig?" war der Titel der Veranstaltung, und Wächtler ging vor seinen durchweg älteren Zuhörern zunächst auf die besorgte Frage ein: Ist das nicht ein riskantes Thema für die dunkle Jahreszeit? Lädt man damit nicht direkt zur Nachahmung ein? Seine klare Antwort: Nein, über den Gedanken an Suizid zu sprechen "ist keine Gefahr, sondern ein Therapeutikum". Gerade der Mangel an derart offener Ansprache durch Ärzte und Pflegekräfte sei einer der Gründe für den bekannten Anstieg der Suizidalität mit dem Alter ("Junge Menschen versuchen es, alte tun es"). Erfreulicherweise geht die Zahl der Selbsttötungen seit 20 Jahren zurück; bei den bis 64-Jährigen von rund 14.000 (1991) auf rund 10.000 (2010); bei den über 64-Jährigen ist der Rückgang allerdings geringer, von 4.300 auf 3.500. Männer setzen ihrem Leben viel häufiger selbst ein Ende als Frauen. Die häufigste Tötungsart ist Erhängen, gefolgt von Vergiftung, Schusswaffengebrauch, Sturz in die Tiefe und sich vor ein Fahrzeug werfen.

Soweit die Zahlen. Aber wie entsteht die Suizidneigung? Wächtler nannte an erster Stelle die Depression, vor allem die nicht erkannte, vor allem bei Männern. An zweiter Stelle träten körperliche Erkrankungen mit Schmerzen und schlechten Heilungsaussichten hinzu; häufige Klagen beträfen auch ein Nachlassen der Sinnesleistungen, besonders der Sehfähigkeit. Ein dritter Faktor seien "life events", zu deutsch Schicksalsschläge: der Verlust des Lebenspartners, das Ende der Berufstätigkeit, Konflikte mit den erwachsenen Kindern oder neu auftretende Erkrankungen. Schließlich spielten noch moderierende Faktoren eine Rolle, also in der Persönlichkeit des Patienten liegende Gründe: Wie geht er mit Konflikten um, wie kann er sie bewältigen? In der Summe können diese Auslöser zu einer suizidalen Krise führen.

Aber wie ist Lebensmüdigkeit sicher zu erkennen? Häufig werde sie eben nicht erkannt, und das, so Wächtler, habe nicht selten mit mangelnder Aufmerksamkeit beim Hausarzt und beim Pflegepersonal zu tun. Wenn der Patient beim Hausarzt sage "Ich mag nicht mehr, ich habe keinen Antrieb mehr", wenn er seine Medikamente nicht nehme, zu wenig esse und trinke, seine äußere Erscheinung vernachlässige - "dann sind das alles indirekte Signale". Und dann müsse der Arzt an eine Depression denken und ganz ungeschminkt fragen: "Denken Sie an Selbsttötung?" 45 Prozent der alten Menschen, die ihr Leben selbst beendet haben, hätten wenige Wochen vor dem Suizid in dieser Weise beim Hausarzt geklagt, zitierte Wächtler aus Studien. Wer gar erzähle, dass er sich morgens überwinden müsse, "nicht zur Bahn zu gehen", der sollte sofort stationär aufgenommen werden. Niemals, in keiner Altersstufe, sei Depression als Lebensnormalität anzusehen: "Depression ist immer eine Behandlungsnotwendigkeit." Ärzten und Praxispersonal empfahl Wächtler den Einsatz des kurzen - eine Seite langen - Fragebogens "Geriatrische Depressionsskala (GDS)", zu finden im Internet unter der Adresse www.kcgeriatrie.de/instrumente/gds.pdf.

Grundsätzlich entscheidend für die Erkennung von Lebensmüdigkeit sei die Offenheit, das "Bereit-Sein" der Helfer für die Diagnose. Mit der offenen Frage nach Selbsttötungsgedanken biete der Arzt eine Beziehung an - genau das, was dem Patienten in seiner psychosozialen Krise bisher fehlte. Nüchterne Bilanzsuizide, die jeder Beeinflussung widerständen, seien selten - "die meisten wollen sich nicht umbringen, sondern nur nicht mehr mit dem Leidensdruck weiterleben." Wer - egal in welcher Profession - diesen Patienten ein Ohr leihe, baue bereits eine Beziehung auf.

In der Therapie suizidgefährdeter älterer Menschen komme dem Krisengespräch die wichtigste Bedeutung zu. Interesse, Geduld und Empathie zeigen - "und die Suizidgefährdung nie aussparen". Wächtler wiederholte diesen Rat mehrfach. Beim Gespräch sei immer zu beachten, dass ältere Männer dazu neigen, ihren Zustand zu kaschieren. Besondere Schwierigkeiten lägen in der Konstellation älterer Patient und (wesentlich) jüngerer Therapeut: Die hier häufig zu beobachtende abwertende Haltung des Patienten müsse als Übertragungsphänomen erkannt werden und dürfe den Arzt oder Psychotherapeuten nicht verunsichern. Für die Chancen einer Psychotherapie auch bei älteren Patienten spreche, dass sie in der Regel unter psychosozialem Stress stünden und gleichzeitig offen für einen Lebensrückblick seien: "Psychotherapie ist auf jeden Fall nötig und möglich." Die häufig angeführten Gründe gegen Psychotherapie bei alten Menschen - zu unflexibel - hielt Wächtler für nicht stichhaltig, jedenfalls nicht bei Menschen unter 75 Jahren. Wichtigster Behandler sei der "geschulte und aktive" Hausarzt, Psychiater und Psychotherapeuten seien bei Bedarf mit hinzuzuziehen. Bei der Gabe von Psychopharmaka sei zwar vertiefte Sachkunde notwendig; die grundsätzliche Befürchtung, dass Antidepressiva die Suizidneigung verstärken könnten, sei jedoch widerlegt. Wächtler riet generell zur Verordnung von längerfristig wirkenden Antidepressiva in kleinen Packungsgrößen.

Wichtigste Säule der Prävention sei die geschulte Gesprächsbereitschaft von Ärzten und Pflegekräften, verbunden mit Medikamentenkenntnissen und Offenheit für Psychotherapie. Auf Angst- und Schlafstörungen sei zu achten, und Männer seien generell eingehender zu beobachten als Frauen. Wächtler berichtete über gute Erfahrungen mit Projekten, bei denen Praxismitarbeiter zwei Mal wöchentlich kritische Patienten zu Hause angerufen hätten; bereits regelmäßige kurze Gespräche hätten die Suizidneigung gesenkt. Leichter zu fordern als praktisch umzusetzen sind geläufige politische Statements, ältere Menschen stärker in die Gesellschaft einzubinden, ihnen die Gewissheit zu geben, gebraucht zu werden. Nachholbedarf gebe es auch noch in vielen Heimen. Dass es dort eben nicht "sinnesarm, steril und langweilig" zugehe, wie eine Pflegezeitschrift einmal massiv kritisierte, sei leider noch immer nicht selbstverständlich.

Zur vertieften Beschäftigung empfahl Wächtler u.a. die Veröffentlichungen des Nationalen Suizid-Präventionsprogramms, kostenlos zum Download unter der Adresse www.suizidpraevention-deutschland.de/downloads.html

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201201/h12014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Januar 2012
65. Jahrgang, Seite 26 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2012

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