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GEWALT/283: Pädophilie - erste fachübergreifende Tagung zur Prävention und Therapie (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12, Dezember 2021

Starke Kräfte für die Schwächsten

von Martin Geist


PÄDOPHILIE. Erste fachübergreifende Tagung in Kiel zur Prävention und Therapie von pädophil motiviertem Missbrauch. Projekt "Kein Täter werden" ist vielversprechend. Zum Schutz vor sexuellem Missbrauch ist aber eine Vielzahl an Maßnahmen erforderlich.


Kinder stärken - und potenzielle Täter nicht verteufeln, sondern sie dabei unterstützen, ein Leben ohne sexuelle Übergriffe gegen die Schwächsten in der Gesellschaft zu führen: Diese Anliegen standen im Mittelpunkt einer Tagung, zu der sich Anfang November im Kieler Veranstaltungszentrum "Pumpe" Angehörige von Hilfsorganisationen und Behörden, aber auch Fachleute aus der Sexualmedizin und Psychologie trafen.

Deutlich wurde, dass viele Professionen zusammenwirken müssen, um Kinder vor solcher Gewalt zu bewahren. Ein vielversprechender Ansatz kommt aus der Medizin: Seit 2009 läuft unter dem Dach des Zentrums für Integrative Psychiatrie (ZIP) in Kiel das Projekt "Kein Täter werden". Es soll "dazu beitragen, dass es erst gar nicht zu sexuellen Übergriffen kommt", betonte Schleswig-Holsteins Justizminister Claus Christian Claussen (CDU) während der Veranstaltung und verwies in diesem Zusammenhang auf "höchstes forensisches Fachwissen", das für diesen Schutz genutzt wird.

Zielgruppe von "Kein Täter werden" sind diejenigen, die noch nie einschlägig straffällig geworden sind, gegen die keine Ermittlungen laufen, die aber wissen oder befürchten, dass sie einen Hang zu Sex mit viel zu jungen Menschen haben. Kostenlos, anonym und unter Zusicherung umfassender Schweigepflicht können sich die Männer diagnostizieren, beraten und bei Notwendigkeit in eine Therapie vermitteln lassen, erläuterte Prof. Christian Huchzermeier, Direktor der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Kieler Zentrums.

Der Experte stellte klar, dass Pädophilie als sexuelle Präferenz nicht strafbar ist, solange sie nicht in Form von Missbrauch ausgelebt wird. Medizinische Unterstützung sei möglich, um genau das zu verhindern, aber auch dann, wenn pädophil veranlagte Männer unter ihrer Neigung leiden und es in der Folge womöglich zu Angststörungen, Suchterkrankungen, sozialer Selbstisolation oder suizidalen Gedanken kommt.

Obwohl dabei aus Sicht von Huchzermeier und seines kleinen Teams mit Diplom-Psychologin Hannah Gerwinn und ihrem Kollegen Leif Trampenau noch manches ausbaufähig ist, spielen ärztliche und psychologische Praxen oft eine wichtige Türöffner-Rolle. Betroffene erhalten hier persönlich oder über ausgelegtes Informationsmaterial den Impuls, sich an die Initiative "Kein Täter werden" zu wenden. Obwohl der erste Besuch laut Trampenau meist "ziemlich große Überwindung" fordert, entfaltet sich danach immer wieder eine große Dynamik.

"Wir versuchen erst einmal zu erfahren, welche Motive mit einer pädophilen Neigung verbunden sind", erklärte Gerwinn. Handelt es sich um sexuelle Lust oder vielleicht mehr um Frustabbau oder um ein - freilich sehr verstörendes - Bedürfnis nach Zerstreuung? Oder ist die Pädophilie mit einem Mangel an anderen Kompetenzen verbunden? Immer wieder ist jedenfalls laut Trampenau zu beobachten, dass Menschen, die ein schwieriges Verhältnis zum eigenen Körper haben oder schlecht Kontakte knüpfen und pflegen können, pädophile Tendenzen aufweisen.

So oder so lautet nach Gerwinns Worten die Quintessenz: "Letztlich müssen die Betroffenen lernen, damit zu leben." Das kann von Fall zu Fall auf unterschiedliche Weise gelingen. Etwa durch ein gutes Risikomanagement, das dazu führt, dass gefährliche Szenarien wie der Besuch von Schwimmbädern oder Spielplätzen von vornherein vermieden werden. Hilfreich kann auch die Arbeit an den jeweiligen Defiziten sein. Gelingt es, soziale Kompetenzen zu stärken und damit verbunden Freundschaften oder sogar eine Partnerschaft aufzubauen, dann können sich äußerst positive Effekte einstellen.

Nützlich sind nach Angaben von Huchzermeier außerdem Medikamente. Antidepressiva entfalten je nach Präparat eine recht starke triebhemmende Wirkung. Auf Antiandrogene wie Cyproteron oder Triptorelin trifft das noch mehr zu.

Wie erfolgreich die verschiedenen Therapieansätze sind und wie gut "Kein Täter werden" insgesamt wirkt, lässt sich schwer in Zahlen fassen. Fakt ist, dass seit 2009 216 klinische Erstexplorationen vorgenommen wurden und 147 Männer ein Therapieangebot erhielten. Aktuell werden 21 Männer therapeutisch behandelt. Zwar deuten zahlreiche Rückmeldungen dieser Betroffenen darauf hin, dass das Projekt effektiv und dauerhaft helfen kann, kein Täter zu werden, eine Garantie für die Ewigkeit kann das aber nicht bedeuten. Vielmehr betont Huchzermeier: "Es braucht eine große Zahl von Maßnahmen, um Kinder wirksam vor sexuellem Missbrauch zu schützen, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe."

Nach Angaben von Justizminister Claussen dürfte die Zahl erwachsener pädophil veranlagter Männer in Schleswig-Holstein bei ungefähr 7.000 liegen. Hinzu kommen - allerdings deutlich weniger - Jugendliche und Frauen, die auf Kinder fixiert sind. Insgesamt wurden im Jahr 2020 im Land 521 Fälle von sexuellem Missbrauch registriert, was 16 Prozent mehr als im Jahr 2019 bedeutet. Auch der Besitz (plus 13 Prozent) und die Verbreitung von kinderpornografischem Material (plus 35 Prozent) haben stark zugenommen und schlagen zusammen mit weiteren gut 500 Fällen zu Buche. Umso wichtiger sind für den Minister Angebote wie das Projekt "Kein Täter werden", das finanziell vor allem vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und auch vom Land Schleswig-Holstein unterstützt wird.

Allein damit kann es nach allseitiger Überzeugung der Akteure auf der Veranstaltung aber nicht getan sein. Um das zu verdeutlichen, waren bei der Kieler Tagung erstmals das Institut für Gewaltprävention "PETZE" sowie das Jugendamt der Stadt Kiel beteiligt. Kinder und Jugendliche ihrem Alter entsprechend zu informieren, sie zur Zurückweisung von Übergriffen zu ermutigen, daran arbeiten beide Institutionen mit verschiedenen Projekten.

"PETZE"-Geschäftsführerin Heike Holz bezeichnete es zudem als wichtige Aufgabe, das Personal von Schulen, Kindereinrichtungen und anderer Treffpunkte für junge Leute entsprechend aus- und fortzubilden.

Unter anderem mit professionellen Clips unter dem Motto "Sag Bescheid" will derweil das Kieler Jugendamt Kinder und Jugendliche dazu ermuntern, sich an Vertrauenspersonen zu wenden, wann immer sich etwas im Zusammensein mit Erwachsenen oder auch anderen Personen nicht gut anfühlt oder objektiv schlecht ist. Werben müsse die Stadt dabei auch selbst um Vertrauen, räumte Amtsleiterin Marion Muerköster ein. Es gelte, sich vom Ruf der "Kinderklaubehörde" zu lösen und stattdessen das Jugendamt als starke Kraft für die Schwächsten in der Gesellschaft zu positionieren.

Auf professioneller Ebene hat sich unterdessen etwas Entscheidendes verbessert. Bislang lief es so, dass sich beispielsweise Kinder- oder Hausärzte an das Jugendamt wandten, wenn sie Verdacht auf Missbrauch oder Misshandlung hegten. Aus rechtlichen Gründen durften sie aber nie eine Rückmeldung bekommen. Nach einer Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes dürfen nun die sogenannten Berufsgeheimnisträger in beide Richtungen kommunizieren, sodass den Beteiligten viel Frust und Unsicherheit erspart bleibt.

Ein extrem schwieriges Problem wird Pädophilie aber wohl trotz aller Bemühungen bleiben. So hat die Chefin des Kieler Jugendamtes mit einigem Erschrecken zur Kenntnis genommen, dass in der neuen Kriminalstatistik für 2020 gleich 17 Fälle von Kindesmissbrauch durch Jugendliche auftreten, nachdem solche Fälle zuvor so gut wie gar nicht vorgekommen waren.

In aufrüttelnder Form abgeschlossen wurde die Kieler Fachtagung mit dem Film "Kopfplatzen" des persönlich anwesenden Regisseurs Savas Ceviz. Eindringlich stellt er darin die Leiden eines pädophilen Mannes und den Kampf mit seinen Dämonen dar - aber auch die stete Bedrohung, die von ihm ausgeht.

"Ich habe wahnsinnig viel Resonanz von beiden Seiten erfahren", berichtete Ceviz von Missbrauchten, die erstmals nachvollziehen konnten, was ihre Peiniger trieb. Zugleich wandten sich auch Täter an den Regisseur und bestätigten, dass nicht zuletzt sie selbst Opfer ihrer gefährlichen Triebe und bisweilen kaum in der Lage seien, ein auch nur annähernd normales Leben zu führen.

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Info

Kontakte:
www.kein-taeter-werden.de
Jugendamt Kiel, Telefon 901-8899 oder
Polizeiruf 110
www.petze-kiel.de
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 12, Dezember 2021
74. Jahrgang, Seite 20-21
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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